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zu lächeln. Die Erstuntersuchung der Sechzehnjährigen! Das ist alles so aufregend! Vielleicht bedeutet dies endlich den Beginn eines neuen Lebensabschnittes. Wenn ich die Kommune verlassen muss, kann ich Carls Traurigkeit ein wenig nachvollziehen. Ich sehe zu Neal, doch er hält den Kopf gesenkt. Er sieht überhaupt nicht so aus, als würde er sich für mich freuen. Es ärgert mich.

      »Ich werde mich am Freitag jedenfalls von meiner besten Seite zeigen«, sage ich trotzig. »Ich kann lesen und bin sehr gebildet. Es könnte mir einen Vorteil verschaffen.«

      Jetzt hebt Neal seinen Kopf doch noch, aber sein Blick beschert mir einen Stich in der Brust. Er sieht nicht so traurig aus wie Carl, eher wütend, was mir einen Schreck einjagt.

      »Du scheinst es ziemlich eilig haben, uns loszuwerden.« Die Kälte in seiner Stimme lässt mich zusammenfahren.

      Ich fühle mich bedrängt. Natürlich möchte ich ihn nicht verletzen, aber er muss doch verstehen, dass ich ein solches Angebot nicht ablehnen könnte! Das Leben in der Welt der Obersten in ein Paradies. Es gibt nur diese zerstörte Stadt und den Bezirk jenseits der Brücke, den noch niemand von uns gesehen hat. Dahinter ist die Weltscheibe zu Ende. Wer würde freiwillig hier bleiben wollen, wenn er ins Paradies einziehen kann? Sollten sie mir das Angebot machen, werde ich es jedenfalls nicht ausschlagen.

      »Du bist doch nur neidisch, weil sie dich damals nach deiner Untersuchung nicht benachrichtigt haben.«

      Ich weiß, wie verletzend meine Worte klingen, aber immerhin hat er mir auch weh getan. Neal ist ein Jahr älter als ich. Als er im letzten Jahr zur Untersuchung gerufen wurde, bin ich auch traurig gewesen. Ich kann ihn verstehen. Lange habe ich mich schlecht gefühlt, weil ich froh darüber gewesen bin, dass Neal nicht rekrutiert wurde. Natürlich bedeutet das nicht, dass er für immer in der Stadt bleiben muss. Manchmal rufen die Obersten auch ältere Menschen zu sich, aber aus welchem Grund, wissen wir nicht. Keinen von ihnen haben wir je wiedergesehen. Die jungen, die gerufen werden, arbeiten später manchmal in der Stadt bei der Essenausgabe oder in den medizinischen Stationen. Sie tragen dann schwarze Anzüge anstatt gelbe oder blaue. Aber geredet haben sie nie wieder mit uns.

      »Ich soll neidisch sein?«, empört Neal sich. »Glaube mir, ich wäre damals nicht gegangen, wenn sie mich gerufen hätten. Deinetwegen.«

      »Das glaubst du doch wohl selbst nicht.« Meine Euphorie von gerade wandelt sich in Wut. »Außerdem hätten sie dir gar keine Wahl gelassen. Ich glaube nicht, dass man gefragt wird, ob man gehen möchte oder nicht.«

      Tatsächlich weiß ich das nicht. Es kommt mir auch seltsam vor, dass jemand das Angebot freiwillig ablehnen könnte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Fall je eingetreten ist.

      Neal funkelt mich böse an und stampft mit festen Schritten aus dem Gemeinschaftsraum. Die Tür hinter ihm fällt donnernd ins Schloss. Ich fühle mich schlecht und sehe Carl Hilfe suchend an, doch der lächelt nur traurig.

      Kapitel drei

       Holly

      Alles in diesem Raum ist weiß. Die Wände, der Boden, die Stühle, die Tür. Es blendet mich. Ich kenne keine weißen Räume, in der Stadt ist alles schmutzig und grau. Ich habe sehr lange keine medizinische Station mehr von innen gesehen. Als ich zwölf Jahre alt war, litt ich tagelang unter schlimmer Übelkeit und Krämpfen. Ich habe damals gedacht, ich müsste sterben. Ich war der festen Überzeugung gewesen, mich mit dem Virus infiziert zu haben, das die meisten Einwohner meiner Stadt vor vielen Jahren getötet hat. Am dritten Tag ist Carl mit mir zur medizinischen Station gegangen. Ich habe kaum noch Erinnerungen daran, eher wie die Bilder eines Traumes, die einem entgleiten, je mehr man sie zu fassen versucht. Ich bekam schlimmes Fieber, nahm alles nur wie durch einen Schleier hindurch wahr. Aber ich weiß noch, wie Carl mich auf dem Arm in das weiße Gebäude getragen hat. Das strahlende Weiß hat sich in mein Gedächtnis gegraben, und ich fühle mich jetzt schmerzlich an meine Krankheit erinnert. Von diesem Tag an war weiß für mich stets die Farbe, die ich mit Unwohlsein verbinde. Sie hatten mir Tabletten gegeben, die schrecklich schmeckten. Ich lag auf einer Liege, über mich beugten sich mehrere Männer, deren schwarze Anzüge einen flirrenden Kontrast zu den Wänden bildete. Mir stellen sich die Haare auf meinen Unterarmen auf, wenn ich daran denke. Ich bin wieder ganz gesund geworden, aber meine Abneigung ist geblieben. Es war das erste und letzte Mal, dass ich eine medizinische Station besuchen musste. Bis heute. Aber heute ist der Anlass erfreulicher und ich ringe meine negativen Gefühle nieder.

