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haben sich nicht mal die Mühe gemacht, Tochter in Nichte zu ändern«, hatte Schönherr sich hinterher bei seiner Schwester beschwert, und mit der Kraft aus einer Flasche Barolo war es ihm endlich gelungen, aus allen Wolken zu fallen und mit der festen Stimme des ehemaligen Richters zu erklären, dass er diese Frechheit von dieser dämlichen Schule keinesfalls akzeptieren werde. Auch wenn er in Lenas Wohnzimmer diesbezüglich auf keinerlei Widerspruch gestoßen war, haute er trotzdem mit der Faust auf den Tisch, um seiner Entscheidung auch gestisch die nötige Entschlossenheit zu geben, und sagte: »Lisa geht auf diese Schule. Ende der Diskussion.«

      Das Problem war nur, dass ihm am nächsten Morgen, als er wegen der lächerlichen Absage in der Schlossberg anrief, nichts weiter einfiel, als solange um ein Gespräch mit dem Schulleiter zu betteln, bis ihn die reizende Stimme am anderen Ende der Leitung bat, einen Moment zu warten. Kurz darauf meldete sich Präsident Hoffmann höchstpersönlich: Die Bitte sei eher ungewöhnlich, sagte er, aber er wolle in seinem speziellen Fall eine Ausnahme machen, weil es eine Ehre für ihn und das ganze Team der Schlossberg Academy sei, wenn ein so berühmter Richter um eine Stelle für seine Tochter nachsuche. Gerade seien Ferien und er habe deshalb ein paar Minuten übrig. Obwohl Schönherr wusste, dass Hoffmann ihm kaum mehr als vielfältige Floskeln des Bedauerns anbieten würde, bedankte er sich mehrmals vielmals, bevor er auflegte.

      *****

      Das Zentrum des Haupthauses war ein beeindruckender Raum aus hängendem Beton und Glas, der die Stockwerke wie eine Arena durchbrach. Eine tolle Aula, die es dem Präsidenten erlaubte, mit großer Geste von einer der Galerien zu seinen Schäfchen zu sprechen, und die außerdem hoch genug war, dass alle Abiturienten am Ende des Schuljahres ihre schwarzen Kappen fröhlich in die Luft werfen konnten, wenn es draußen regnete. In der Mitte hing ein Videowürfel, im Schweben gehalten von vier mächtigen Ketten, darunter bunte leergefegte Sitzgruppen und rundherum ansteigende Stuhlreihen, die wie zu groß geratene Fußleisten an den Wänden lehnten. Außer einer fahrenden Untertasse, die mit der Systematik einer Flipperkugel den Boden wischte, war nichts in Bewegung.

      Das galt auch für den sichtbaren Teil eines Jungen, höchstens vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, der uniformiert und in Servicestellung erstarrt hinter einer halbhohen Wand aus Glasbausteinen mit der Langeweile zu ringen schien. Die funktionalen Facetten des Gebäudes hatte man virtuos in das Design einfließen lassen, wodurch Schönherr wie ein blinder Trottel herumlief, als er sich nach Hinweisen auf das Büro des Schulleiters umsah. Derweil sprang Lisa vor den Wischroboter, und wenn der nach kurzer Denkpause umkehrte, überholte sie das Gerät und versperrte erneut den Weg. So ging es hin und her, bis der Junge nach einer Weile höflich fragte, was er für sie tun könne.

      »Guten Morgen, lieber Herr -«, dann schon hing er das erste Mal, schob seine Brille vor und zurück, eine Geste, die unbemerkt dem Wischen und Zoomen auf harten Oberflächen beigetreten war, obwohl ja jeder wusste, dass sie genauso nutzlos ist wie das Reiben einer Münze am Automaten. »Guten Morgen, sehr geehrter Herr ... und Lisa. Mein Name ist Edward, es wäre mir eine g-g-große Freude, Ihnen im Namen der Schlossberg Academy behilflich zu seien dürfen.«

      Sofort färbten sich die Pausbäckchen des Jungen ganz rot, wahrscheinlich weil es gelogen war und er befürchtete, man könne ihm ansehen, dass ihn das stundenlange Rumgestehe in den Ferien keineswegs freute.

      Schönherr fragte nach dem Büro des Schulleiters.

      »In welch für einem Anliegen darf ich Sie ... im Namen des Pö-Pö-Präsidenten Hoffmann ... der Schlossberg Academy ... begrüßen zu dürfen?« stotterte Edward.

      Sein Ton war freundlich, doch benutzte er müde Erwachsenenworte und setzte sie außerdem in eine so unbeholfene Reihenfolge, dass seine Freundlichkeit nur das Resultat eines harten, aber längst nicht abgeschlossenen Trainings sein konnte. Als würde man einem schwer dressierbaren Tier ein Kunststück beibringen, dachte Schönherr. Edwards Pupillen turnten hinter den bläulich schimmernden Brillengläsern merkwürdig hin und her, und doch schienen sie seine Augen nie zu treffen. Auch mit dem Mund des Jungen stimmte etwas nicht. Er verzog ihn mechanisch, so wie eine Eiskunstläuferin, der man gesagt hat, sie solle freundlich gucken, am besten lachen, bevor sie zum dreifachen Axel abhebt, obwohl sie ja auf etwas ganz anderes achten muss, ihre Gesundheit nämlich.

