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       Christopher Lyding 1978

       Ein Großvater, der auf der Walz

       in Hamburg hängen blieb

      Mein Großvater väterlicherseits, geboren am 15. 5. 1862, war Schneidermeister in Hamburg-Harvestehude. Seine Werkstatt und seine Wohnung lagen in der Hochallee Nr. 27, und zwar im Souterrain. Das war ein Problem für seine fünf Kinder und insbesondere für meinen Vater, denn sie fühlten sich als „Kellerkinder“ ausgegrenzt von den wohlhabenden Mietern ihrer Nachbarschaft. Es kam noch erschwerend hinzu, dass mein Großvater als Uniform-schneider hauptsächlich Berufsoffiziere des kaiserlichen Heeres als Kunden hatte, die ihn oft buchstäblich von oben herab behandelten, wenn sie auf seinem Schnei-dertisch arrogant herumspazierten und meistens am Fall der Hosen etwas auszusetzen hatten. Das verärgerte meinen zum Jähzorn neigenden Großvater oft, der dann seinen Frust aus kleinstem Anlass an meinem Vater ausließ und ihn manches Mal, mit der großen Schneiderbürste nach ihm schlagend, um den Schneidertisch trieb.

      Mein Vater, geboren am 23. 11. 1902, hatte es auch sonst nicht leicht in dieser Familie. Während seine vier Schwestern die Schule regelmäßig besuchen konnten, eine von ihnen sogar die Oberschule, musste mein Vater als Hilfskraft in der Schneiderei aushelfen. Er war oft gezwungen, die Schule zu schwänzen, um für seinen Vater Pakete mit den fertigen Schneiderprodukten auszutragen. So war ihm eine höhere Schulbildung verwehrt, was er Zeit seines Lebens nicht verwunden hat. Das war auch der Grund, warum er später sehr darauf achtete, dass mir eine gute Schulbildung ermöglicht wurde. Er sparte sich und seiner Familie das Schulgeld für mich und die Mittel für die Schulbücher sowie für die Klassenreisen buchstäblich vom Munde ab und achtete sehr darauf, dass ich durch Zeitungsaustragen und andere Arten mir Taschengeld zu verdienen, nicht zu sehr von der Arbeit für die Schule abgelenkt wurde. Mit der Begründung, ich müsse mich auf die Schularbeiten konzentrieren, untersagte er mir auch, Mitglied bei den Pfadfindern zu werden. Er glaubte auch, in dieser Organisation militärische Strukturen zu erkennen, die ihm nach den Erfahrungen des Krieges verhasst waren.

      Mein Vater war am Ende des ersten Weltkrieges 16 Jahre alt. Ob die wirtschaftlich schwächelnde Situation der Schneiderwerkstatt die Ursache war, dass er sich nicht für das Schneiderhandwerk und die Fortführung der Werkstatt entschied, oder ob es eher eine nach seinen Erfahrungen nachvollziehbare Aversion gegen die Schneiderzunft war, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls absolvierte er eine Lehre als Feinmechaniker, die ihm später die Möglichkeit bot, als Telegraphen-handwerker zur Post zu gehen und in einer späteren Phase Beamter im Technischen Dienst der Post zu werden.

      Sein Vater kam von einem Weinbauernhof aus Weinsheim an der Nahe, nicht weit von Bad Kreuznach. Dieser Hof lag am Rande des Ortes und es sollen manches Mal Rehe über den Hof gelaufen sein. Mein Vater erzählte gern, dass er, als er in Bonn als Telegraphen-handwerker bei der Post arbeitete, sich mit Freunden auf dem Hof in Weinsheim regelmäßig mit Wein versorgte. Während der Rückfahrt mit der Bahn ergaben sich oft problematische Situationen, weil seine Freunde in ihrer Weinlaune Vertretern der französischen Besatzungs-macht links des Rheines freundschaftlich auf die Stahlhelme schlugen.

      Als ich in den siebziger Jahren einmal diesen kleinen Ort Weinsheim mit meiner Frau besuchte, trafen wir einen sehr alten Mann an, der in der Sonne auf einem Stuhl vor seinem Hause saß. Als wir ihn fragten, ob er noch den Schneidergesellen Wilhelm Arnold kenne, sagte er: „Ach der Wilhelm, ja, der ist damals nach Hamburg ausgewandert.“ Mein Großvater war in der Tat als Schneidergeselle auf der Walz nach Hamburg gewandert und nicht zurückgekehrt. Diesen Wandertrieb scheint er an drei seiner Töchter weitergegeben zu haben, denn die sind in den zwanziger Jahren nach Amerika ausgewandert.

       Henriette und Wilhelm Arnold

      Nach dem Ende des ersten Weltkrieges war mein Großvater 56 Jahre alt. Da viele seiner Kunden im ersten Weltkrieg „im Felde geblieben waren“ und viele andere nach der Auflösung des kaiserlichen Heeres in der Nachkriegszeit arbeitslos verarmt waren, geriet auch seine Schneiderwerktatt in wirtschaftliche Schwierigkeiten. Im allgemeinen wirtschaftlichen Niedergang der Nachkriegszeit war es ihm nicht möglich, einen neuen Kundenstamm aufzubauen. Da die Werkstatt sich nicht mehr rentierte, gab er sie mit 60 Jahren auf. Ich kenne meinen Opa Arnold nur aus Erzählungen und von Bildern. Als mein Großvater mit 70 Jahren starb, war ich erst 5 ½ Monate alt.

      Die Familie Arnold: Henriette Arnold, Wilhelm, genannt Willy, Erna, Margarethe, genannt Gretel, Dora, Olga und Wilhelm Arnold. Der Sohn Valdemar verstarb kurz nach der Geburt.

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