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Die Philosophie des Denkens. Johannes Schell
Читать онлайн.Название Die Philosophie des Denkens
Год выпуска 0
isbn 9783847668664
Автор произведения Johannes Schell
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Diese letzte und entscheidende Beobachtung erlaubt uns, den Fortgang unserer Überlegungen unmittelbar aus der Sache zu bestimmen. Was wir immer wieder erfahren, ist die Tatsache, dass Begriff und Wahrnehmung in dauernder Wechselwirkung begriffen sind. Keines von beiden kann ohne das andere existieren. Wir wollen uns aber davor hüten, diesen unvermeidlichen Prozess schon hier mit theoretischen Analysen zu befrachten, die uns sofort in ein erkenntnistheoretische Labyrinth führen müssten, aus dem uns kein logischer Ariadnefaden heraushelfen könnte. Was uns diese genannte Wechselwirkung vor Augen führt, lässt sich in einfacher Weise sagen, und ebenso einfach ist die Konsequenz, die wir daraus zu ziehen haben. Mit dem Element des Begriffs verbindet sich, wie bereits erwähnt, das sog. „Wahrheitserlebnis“, also das Deuten und Erklären, d.h. die verifizierende Tätigkeit, die wir das Denken nennen - im diametralen Gegensatz zur Wahrnehmung, die ohne das begriffliche Element gar nicht für das menschliche Bewusstsein vorhanden wäre. So ergibt sich ganz von selbst, was Rudolf Steiner folgendermaßen formuliert hat:
„Was frommt es uns, wenn wir vom Bewusstsein ausgehen und es der denkenden Betrachtung unterwerfen, wenn wir vorher über die Möglichkeit, durch denkende Betrachtung Aufschluss über die Dinge zu bekommen, nichts wissen? ... Ehe anderes begriffen werden kann, muss es das Denken werden.“ (Rudolf Steiner: Philosophie der Freiheit. 15. Auflage Dornach 1987, S. 52f.)
Damit ist, als Schlussfolgerung aus unserer fünften Beobachtung, der weitere Weg vorgezeichnet, gleichviel ob wir ihn zu Ende gehen können oder nicht. Wir fragen allerdings nur nach den Tätigkeitsweisen des Denkens, also ohne von bereits vorproduzierten Begriffen (von fertigen „Universalien“, „Axiomen“ oder „Kategorien“) auszugehen. Wir lassen uns auch weiterhin von Beobachtungen leiten, um erst hinterher Schlüsse zu ziehen, die in der Sache begründet sind.
Nun glaube ich nicht fehlzugehen, wenn ich annehme, dass ich Sie in einem wesentlichen Punkt enttäuscht habe: Sie wären keine Freunde Rudolf Steiners, wenn Sie mit meinen Ausführungen zufrieden wären, in denen gerade das Wichtigste im Menschen, sein „Ich“, unter den Tisch gefallen ist. Ihnen wird es wohl mehr als „Begriff“ und „Wahrnehmung“ bedeuten. Aber es ergibt sich nun einmal die Tatsache, die wir noch interpretieren werden, dass unser Ich zum universellen Bereich der Wahrnehmung gehört, genau wie unsere Gefühle und Triebe und genauso wie Tiere, Blumen und Steine - so befremdlich es Ihnen scheinen mag, ein so hohes geistiges, „übersinnliches Wesen“ auf ein- und dieselbe Stufe mit „gewöhnlichen“ Gegenständen herabgewürdigt zu sehen. Wir können nicht anders verfahren. Wenn es ein Ich geben sollte, dann kann es nur wie alle anderen Wahrnehmungen mit Hilfe des Begriffs auf der Bühne des Bewusstseins auftreten und sich als Realität ausweisen. Noch sind wir nicht so weit. Zunächst bleibt das, was wir „Ich“ nennen, außer Betracht.
C. DIE INTERMITTIERENDE „DENKBEOBACHTUNG“ ALS URSPRÜNGLICHE BEWUSSTSEINSPOLARITÄT
8. Das methodologische Urphänomen der Wissenschaft und Philosophie
Uns liegen nun fünf erste Beobachtungen vor: (1) Worauf wir im täglichen Denken niemals reflektieren, ist das Denken selbst - wir übersehen es; (2) wir streben im Erkennen der Welt immer und ausschließlich nach „Einheit“, weil wir nur eine einheitliche Welt begreifen können; (3) unter allen Prozessen der Welt ist das Denken der einzige, bei dem wir dabei sein müssen, wenn er ablaufen soll; (4) Mit der Produktion von Begriffen tauchen wir ins lebensnotwendige Element dessen ein, was wir Wahrheit nennen; (5) die selbstproduzierten Begriffe dieser Wahrheitswelt stehen in dauernder Wechselwirkung mit allen Wahrnehmungen, die ohne unser Zutun vorhanden sind. Aus diesen Beobachtungen haben wir geschlossen, dass zuerst die geistig ordnende Macht, also das Denken, untersucht werden muss, sofern das überhaupt möglich ist.
