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Er hat über 30 Jahre bei der Mordkommission in Bremen gearbeitet und in über 1000 Fällen ermittelt. Gleich zu Anfang besuch er die Stiftstraße in Frankfurt. Hier hat Rosemarie kann zwei Jahre bis zu ihrem Tod gelebt. Damals ein nobles Haus für wohlhabende Mieter, heute lässt sich das nur noch erahnen. Auch wenn der Mord nun 60 Jahre zurückliegt, will sich Axel Petermann selbst ein Bild machen.

      „Für mich ist es immer wichtig, am Tatort gewesen zu sein, wenn ich ein Verbrechen analysieren soll. Ich will wissen, wie hat Rosemarie gelebt und gewohnt, wie kann ich mir die Situation vorstellen, wenn ich durch das Treppenhaus gehe oder dem Fahrstuhl benutze?“, so Petermann.

      Soviel Jahrzehnte nach der Tat ist Axel Petermann vor allem auf die Ermittlungsakten angewiesen. Im Staatsarchiv Wiesbaden lagern rund 70 Ordner zu diesem Fall. Petermann steigt in die Recherche ein. Wer war diese Rosemarie Nitribitt eigentlich und wie wurde sie zur Edelhure?

      Am 1. Februar 1933, kurz nach Hitlers Machtergreifung, kommt Rosemarie Nitribitt in Düsseldorf zur Welt. Ihre Mutter ist erst 18 Jahre alt und als Putzfrau tätig. Die Behörden des Dritten Reichs stuften Maria als „schwachsinnig“ ein. Ihren Vater, einen Arbeiter aus Düsseldorf, der später Unterhaltszahlungen ablehnte, lernte Rosemarie vermutlich nie kennen. Rosemaries jüngere Halbschwestern Irmgard und Lieselotte hatten jeweils einen anderen Vater; vernachlässigt wurden alle drei gleichermaßen. So war es gut und richtig, dass das Jugendheim die fünfjährige Rosemarie 1937 „wegen Verwahrlosung“ ins Heim steckte. Im Nachhinein war es ein Glück: Im Frühjahr 1939 kam das Kind zu Pflegeeltern nach Niedermending in der Eifel. Bei dem 69-jährigen Pflegevater Nikolaus Elsen und seiner zwanzig Jahre jüngeren Frau Anna Maria erlebte Rosemarie zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben Liebe und Geborgenheit. Während 1942 die leibliche Mutter mal wieder eine Haftstrafe verbüßte, feierte Rosemarie ihre Erstkommunion.

      Zeugen dieser kurzen Zeit sagen, Rosemarie sei fröhlich, aufgeweckt und lebhaft gewesen. 1944 vergewaltige ein 18-jähriger Nachbarsjunge die elfjährige Rosemarie. Der Vorfall blieb nicht unbemerkt, aber in dem kleinen Eifeldorf, auch bei den Elsens, schwieg man das Verbrechen tot. Der Junge ging zur Wehrmacht. Rosemarie blieb zwei Wochen der Schule fern und geriet dann auf die schiefe Bahn. Die Vergewaltigung bleibt ungesühnt. Das hat sich ein Trauma bei dem Kind ausgelöst, irgendetwas war zerbrochen. Es lässt sich auch in den Jugendamtsunterlagen, die lückenlos erhalten sind, nachlesen, dass mit dieser Vergewaltigung der große Bruch mit und in ihrem Leben zustande kam. Danach gab es keine Kontakte oder enge Beziehung mehr zu ihrer Umwelt. Nichts prägt uns mehr als unsere Kindheit, die Zeit, in der wir arglos und verletzlich sind. Vier behütete Jahre vermochten nicht den Schmerz einer jungen Seele zu heilen, die immer wieder im Stich gelassen wurde. Je härter es das Leben mit Rosemarie meinte, desto härter wurde sie selbst. Sie wurde zur Einzelkämpferin und ab ihrem 12. Lebensjahr verhaltensauffällig.

      Kurz nach Kriegsende befreundete Nitribitt sich mit zwei Prostituierten. Mit knapp 13 Jahren bot sie sich zum ersten Mal französischen Besatzungssoldaten an. Mit 14 Jahren hatte sie eine Abtreibung, die fast tödlich endete. Es war Anfang 1947, die Pflegeeltern waren längst überfordert und ließen Rosemarie einmal mehr in ihrem Leben im Stich. Erstmals lässt sie sich für Sex bezahlen. Der Pfarrer meldet das dem Jugendamt. Von geschlechtlichen Ausschweifungen ist in ihrer Akte die Rede und das sie sich wahllos mit Männern einlasse. Die Heranwachsende wird nun in diverse Erziehungsheime gesteckt, wo sie immer wieder ausreist. Rosemarie zieht es in die nahe Großstadt, über Koblenz nach Frankfurt. Das war die heimliche Hauptstadt der alten Bundesrepublik, eine Stadt voller enormer Wirtschaftskraft, mitten im Wiederaufbau, schon vorhandenes Nachtleben und gleichzeitig liberal geprägt. Hier arbeitet Rosemarie – immer noch minderjährig – bald als Prostituierte.

