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den neuen Transporttaschen fauchend, um ohne nachzudenken in Richtung Westen zu starten. Nur nicht nach Tokyo, nur nicht in die grosse Mausefalle, aus der sich im Falle eines Falles Millionen von Menschen gleichzeitig auf den Weg machen wuerden. Vorsprung brauchten wir, eine Stunde wuerde schon viel ausmachen, und dank der milden Tage jetzt sind die Autobahnen und Strassen ins Landesinnere schneefrei: da haetten wir freie Fahrt ins Glueck… Nach Osaka, 750 Kilometer von hier, ins „Guesthouse Ten“, wo wir im Maerz so freundlich aufgenommen wurden, wuerden wir versuchen zu gelangen; so ist auch unsere Verabredung mit Leon. Aus Tokyo so schnell wie moeglich weg – ins Guesthouse Ten. Das ist unser Fluchtpunkt… Osaka, „Guesthouse Ten“, nicht vergessen!

      5 Intermezzo mit Freunden

      Die Sonne geht unter, wir warten auf Chie-san, eine gute Freundin, die in Duesseldorf lebt und fuer ein paar Wochen gekommen ist, um ihre Mutter zu besuchen. Neujahrsfeiertage, Zeit fuer Besuche, Zeit fuer Gaeste und ihre Schicksale. Am zweiten Januar oder dem dritten, nicht vorher! Der Erste gehoert der Familie.

      Chie versorgt uns seit Monaten, seit Maerz eben, mit Informationen zur radioaktiven Belastung in Fukushima, zum Zustand der Reaktoren und anderen verwandten Themen. In Deutschland, wo wir keinen Internetzugang hatten, schickte sie uns alles ausgedruckt per Post, danach per E-mail. Sie hat furchtbare Angst und traut keiner offiziellen Verlautbarung auch nur das kleinste bisschen… Im Gegensatz dazu der Besucher von gestern: Herr Sasaki, ein alter Freund, von Haus aus Zimmermann, in seinem zweiten Leben Automechaniker hoechster Kompetenz (seine Liebe sind Ferrari und Porsche, er fuhr als junger Draufgaenger selbst Rennen) und jetzt, wo die Autofirmen ihm mit ihrer Informationspolitik – sie geben ihre Sourcecodes nur noch an ihre Vertragswerkstaetten weiter – den Hals langsam abdrehen in seinem dritten Leben: Computerfreak. Baut mir seit Jahren PCs, richtet sie auch ein und repariert sie, wenn ich mal wieder zu grossen Mist angerichtet habe.

      DER nun denkt ganz anders. Sieht keinen Grund zu grosser Sorge – um es gelinde auszudruecken. Sieht Gefahren eher in hysterischen und technisch unbedarften Leuten wie uns, in aller Freundschaft. Wenn die beiden sich hier traefen – das taet spritzen!

      Zu Neujahr selber halfen Mariko und Leon ihrem Bruder mit seinem „Cakeland“: business as usual, keine Frage. Es wurde sehr gut verkauft! Wer wuerde sich nicht gern zum neuen Jahr was Suesses goennen, besonders wenn es im Angebot ist!

      Ich blieb bis abends zu Haus und schrieb.

      Hatte auch kurz Besuch: direkt nach dem Mittags-Beben der Staerke M. 7.2 in 800 Kilometern Entfernung tief unter dem Pazifik. Stark genug um alles sanft schwanken zu lassen war’s; ich rannte raus und boese Erinnerungen wurden wach. Das Radio gab sofort Entwarnung, und mein Besucher, der alte, gute Doktor Hasegawa, Zahnarzt in Halbpension, hatte es nicht einmal bemerkt wie er so ganz in Gedanken ging. Ein paar Minuten drauf kamen seine Frau und die Tochter Megumi aufgeregt nach, sie hatten ihren Zug fahren lassen um erst mal Naeheres zu hoeren, wir wohnen ja in der Naehe des Bahnhofs. Ihr Haus dagegen, naeher am Wasser, war vom Tsunami zwar ueberschwemmt aber nicht zerstoert worden; freiwillige Helfer aus Nagoya halfen aufraeumen ,so dass jetzt alles wieder ist „wie frueher“. Nur, dass er zehn Jahre gealtert ist, ich sah ihn weggehen wie einen alten Mann. „Das ganze Jahr nicht ins Meer…“ klagte er. Er sei krank geworden, wie auch viele seiner Kollegen von den Tauchern. Seeigel, Meeresohren, Konbu und Wakame – nichts davon ist mehr essbar hier, ganz abgesehen davon, dass es ueberhaupt nicht empfehlenswert war ins Wasser zu gehen. Wir hatten im Fruehsommer stark belastetes Meerwasser: 3000 Bequerel pro Liter mass ich.

      Der ehrenwerte Doktor Hassegawa; ein lieber Mann; ein Mann ohne Furcht vor dem Wasser. Nach dem Beben bugsierte er auf Grund der Tsunami-Warnungen seine Frau ins Auto der Schwiegertochter – und stieg daraufhin selbst auf sein klappriges kleines Fahrrad und fuhr zum Strand, um sich die Sache aus der Naehe anzusehen! Als er das Wasser dann aber gewaltig zurueckgehen sah, das muss man sich mal vorstellen! wurde es ihm doch unheimlich und er radelte schnell fort und in Sicherheit. So einer ist das… ein Wahnsinnstyp!

