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in seine Leidenszeit hinein. Wie tief er davon entzückt war, wie er sich dieser Umgebung innigst verwandt fühlte, sagen zwei Aphorismen N. 295 u. 338 aus der zweiten Schrift dieses Bandes, dem »Wanderer und sein Schatten«, die er damals verfaßte und welche die ganze Höhenluft seiner Stimmungen aufgenommen hat. Er schrieb damals: »Vorgestern gegen Abend war ich ganz in Claude Lorrainsche Entzückungen untergetaucht und brach endlich in langes heftiges Weinen aus. Daß ich dies noch erleben durfte! Ich hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die guten Maler hätten es erfunden. Das Heroisch-Idyllische ist jetzt die Entdeckung meiner Seele: und alles Bukolische der Alten ist mit einem Schlage jetzt vor mir entschleiert und offenbar geworden – bis jetzt begriff ich Nichts davon.« Mein Bruder pflegte später zu sagen: »Das Engadin hat mich dem Leben wiedergegeben«. Jedenfalls fand ich ihn im September, als ich in Chur mit ihm zusammentraf, zu meiner freudigsten Verwunderung außerordentlich erholt. Er war frisch und elastisch, hatte seine gesunde Gesichtsfarbe und stramme stattliche Haltung wiedergewonnen, sodaß ich meinem Erstaunen und Glück gar nicht genug Worte verleihen konnte. Wir wurden von der Zuversicht erfüllt, daß er wieder ganz gesund werden könnte; es waren schöne Tage, die wir in diesem Glauben verlebten!

      Zunächst kam freilich im Winter 1879/80, den er von Ende Oktober bis Anfang Februar in Naumburg verlebte, der schlimmste Rückfall seines Leidens, und als »der Wanderer und sein Schatten« am Schluß des Jahres 1879 veröffentlicht wurde, glaubte mein Bruder in der That, daß er nun bald vom Leben scheiden müßte; er nahm fast von allen Freunden in seinen Briefen Abschied. Im Februar 1880 aber raffte er sich mit ungeheurer Energie empor, verließ den düsteren niederdrückenden Norden und eilte dem Süden, der Genesung und den höchsten Werken seiner Schaffenskraft entgegen. Er begann einen hartnäckigen Kampf mit der Krankheit, die ihn zu vernichten drohte – und mit herrlichem Erfolg! Dadurch, daß er seine Kräfte nicht mehr zu zersplittern brauchte und seine Augen nicht mehr bei den Vorbereitungen zu den Kollegien abzumühen hatte, war es ihm möglich seine alte Gesundheit wiederzugewinnen und trotzdem die ungeheuern Vorarbeiten zu seinen Hauptwerken zu bewältigen. Oh wie dankbar müssen wir sein für die folgenden neun Jahre intensiven Schaffens, denn während dieser Zeit war es ihm möglich sein höchstes Ideal aufzustellen und uns zu zeigen, was er wirklich war, nämlich einer der ganz großen Philosophen und Gesetzgeber, die in ihrer Wirkung unermeßlich sind, da sie der Menschheit ein neues Ziel geben. –

      Im Jahr 1886 fügte mein Bruder der neuen Ausgabe von den »Vermischten Meinungen und Sprüchen« und dem »Wanderer und sein Schatten«, die vorzügliche Vorrede hinzu, die uns von seiner inneren Entwicklung in jenen Jahren und darüber hinaus ein so deutliches Bild gibt. Auch hier steht gewissermaßen im Mittelpunkt sein Erlebnis mit Richard Wagner, und man könnte mit Leo Berg die Behauptung aufstellen, daß mein Bruder niemals über dieses Erlebnis hinweggekommen ist. Vielleicht könnte ich gerade hier in diesem Bande, wo auch die hinzugefügten Aufzeichnungen des Nachlasses allein dieses Verhältnis behandeln, eine Andeutung geben, warum es in dem Leben meines Bruders von solcher Bedeutung gewesen ist. Von frühester Jugend an war in meinem Bruder jene höchste Sehnsucht vorhanden nach einem vollkommenen Wesen, das er verehren konnte, und wenn er in »Also sprach Zarathustra« über die höchsten Exemplare der Menschheit klagt: »Wahrlich, auch den Größten fand ich – allzumenschlich«, so drückt er darin die tiefe Enttäuschung aus, die er den Verehrtesten gegenüber empfunden haben mag, besonders aber in Hinsicht auf Richard Wagner. Das soll aber kein Vorwurf gegen Richard Wagner sein, denn der Fehler lag auf der Seite meines Bruders, der ihn in einem zu verklärten Lichte sah. Man höre z. B. die ergreifenden Worte, die er im August 1869 an Freiherrn von Gersdorff über Wagner schreibt. »In ihm herrscht eine so unbedingte Idealität, eine solche tiefe und rührende Menschlichkeit, ein solcher erhabner Lebensernst, daß ich mich in seiner Nähe wie in der Nähe des Göttlichen fühle.« Einem solchen Bilde konnte die Wirklichkeit auf die Dauer nicht entsprechen.

