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Sie nur, wenn Sie hungrig werden und nicht schlafen können, werden Sie schon ein anderes Liedchen singen!« lachte noch lauter Pjotr Gerassimowitsch.

      »Dieser Pfaffensohn wird mich gleich zu duzen anfangen«, dachte Nechljudow und drehte sich von ihm mit einem so trübseligen Gesichtsausdruck ab, daß man glauben könnte, er hätte soeben die Nachricht vom Tode seiner sämtlichen Verwandten erhalten. Er näherte sich einer Gruppe, die sich um einen rasierten, hochgewachsenen, repräsentablen Herrn, der lebhaft etwas erzählte, gebildet hatte. Dieser Herr sprach von dem soeben in der Civilabteilung verhandelten Prozeß, wie von einer ihm nahe bekannten Angelegenheit, indem er die Richter und berühmten Advokaten beim Vor- und Vaternamen nannte. Er erzählte von der wunderbaren Wendung, die der berühmte Advokat der Sache zu geben verstanden, infolgedessen die eine der Parteien, eine alte Dame, trotzdem sie vollständig im Rechte war, der anderen Partei für nichts und wieder nichts eine große Summe auszahlen mußte.

      »Ein genialer Advokat!« sagte er.

      Man hörte ihm mit Achtung zu, und einige versuchten, ihre Bemerkungen einzuschieben, aber er schnitt allen das Wort ab, als könnte nur er allein alles, wie sich’s gehörte, wissen.

      Obgleich Nechljudow spät gekommen war, mußte er dennoch lange warten. Der Aufenthalt geschah durch die Verspätung eines der Mitglieder des Gerichtshofes.

      Sechstes Kapitel.

      Der Präsident war schon früh im Gericht er schienen. Derselbe war ein großer voller Mann mit einem starken, ergrauenden Backenbart. Er war verheiratet, führte aber ein sehr zügelloses Leben, ebenso wie auch seine Frau. Sie störten einander nicht. Heute Morgen hatte er von der Gouvernante, einer Schweizerin, die bei ihnen im Hause im Sommer gelebt hatte, und jetzt vom Süden her nach Petersburg reiste, ein Briefchen erhalten, demzufolge sie ihn heute zwischen 3 und 6 Uhr im »Hotel Italic« erwarten würde. Und deshalb wollte er die heutige Sitzung möglichst früh eröffnen und schließen, um noch vor sechs Uhr Zeit zu einem Besuch bei der rotblonden Klara Wassiljewna, mit der er im vorigen Jahr in der Sommerfrische einen Roman angeknüpft hatte, zu finden.

      Nachdem er in sein Kabinett eingetreten war, verschloß er die Thür und holte aus dem Aktenschrank vom untersten Regal zwei Hanteln, mit denen er zwanzig Ausfälle nach oben, nach vorn, seitwärts und nach unten machte, worauf drei gelinde Kniebeugen, mit über dem Kopf gehaltenen Hanteln, folgten.

      »Nichts konserviert so gut, wie kalte Abwaschungen und Turnen«, dachte er, während er mit der mit einem Goldring geschmückten Linken den gespannten Biceps der Rechten befühlte. Es blieb ihm noch übrig die »Moulinet« zu machen (er führte diese beiden Übungen jedesmal vor der langwierigen Sitzung aus), als die Thür erdröhnte. Jemand wollte sie öffnen. Der Präsident legte die Hanteln schleunigst zurück und öffnete die Thür.

      »Verzeihen Sie«, sagte er.

      In das Zimmer trat eines der Mitglieder des Gerichtshofs, ein kleiner Herr, mit in die Höhe gezogenen Schultern, finsterem Gesicht und einer goldenen Brille.

      »Matwej Nikititsch ist wieder nicht da«, sagte das Gerichtsmitglied unzufrieden.

      »Nein, er ist noch nicht da«, antwortete, seine Uniform anziehend, der Präsident. »Er kommt immer zu spät.«

      »Merkwürdig, daß er sich nicht schämt«, sagte das Mitglied und holte, sich ärgerlich setzend, seine Cigaretten hervor.

      Dieses Gerichtsmitglied, ein sehr peinlicher Mann, hatte heute Morgen mit seiner Frau einen unangenehmen Konflikt, weil die Frau, noch vor

      Ablauf des Monats, das ganze Wirtschaftsgeld ausgegeben hatte. Sie hatte ihn um einen Vorschuß gebeten, während er nicht von seinen Prinzipien abweichen wollte. Es kam zu einer Szene. Die Frau sagte, daß wenn dem so sei, es zu Hause auch keinen Mittag geben würde und er sich nicht heimzubemühen brauchte. Damit war er weggefahren. Und jetzt fürchtete er, daß sie ihre Drohung ausführen würde, denn von ihr konnte man alles erwarten.

