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Zeit für keinen Menschen mehr irgendeine Bedeutung und doch rannten sie ihr immer wieder hinterher.

      Am Polizeigebäude stellte er den Dienstwagen in dem von hässlichen Mauern eingerahmten Hof ab und eilte in sein Büro, das in der ersten Etage lag. Auf seinem alten Schreibtisch prangte ihm eine neu angelegte Mappe entgegen, die Kullmann in Erstaunen versetzte. Wo kam diese Mappe her? Wer arbeitete schon so früh am Samstagmorgen in diesem Büro? Kaffeeduft stieg ihm in die Nase und vermittelte ihm direkt ein heimisches, wohltuendes Gefühl, das ihn von seinem pessimistischen Gedanken ablenkte.

      »Guten Morgen, Chef“, hörte er die fröhliche Stimme seiner jungen Kollegin Anke Deister, die erst seit einem halben Jahr im Polizeidienst angestellt war, sich aber in der Kürze der Zeit zu einer beliebten und begehrten Kollegin entpuppt hatte. Sie war stets guter Laune, trotz dieser psychisch belastenden Tätigkeit in der Mordkommission. Stets hatte sie ein freundliches Lächeln parat, womit sie sogar den schlecht gelaunten Kollegen Kullmann wieder besänftigen konnte. Ihre jugendliche Schönheit und ihre Lebendigkeit brachten jungen Wind in diese alten Gemäuer, wie Kullmann stets, wenn er sie ansah, begeistert feststellen musste. Sie war von einem gesunden Ehrgeiz eingenommen, der sie vergessen ließ, dass das Leben für junge Menschen auch noch andere Angebote bereithält. Diese Eigenschaft bewog sie auch dazu, am Samstagmorgen in aller Frühe im Büro zu sitzen und Aktenmaterial für den Doppelmordfall zusammenzustellen.

      »Was tun Sie hier um diese Zeit?«, konterte Kullmann, ohne den freundlichen Gruß zu erwidern. Es war ihm zweifelhaft, wie eine junge, hübsche Frau ihre freie Zeit auf diese Weise vergeuden konnte. Sie gehörte unter junge Menschen, die abends die Disco besuchten und morgens lange schliefen, und nicht hierher in diese grauen Mauern.

      »Gut gelaunt, wie immer«, zwitscherte sie zu ihrem Chef und nahm ihm mit ihrer Heiterkeit den Wind aus den Segeln. »Sie wissen doch, dass meine Arbeit mich interessiert, und so ein Fall ganz besonders«, kam sie mit einer Tasse Kaffee aus dem kleinen Nebenzimmer und stellte sie Kullmann direkt vor die Nase, damit er gar nicht auf den Gedanken kam, weiter über das Thema zu diskutieren.

      »Woher haben Sie schon so viel Aktenmaterial, es ist doch erst sieben Uhr?«, wunderte Kullmann sich und schaute sich die ersten Informationen kaffeetrinkend an. Es waren Zusammenstellungen über die beiden Toten, deren Familienangehörigen, und über die Firma, in der sie beschäftigt waren. Wie Anke Deister bereits in Erfahrung bringen konnte, hatten sich die beiden Opfer auf einer Betriebsfeier aufgehalten, von der sie nicht mehr nach Hause gekommen waren.

      »Ich habe von Hübner herausbekommen, wer die beiden waren und bin darauf hin ins Büro gefahren, um Näheres in Erfahrung zu bringen. Hier habe ich dann gleich eine Meldung gesehen, dass die Herren Klos und Wehnert von den Ehefrauen bereits als vermisst gemeldet wurden, weil sie von der Betriebsfeier nicht mehr zurückgekehrt sind. Diese Meldung wurde zwar noch nicht bearbeitet, weil es im Normalfall viel zu früh gewesen wäre, aber hier liegt der Fall wohl anders. Also habe ich mich an die Arbeit gemacht. Viel habe ich ja noch nicht herausgefunden, ich wollte schließlich die beiden Frauen noch nicht über ihr Schicksal informieren. Das überlasse ich zuständigkeitshalber Ihnen.«

      Den letzten Satz unterstrich sie mit einem frechen Grinsen, worüber Kullmann sich ärgerte. Sie wusste ganz genau, wie unangenehm es ihm immer wieder war, den Betroffenen die schlimme Botschaft zu übermitteln. Eilig verschwand sie wieder in ihrem Büro, damit er keine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern. Aber es war ihm auch gar nicht danach zumute. Als er in die Mappe schaute, las er, dass Herbert Klos 39 Jahre alt war, verheiratet war und 2 Kinder, Zwillinge, hatte, was ihm direkt einen Stich gab. Das zweite Opfer, Jürgen Wehnert, war 41 Jahre alt, ebenfalls verheiratet und hatte eine Tochter. Schlimmer hätte es für ihn nicht kommen können. Er konnte sich schon die Szenen vorstellen, die auf ihn zukommen würden. Wie oft hatte er das schon erlebt. Illusionen, die innerhalb von Sekunden zerstört waren, Schicksale, die mit einem Schlag besiegelt waren und Menschen, die am Verlust des Mitmenschen zerbrachen. Nicht selten wollten diese Menschen ihn für das, was er übermittelte, auch noch verantwortlich machen. Dabei litt er jedes Mal mit ihnen und wünschte sich selbst auf einen anderen Planeten. Auch diese unausgesprochenen Schuldzuweisungen dieser Opfer hinterließen deutliche Spuren in ihm. Bei jedem Verlust eines Menschen litt ein Stückchen in ihm mit.