In diesen „Kristallisationspunkten“ versteckt sich aber eine Fülle von Zusammenhängen, deren Struktur noch ungeklärt ist. Bevor wir uns dem Denken zuwenden, müssen wir konkrete Beziehungen aufdecken, die wir etwas großzügig überspielt haben. Schon das Doppelphänomen von Begriffsschöpfung und fertigem Begriff, von tätigem Hervorbringen und Hervorgebrachtem, von Akt und Resultat kann Verwirrung stiften. Mit der Bezeichnung „Selbstproduziertes“ für die ideelle Seite, also das erste Phänomen, kommen wir nicht durch, oder wir müssten diesen Vorgang zugleich vollziehen und beobachten können. Das scheint unmöglich zu sein. Was geschieht wirklich? Zunächst ist festzustellen: unser Denken erzeugt nur dann seine Begriffe, wenn ihm in irgendeiner Weise eine konkrete Wahrnehmung entgegentritt, also ein Objekt, das sozusagen von außen kommt oder so erscheint, sei es uns vorgegeben. Worüber wir auch Begriffe bilden mögen, zuerst muss uns eine Wahrnehmung gegenübertreten, an der sich das Denken entzündet, um einen passenden Begriff zu erzeugen. Ohne Anstoß von „außen“ würde es in ewiger Ruhe verharren, also niemals aktiv werden, d.h. wir könnten von seiner Existenz nichts erfahren. Ohne dieses vorgegebene Widerlager, worauf ja der Begriff „Wahrnehmung“ (in immer noch unklarer Weise) zielt, wird unser Denken nicht tätig. Und wenn es tätig wird, produziert es etwas, das wie jede andere Wahrnehmung vor uns steht, wie ein Gegenstand, der sich nur darin von so vielen anderen unterscheidet, dass wir selbst seine Erzeuger sind. Und wir müssen uns dem so plötzlich Erscheinenden gegenüberstellen, können unsere Aufmerksamkeit darauf richten und darüber nachdenken, was es mit diesem „Objekt“ auf sich hat, das in so „fragwürdiger Gestalt“ wie der Geist im „Hamlet“ vor uns hintritt. Aber wie wir uns auch verhalten, wie lange wir auch beobachten und rätseln: dieser persönliche Willensvorgang fügt nichts Neues zu den beiden Grundelementen des Bewusstseins hinzu, „Begriff“ und „Wahrnehmung“ in ihrer charakteristischen Existenz bleiben unangetastet. Wir umkreisen diese beiden Phänomene, um neue dazugehörige Begriffe zu bilden. Es gibt keine andere Möglichkeit: der Blitz des Gedanken entzündet sich am Widerlager der „Wahrnehmung“, wobei es völlig gleichgültig ist, ob es sich um „innere“ oder „äußere“ Wahrnehmungen handelt, d.h. wir bewegen uns immer in konkreten „Gegenüberstellungen“, deren Entstehungsweise zunächst keine Rolle zu spielen braucht. Begriffe wie „Wahrnehmungsakt“, „Vorstellung“, „Schein“ und „Erscheinung“ sind bereits Resultate langer theoretischer Überlegungen und haben hier noch gar nichts zu suchen. Wir wissen überhaupt noch nicht, in welchem Zusammenhang unser Doppelphänomen mit uns und anderen Welttatsachen steht. Wir bewegen uns ausschließlich in Gegenüberstellungen, die sich, wie wir wissen, miteinander verbinden, ohne uns zu verraten, wie diese Verbindung zustande kommt und welches endgültige Ziel sie verfolgt.
Eins aber ist gewiss: wenn uns Objekte, also Phänomene der Gegenüberstellung, als sog. „Widerlager“ entgegentreten, dann müssen wir sie mit den Kräften der Aufmerksamkeit beobachten, um Begriffe zu bilden, d.h. wir müssen beobachten und denken. Zur bereits vorhandenen Wahrnehmung, wie sie auch entstanden sein mag, produzieren wir das begriffliche Element, das wir als Komplettierung der Wahrnehmung empfinden - und zwar