      Eine Odyssee durch Erziehungsheime und Verwahranstalten begann, immer wieder schaffte Rosemarie es, abzuhauen. Mit 18 Jahren wird sie am Hauptbahnhof mehrfach von der Polizei aufgegriffen. Bis zur Volljährigkeit fehlen noch drei Jahre, doch kein Heim will sie aufnehmen. Nachdem die 18-Jährige im Sommer 1951 wegen „Landstreicherei“ drei Wochen Jugendstrafanstalt Frankfurt-Preungesheim verbüßt hatte, wollte kein Heim mehr den hoffnungslos renitenten Fall bei sich aufnehmen. Im April 1952 sperrte man die junge Prostituierte für ein Jahr in die berüchtigte Nazi-Arbeitsanstalt Brauweiler und ließ sie Tüten kleben. Das saß Rosemarie Nitribitt also in der Ära Adenauer am selben Ort, an dem in der Ära Hitler Konrad Adenauer eingesessen hatte.

      Man wollte sie aus der Fürsorge entlassen, weil man einfach festgestellt hat, dass die junge Frau so problematisch ist und nichts mehr durch die Fürsorge getan werden konnte. Man hatte die Möglichkeit, sie nun als volljährig zu erklären und das tat man. Man wollte sie schlichtweg aus der Fürsorge loswerden.

      Rosemarie versucht, wieder in Frankfurt, ihren Körper zu Geld zu machen. Als Tischdame zieht sie amerikanischen Soldaten das Geld für überteuerte Drinks aus der Tasche und regelmäßig lässt sie sich nun für Sex bezahlen. Sie wäre vielleicht gern noch was anderes geworden, was Bewerbungen als Mannequin dokumentierten und sie hatte auch einen diesbezüglichen Kurs besucht. Ihre derben Manieren, die arge Lese- und Rechtschreibschwäche und den breiten Eifel-Dialekt schliff sie in Kursen für Mannequins und gutes Benehmen zurecht. Zum bemühten Hochdeutsch kamen ein paar Worte Englisch und Französisch, man weiß ja nie, wer und was kommt. Stundenlang blockierte sie das Gemeinschaftsbad ihrer Pension am Stadtrand und ging anschließend in hochgeschlitzten Kleidern, glänzenden Nylons, hochhackigen Schuhen und Pudel Joe auf dem Arm auf Frankfurts Prachtboulevard im Bahnhofsviertel schaulaufen.

      Rosemarie Nitribitt war der lebende Beweis dafür, dass das Laster mitten unter ihnen war. Zwischen ihren Heimaufenthalten tauchte sie immer wieder in Frankfurt am Main ab und träumte im Schatten von Bankenbauten und gen Himmel wachsenden Häusern von Geld und Ansehen. Einer Kollegin aus dem Milieu sagte Nitribitt, sie wolle eine reiche, anerkannte Ehefrau werden und einen großen Salon führen. Eine Weile arbeitete sie als Hausmädchen bei einer Bäckersfamilie, in einem Familiencafé und auf einer Hühnerfarm. Das meiste Geld verdiente die unbelehrbare Schulabbrecherin aber auf dem Strich.

      „Keineswegs besonders attraktiv“ fand der Journalist Erich Kuby die Nitribitt, die postum in dessen Buch als „Des deutschen Wunders liebstes Kind“ auferstand. Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ meinte später gnadenlos, „ihr durchschnittliches Gesicht mit der kurzen, etwas plumpen Nase und der leicht zynisch geschürzten Oberlippe wäre hinter keinem Ladentisch und keiner Ausschanktheke aufgefallen.“

      Für Frauen gibt es in der Wirtschaftsmetropole nicht allzu viele Möglichkeiten, am Aufschwung teilzunehmen. Die verheiratete Frau arbeitet nicht, bleibt also nur ein Job als Sekretärin oder Verkäuferin. Rosemarie entschließt sich also, eine der 1200 Prostituierten Frankfurts zu sein.

      Auf einer Polizeifoto von 1951 wirkt die damals 18-Jährige wirklich kein bisschen glamourös, eher mausgrau, aschfahl und sturzunglücklich. Aber Rosemarie Nitribitt mauserte sich. Wenn schon Hure, dann wollte sie keine billige sein. Sobald Nitribitt als volljährig galt und offiziell keinen Vormund mehr brauchte, erfand sie sich nagelneu. Den Aufstieg der Nitribitt kann man sehr gut anhand der Statussymbole verfolgen, mit denen sie sich stückweise aufwertete, offen kokettierte und klarstellte: Ich bin nicht für jedermann zu haben.

      Schon der Teenager Rosemarie versuchte, seine ärmliche, erbärmliche Herkunft zu überspielen. In einer der wenigen stabilen Phasen ihrer Jugend entstand ein Foto, auf der sie in einem figurbetonten Kostüm, mit Schirm und breitkrempigem Hut als Requisiten die Grande Dame mimt. Anfangs steckte Nitribitt jeden Cent in ihre Inszenierung als mondäne Mätresse. Wenig Geld gab sie für Essen aus.

      Auch wenn Ehebruch noch offiziell unter Strafe steht, ist das kein Hinderungsgrund für Männer, die es sich leisten können, sich im Nachtleben der Stadt zu amüsieren. Rosemarie fand sehr schnell Kontakt zu höheren Kreisen, weil sie eine gute Gesprächspartnerin war. Sie konnte zuhören und sich durchaus kultiviert unterhalten.

      Ein wichtiges Statussymbol war in dieser Zeit das Auto. In Frankfurt findet jährlich die internationale Automobilausstellung statt. Die Menschen bestaunen Wagen, die die meisten sich gar nicht leisten können. Rosemarie aber schon.

      Ihr größter Coup aber war also ein Auto. Bevor es ihr Markenzeichen wurde, bedeutete das Auto für Nitribitt die ultimative Freiheit. Darin entkam sie

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