      Missmutig notierte er sich die Anschriften der beiden betroffenen Familien und machte sich auf den Weg. Je eher, desto besser, dachte er.

      Mit langsamen Schritten ging er wieder hinunter zum Parkplatz auf seinen Dienstwagen zu, als gerade die übrigen Kollegen vom Tatort vorgefahren kamen. Hübner stieg aus und schritt auf Kullmann zu.

      »Was ist mit dir los? Hast du kein Interesse mehr daran, mit mir im Team zu arbeiten, oder was? Was habe ich dir getan?« Vorwurfsvoll schaute er seinen älteren Kollegen an und erwartete eine Antwort.

      Kullmann schüttelte den Kopf und meinte nur: »Du hast mir gar nichts getan. Nimm es bitte nicht persönlich. Aber jetzt muss ich zu den betroffenen Familien fahren, und glaube mir, das hebt meine Stimmung nicht gerade an.«

      Mit seinen müden Augen schaute er zu Hübner hinauf und hoffte, der junge Mann würde sich damit zufrieden geben, doch da hatte er sich getäuscht. »Ich fahre mit dir. Schließlich ist es genauso meine Aufgabe, mit diesen Leuten zu sprechen«, bestimmte er und stieg bereits auf der Fahrerseite in den Dienstwagen ein. Kullmann widersprach ihm nicht. Eigentlich war es ihm sogar ganz recht, dass er nicht alleine dieses Trauerspiel miterleben musste. Hübner konnte in solchen Augenblicken ungewöhnlich viel Taktgefühl und Feingefühl an den Tag legen, was Kullmann diese unangenehme Aufgabe erleichtern konnte. Resigniert setzte er sich auf den Beifahrersitz, nannte die Anschriften der beiden und bat Hübner loszufahren.

      Zuerst hielten sie an dem Haus der Familie Klos. Es lag außerhalb der Stadt zwischen Riegelsberg und Rußhütte, ein Ort direkt am Waldrand, wo sich außerdem nur noch fünf andere Häuser befanden. Sie stellten den Wagen direkt vor dem Haus ab und stiegen aus. Frische Waldluft strömte ihnen entgegen, die intensiv nach Regen roch. Man spürte noch den jungen Tag in der Luft. Ein Tag, der für die meisten Menschen erst begann, der aber für zwei Menschen schon zu Ende war. Schwermütig bewegte Kullmann sich hinter Hübner her auf die Haustür zu, als diese bereits aufgerissen wurde. Eine kleine, schmale Frau, mit blassem Gesicht und ungekämmten Haaren erschien im Türrahmen und schaute erwartungsvoll den beiden entgegen. In ihren Augen war großer Kummer zu sehen, der hässliche Schatten unter die Augen abzeichnete. Das zarte, ebenmäßige Gesicht wirkte völlig entstellt. Deutlich erkannte man darin die Sorgen der letzten Nacht.

      »Wer sind Sie? Ich dachte, mein Mann käme endlich nach

      Hause“, sprudelte sie los. Verwirrung und Verzweiflung schwang in ihrer Stimme mit.

      Kullmann stellte seinen Kollegen und sich selbst vor. Dabei wusste er, wie die Existenz der Polizei auf Menschen in solchen Situationen wirkte. Die Einleitung ersparte ihm fast die Mühe, die ganze Wahrheit zu sagen, da die Betroffenen es bereits ahnten.

      »Ist meinem Mann was zugestoßen?«, fragte sie entsetzt und verlor nun vollends das bisschen Farbe, das noch in ihrem Gesicht war. Ihre Augen wurden größer und weiter und ihr Mund blieb halboffen, als ob sie noch etwas sagen wollte.

      »Dürfen wir hereinkommen?«, fragte Hübner.

      »Sicher“, besann sie sich rasch und ließ die beiden eintreten.

      »Die Kinder sind aber zuhause, ich möchte nicht, dass sie etwas mitbekommen. Gehen wir am besten ins Wohnzimmer.« bestimmte sie und zeigte den beiden den Weg zum besagten Zimmer.

      Es war ein geschmackvoll eingerichtetes Zimmer, mit einem Panoramafenster, das vom Boden bis zur Decke reichte. Der Ausblick ging direkt auf einen kleinen Garten mit Teich, an den der Wald angrenzte. Eine Tür, die auf eine an den Garten angrenzende Terrasse führte, stand offen und ließ den frischen Duft der regennassen Bäume herein.

      »Oh, ich hatte wohl vergessen, die Tür abzuschließen“, stellte die Frau zerstreut fest und holte es hastig nach.

      In der Mitte des Zimmers stand eine Ledercouchgarnitur in Antikbraun, die mit ihrer ganzen Wuchtigkeit einen kleinen Marmortisch mit Glasplatte einrahmte. Dort bot die Frau den beiden Herren Platz an und setzte sich selbst ihnen

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