      Unser Ueberraschungsgast; zu allen moeglichen Zeiten steht er ploetzlich im Garten hinterm Kuechenfenster: ich bin froh, dass es so einen gibt; nur Adrian ist ausser ihm so frei! Auch mir fehlt das Schwimmen des Sommers sehr: das war immer mein Aufbausport fuer die kalten Wintertage ohne Moeglichkeiten zur Bewegung gewesen: nicht dies Jahr. Wie so vieles – nicht dieses Jahr. Kinderstimmen?

      Wie lange hat man keine Kinderstimmen auf der Strasse gehoert! Grundschueler auf dem Schulweg – frech wie die Spatzen – wo waren sie nur? Die Muetter machten Ueberstunden mit Fahrdiensten. Niemand liess Kinder draussen sein. „Vom Haus ins Auto ins Haus“ – eine der Beschwoerungsformeln diesen Jahres.

      Die schnatternde Gaenschenherde der jungen Oberschuelerinnen mit ihren Kavalieren auf dem Weg zum Bahnhof; man sah das ganze Jahr nichts von ihnen. Und wenn – dann weiss maskiert und in Eile, unter Dach zu kommen.

      Die Kinder, die jungen, frischen Triebe am alten Baum unseres Lebens hier: fehlen so sehr.

      Gestern war aber Baby-Tag: gleich zwei liebe junge Familien kamen zu Besuch, Ryuichi und Noriko mit Baby Yuzuki aus Osaka ohne „strahlende“ Probleme, und dann Kazuki und Gai dazu mit der kleinen Joy. Sie wird demnaechst zwei, ist schneller als man gucken kann und sagt „Oh, dear!“ im drolligen, exakt gleichen Tonfall wie ihre Mutter. Von den Ereignissen ueberrollt und brutal auseinandergerissen diese drei.

      Kazuki ist angestellt in der ehemaligen Gemeindeverwaltung Naraha, innerhalb der 20-Kilometer-Zone, und die drei wohnten hier sehr bequem in unserer Nachbarschaft – bis zu DEM Tag. Gai ging dann mit der Tochter nach Australien… und kommt nicht zurueck. Kazuki dagegen arbeitet mehr denn je; er ist den Evakuierten zugeteilt, die jetzt in Aizu leben.

      In Behelfssiedlungen leben um die 100.000 Menschen, teils aus Tsunami-Gebieten, teils aus der Todeszone evakuiert, in bedraengten Verhaeltnissen und oft ohne Verwandte und Freunde in der Naehe zu haben.

      Manche, vor allem Alte, werden depressiv oder anders krank. Sterben. Ein schweres Leben haben sie – obwohl die wegen Strahlung Evakuierten finanziell ganz gut stehen: pro Person kriegen die im Moment eine monatliche Entschaedigung von fast tausend Euro, abgesehen von allem Anderen. Manche von denen machen sich dadurch ziemlich unbeliebt: profitierten in der Vergangenheit als Tepcos Leute von all den Vorteilen die ihnen auf Kosten Anderer entstanden: und profilieren sich jetzt auch noch als Opfer! Wenn man dagegen die wirklichen Verlierer sieht, die Bauern, die einfachen Leute, die lange Ansaessigen aus der Gegend – moechte man an die Decke gehen vor Wut. Um alle jedenfalls muss sich Kazuki kuemmern.

      Wie kann er Gai und Joy ein Heim schaffen? Wo? Die beiden wollen nicht hierhin zurueck. Viele junge Muetter mit Kindern gehen weg. Auch wir waeren vielleicht nicht mehr hier an ihrer Stelle! Schaeden im Erbgut, Krebs fuer Kleinkinder: beide Risiken sind fuer junge Eltern eigentlich nicht zu tragen; ich kann Gai gut verstehen.

      Andererseits gibt es natuerlich auch junge Familien die bleiben: Meine Freunde Rick und Sanae zum Beispiel mit ihrer kleinen Tochter Qiana Aria. Was soll man machen, wenn man ein neues Haus hat und die Schulden abbezahlen muss? Was nur geht, wenn das Einkommen aus der kleinen Sprachschule regelmaessig fliesst? Man beisst die Zaehne zusammen und hofft das Beste; sie machen das genau wie wir – mit hoeherem Einsatz.

      Gai, der ich mich vorgestellt hatte: „Hi! I’m Juergen, and I’m an idiot!“ wie ich mit Adrian hier rumalberte, und die leicht wie eine Feder durch den Raum schwebte bevor sie schwanger und Mutter wurde! Ich glaube fast, dass Adrian nicht so buddhistisch „streng“ geworden waere, wenn er sie ein paar Jahre frueher kennengelernt haette; eine Frau mit einem so lieben Herzen wie sie! „I’m Gai, woman of mystery…“ hatte sie erwidert.

      Und Kazuki, der gluecklich war so eine gute Frau zum Traualtar fuehren zu koennen, Adrian traute die beiden uebrigens, das geht hier alles, liebt den deutschen Fussball und quatschte gern bei einem Bierchen mit Leon und Markus ueber Schalke und Dortmund: tempi passati.

      Wir versorgten den beiden einmal das Federvieh in ihrem Haus am Strand – wenn sie da noch gewohnt haetten waeren sie weggeschwommen. So aber, in der neuen Huette etwas weiter weg, blieben ihre Fuesse trocken. Ob sie zu Haus waren am elften

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