      »Da soll man nun ein gutes, moralisches Leben führen«, dachte er, den strahlenden, gesunden, heiteren und wohlwollenden Präsidenten anblickend, der, mit auseinanderstehenden Ellbogen, sich mit den schönen weißen Händen den dichten, ergrauen den Backenbart seitwärts vom gestickten Kragen wegstrich; »der ist immer zufrieden und heiter, während ich mich abquälen muß.«

      Der Sekretär trat ein und brachte irgend welche Akten.

      »Ich danke Ihnen sehr«, sagte der Präsident und rauchte sich eine Cigarette an. »Welchen Prozeß lassen wir denn zuerst von Stapel?«

      »Ich denke den Giftmord«, sagte scheinbar gleichgültig der Sekretär.

      »Schön, meinetwegen den Giftmord«, sagte der Präsident, indem er sich überlegte, daß ein Prozeß wie dieser bis vier Uhr wohl beendigt werden könnte und er dann die Möglichkeit hätte, wegzufahren. »Und Matwej Nikititsch ist noch nicht da?«

      »Immer noch nicht.«

      »Und Brede?«

      »Ist da«, antwortete der Sekretär.«

      »So sagen Sie ihm, wenn Sie ihn sehen, daß wir mit dem Giftmord beginnen.«

      Brede war der Staatsanwaltsadjunkt, der in dieser Sitzung die Anklage vertrat.

      Der Sekretär traf Brede auf dem Korridor. Mit hochgezogenen Schultern, im aufgeknöpften Uniformrock, ein Portefeuille unter dem Arm, ging er fast im Laufschritt, mit den Absätzen klappernd, den Korridor entlang, während er den freien Arm in der Weise schwenkte, daß die Handfläche immer perpendikulär zur Richtung seines Ganges blieb.

      »Michail Petrowitsch bat mich, Sie zu fragen, ob Sie fertig sind?« fragte ihn der Sekretär.

      »Natürlich, ich bin immer fertig«, sagte der Staatsanwalt. »Was geht denn zuerst?«

      »Der Giftmord.«

      »Wunderbar«, sagte der Staatsanwalt, in Wirklichkeit aber fand er es gar nicht wunderbar, denn er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Sie hatten einem Kollegen das Geleit gegeben, es wurde viel getrunken und bis zwei Uhr gespielt. Hernach fuhr man zu den Mädchen, in dasselbe Haus, in welchem vor sechs Monaten noch die Maslowa gewesen war, sodaß er zum Studium gerade der den Giftmord betreffenden Akten keine Zeit gehabt und sie jetzt erst durchlesen wollte. Der Sekretär aber, der sehr wohl wußte, daß der Staatsanwalt die Giftmordakten nicht gelesen, hatte eben darum dem Präsidenten vorgeschlagen, diesen Prozeß zuerst vorzunehmen. Der Sekretär war ein Mann von liberaler, ja sogar radikaler Denkungsart. Brede da gegen war konservativ und dem orthodoxen Glauben, wie alle in Rußland dienenden Deutschen, ganz besonders ergeben. Und der Sekretär mochte ihn nicht leiden und neidete ihm seine Stellung.

      »Nun, und mit dem Prozeß der Kastratensekte?« fragte der Sekretär.

      »Ich habe schon gesagt, daß ich nicht kann«, antwortete der Staatsanwalt: »wegen Abwesenheit der Zeugen, und werde das auch dem Gerichtshof wiederholen.«

      »Es ist doch gleich . . . «

      »Ich kann nicht«, sagte der Staatsanwalt und lief, in gewohnter Weise mit der Hand schwenkend, in sein Kabinett.

      Er schob den Prozeß der Kastratensekte, unter dem Vorwande der Abwesenheit eines Zeugen, der aber durchaus nicht wichtig und für die Sache von Belang war, nur darum auf, weil dieser Prozeß, wenn er vor einem Gerichtshof mit einem intelligenten Geschworenenpersonal verhandelt würde, leicht mit einer Freisprechung enden konnte. Um das zu verhindern, hatte er mit dem Präsidenten die Vereinbarung getroffen, daß dieser Prozeß bis zu einer Kreisstadtsession verschoben würde, wo es unter den Geschworenen mehr Bauern gab und daher auch mehr Chancen für eine Verurteilung.

      Die Bewegung im Korridor wuchs immer mehr. Das meiste Publikum drängte sich an den Thüren der Civilabteilung, wo eben die Sache verhandelt wurde, von welcher den Geschworenen jener repräsentable Herr, der Prozeßliebhaber, erzählte. Während einer Pause trat aus dem Saal dasselbe alte Mütterchen, deren ganzes

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