      Aber gerade diese Enttäuschungen haben ihn veranlaßt, auf das Tiefste über das Problem der höheren Typen der Menschheit nachzudenken. Daran hat er sein ganzes Leben gearbeitet und selbst in den Jahren der Entstehung von »Menschliches, Allzumenschliches«, die man wohl eine Zeit der Skepsis nennen könnte, hat er, wie auf Seite 57 des vorliegenden Bandes steht, versucht an seinem Ideal, dem »schönen Menschenbilde« fortzudichten, um jene Fälle zu suchen und zu finden, »wo mitten in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne große Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmäßige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also, durch Erregung von Nachahmung und Neid, die Zukunft schaffen hilft«.

      Weimar, April 1906

      Elisabeth Förster-Nietzsche

      Vorrede

       1

      Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf; und nur von dem reden, was man überwunden hat, – alles andere ist Geschwätz, »Literatur«, Mangel an Zucht. Meine Schriften reden nur von meinen Überwindungen: »ich« bin darin, mit allem, was mir feind ward, ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissimum. Man errät: ich habe schon viel – unter mir... Aber es bedurfte immer erst der Zeit, der Genesung, der Ferne, der Distanz, bis die Lust bei mir sich regte, etwas Erlebtes und Überlebtes, irgendein eigenes Faktum oder Fatum nachträglich für die Erkenntnis abzuhäuten, auszubeuten, bloßzulegen, »darzustellen« (oder wie man's heißen will). Insofern sind alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings wesentlichen Ausnahme, zurück zu datieren – sie reden immer von einem »Hinter-mir« –: einige sogar, wie die drei ersten Unzeitgemäßen Betrachtungen, noch zurück hinter die Entstehungs- und Erlebniszeit eines vorher herausgegebenen Buches (der »Geburt der Tragödie« im gegebenen Falle: wie es einem feineren Beobachter und Vergleicher nicht verborgen bleiben darf). Jener zornige Ausbruch gegen die Deutschtümelei, Behäbigkeit und Sprach-Verlumpung des alt gewordenen David Strauß, der Inhalt der ersten Unzeitgemäßen, machte Stimmungen Luft, mit denen ich lange vorher, als Student, inmitten deutscher Bildung und Bildungsphilisterei gesessen hatte (ich mache Anspruch auf die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und mißbrauchten Wortes »Bildungsphilister« –); und was ich gegen die »historische Krankheit« gesagt habe, das sagte ich als einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht willens war, fürderhin auf »Historie« zu verzichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte. Als ich sodann, in der dritten Unzeitgemäßen Betrachtung, meine Ehrfurcht vor meinem ersten und einzigen Erzieher, vor dem großen Arthur Schopenhauer zum Ausdruck brachte – ich würde sie jetzt noch viel stärker, auch persönlicher ausdrücken –, war ich für meine eigne Person schon mitten in der moralistischen Skepsis und Auflösung drin, das heißt ebenso sehr in der Kritik als der Vertiefung alles bisherigen Pessimismus –, und glaubte bereits »an gar nichts mehr«, wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht: eben in jener Zeit entstand ein geheimgehaltenes Schriftstück »über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«. Selbst meine Sieges- und Festrede zu Ehren Richard Wagners, bei Gelegenheit seiner Bayreuther Siegesfeier 1876 – Bayreuth bedeutet den größten Sieg, den je ein Künstler errungen hat –, ein Werk, welches den stärksten Anschein der »Aktualität« an sich trägt, war im Hintergrunde eine Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stück Vergangenheit von mir, gegen die schönste, auch gefährlichste Meeresstille meiner Fahrt... und tatsächlich eine Loslösung, ein Abschiednehmen. (Täuschte Richard Wagner sich vielleicht selbst darüber? Ich glaube es nicht. Solange man noch liebt, malt man gewiß keine solchen Bilder; man »betrachtet« noch nicht, man stellt sich nicht dergestalt in die Ferne, wie es der Betrachtende tun muß. »Zum Betrachten gehört schon eine geheimnisvolle Gegnerschaft, die des Entgegenschauens« – heißt es auf Seite 46 der genannten Schrift selbst, mit einer verräterischen und schwermütigen Wendung, welche vielleicht nur für wenige Ohren war.) Die Gelassenheit, um über lange Zwischenjahre innerlichsten Alleinseins und Entbehrens reden zu können, kam mir erst mit dem Buche »Menschliches, Allzumenschliches«, dem auch dies zweite Für- und Vorwort gewidmet sein soll. Auf ihm, als einem Buche »für freie Geister«, liegt etwas von der beinahe heiteren und neugierigen Kälte des Psychologen, welche eine Menge schmerzlicher Dinge, die

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