      Es waren diese Blessuren in Edwards Verhalten, die Schönherr fast dazu gebracht hätten, den Jungen in den Arm zu nehmen und zu fragen, ob alles in Ordnung wäre. Aber natürlich wusste er, was hier vor sich ging, man sah es ja inzwischen überall: in den Restaurants und Hotels, Flughäfen und Arztpraxen. Also schaute Schönherr recht freundlich in die winzige Kamera am Bügel der High-Tech-Brille des Jungen - vielleicht erkannte der Server am Polarkreis ihn so schneller -, wartete geduldig, bis Edward die Informationen vom Head-Up-Display abgelesen hatte und tat überrascht, als die ersten Züge von Erleichterung in die junge Dienstleistungsmaske fuhren.

      »Herr Doktor Schööönherr«, rief Edward endlich. »Die Schlossberg Academy freut sich herzlich, Sie, Herr Doktor Schönherr, und Ihre Toch ... ähm, Nichte Lisa im Namen der Schlossberg Academy herzlich zu begrüßen dürfen ... zu begrüßen, ähm, zu bedürfen.«

      Es war natürlich einiges an Übung nötig, interessiert zu wirken, während man die Daten von der Brille ablas oder der Computerstimme im Ohr lauschte.

      »Na, dann grüß mir mal die Schlossberg Academy herzlich zurück«, sagte Schönherr.

      Wieder ein Ruckeln im Verhalten des Jungen, dann fragte er seine Gäste, ob sie gut hergefunden hätten.

      »Wir wohnen ganz in der Nähe. Dritte Zeile links, gleich unter meinem Alter.«

      »Jaja«, rief Edward begeistert und tippte mit dem Finger an die Brille, wodurch es aussah, als zeigte er sich selbst einen Vogel. Dann fragte er: »Haben Sie eine angenehme Anreise gehabt?«

      Schönherr stöhnte.

      Dass es in Mode gekommen war, das Prekariat auf den kaum bezahlten Schleudersitzen nur noch entlang vorformulierter, nach Gesichtspunkten moderner Kommunikationsforschung optimierter Baumstrukturen reden zu lassen, hatte Schönherr zum ersten Mal in einem texanischen Supermarkt erlebt. Dort war er mit seinem Namen und »hoher Richter« angesprochen worden, obwohl die Frau hinter der Kasse ihn nie zuvor gesehen haben konnte. Das fand er damals so verblüffend, dass er fast nicht mitbekommen hatte, wie sie durch die verfaulten Zähne genuschelt seine glänzende Produktauswahl lobte, ihm einen ausgezeichneten Geschmack in Lebensmittelsachen attestierte und anschließend die Frage leierte, wie sie seinen Tag noch schöner machen könne?

      »Hä?«

      Ob er das Shopping-Erlebnis bei Jacke-wie-Hose-Mart geliebt habe?

      Schönherr hatte daraufhin eine hochanständige Antwort gegeben, aus Versehen natürlich, wie es einem manchmal passiert, wenn man nicht ganz bei der Sache ist, er hatte so etwas gesagt wie: dass es an sich schon ein toller Supermarkt und überhaupt alles total super sei, aber dass er beim Besorgen von Bier und Chips oft nicht zuallererst an Liebe denke.

      Das war natürlich ein großer Fehler gewesen.

      Alarmiert durch das achtlos hingeworfene Wörtchen aber traten der armen Kassiererin plötzlich Tränen in die Augen, sie bat tausendmal um Entschuldigung, während sie ängstlich nach ihrem Vorgesetzten Ausschau hielt. Derweil kam von der Nachbarkasse einer von den Neuen herbeigehumpelt, ein gutgelaunter Praktikant, so um die achtzig.

      »I’m sorry for the inconvenience that you have faced«, sagte der, und obwohl er dabei streng den Firmensprech zitierte, der sich mit der Erstberuhigung wutschäumender Kunden befasste, winkte Schönherr ab. Er hatte nur noch schnell raus aus dem Laden gewollt, da er nun tatsächlich die ersten Anzeichen von Kummer spürte. Er schämte sich auch, dass er inmitten all der fröhlichen Fremden als einziger so schwer zu begeistern gewesen war.

      Leider hatte jemand in der Konzernzentrale die Idee gehabt, dass es in Fällen wie diesem das Beste wäre, wenn man sich über die Intelligenz des Miesepeters lustig machte. Denn die beiden Freelancer, die sich so rührend um ihren schwierigen Kunden kümmerten, setzten sich plötzlich lustige Jacke-wie-Hose-Hüte auf, die sie unauffällig aus einem Fach unter der Kasse hervorgeholt hatten. Es begann zu

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