      Die medizinische Station ist ein flaches Gebäude mit nur einem Stockwerk. Ein ungewohnter Anblick für mich. Der Raum, in dem ich mich befinde, ist leer bis auf ein paar Stühle, die an der Wand stehen. Es sind weiße Plastikstühle. Mir gegenüber hängt eine Uhr, weiß mit schwarzen Zeigern. Es ist sieben Uhr am Morgen. Ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können, und auch jetzt verspüre ich keine Müdigkeit, nur grenzenlose Anspannung. Ich knete auf meinen Fingerspitzen herum, weil ich nicht weiß, womit ich meine nervösen Hände beschäftigen soll. Suzie ergeht es ähnlich. Sie sitzt rechts von mir und streicht sich schon zum hundertsten Mal mit den Fingern durch die langen blonden Haare. Fast befürchte ich, sie könnten ihr ausfallen, weil sie so sehr daran herumzieht. Mit ihrem linken Bein wippt sie auf und ab. Es raubt mir den letzten Nerv.

      Suzie und ich sind die einzigen beiden Menschen im Wartezimmer. Ich habe erwartet, mehr Jugendliche bei der Erstuntersuchung anzutreffen und bin mir sicher, dass es noch andere geben muss. Ob man sie an einem anderen Tag oder zu einer anderen Uhrzeit herzitiert hat?

      Mein Magen knurrt, ich habe Hunger, weil ich noch nichts gegessen habe, nicht einmal etwas getrunken. Carl meinte heute morgen zu mir, ich müsse nüchtern sein, wenn sie mir Blut abnehmen. Ich habe keine Ahnung, ob das weh tun wird. Ich kenne nur die Schilderungen meiner Mitbewohner. Carl hat nur gelacht, als ich ihn danach gefragt habe, und mir auf die Schulter geklopft. Ich habe gequält gelächelt und mich sogleich für meine dumme Frage geschämt. Ich darf nicht vergessen, weshalb ich hier bin und was mein Ziel ist. Dafür muss ich Opfer bringen. Ich möchte die Welt jenseits der Brücken sehen, und ein kleiner Pieks wird mich nicht davon abhalten. Ich hoffe inständig, dass sie mich für tauglich befinden werden. Weniger als jeder fünfte der untersuchten Sechzehnjährigen wird am Ende auch rekrutiert, deshalb darf ich mir keine zu großen Hoffnungen machen, um hinterher nicht enttäuscht zu sein.

      »Was glaubst du, wie lange sie uns noch warten lassen?« Suzie flüstert, aber ich erschrecke trotzdem fürchterlich. Sie hat mich aus meinen Gedanken gerissen. Ich sehe wieder auf die Uhr. Nur fünf Minuten sind vergangen, seit ich das letzte Mal hingesehen habe.

      »Ich weiß nicht. Aber ich hoffe, nicht mehr allzu lange. Ich verhungere.«

      »Ich auch. Mensch, ich bin so aufgeregt! Nichts würde mich mehr hier halten, wenn die Obersten mich zu sich riefen.« Suzies Augen leuchten.

      Ich kann es mir nicht erklären, aber in diesem Moment unterdrücke ich den Impuls, ihr ins Gesicht zu schlagen. Ich bin unfair und mir meiner gemeinen Gedanken bewusst, aber zum ersten Mal kommt mir in den Sinn, dass es passieren könnte, dass man Suzie tatsächlich rekrutiert, während ich dazu verdammt sein würde, mein monotones Leben fortzuführen. Ich gönne es ihr nicht, obwohl ich mich schlecht dabei fühle.

      Ich erwidere nichts, sondern nicke nur. Ich hoffe, sie hat meine Emotionen nicht in meinem Gesicht abgelesen.

      Die Tür unter der Wanduhr gegenüber öffnet sich einen Spaltbreit. Eine dunkelhaarige Frau steckt den Kopf ins Wartezimmer. Mein Herz macht einen Sprung und meine Muskeln spannen sich an. Ich balle meine Hände so fest zu Fäusten, das sich die Fingernägel in meine Handflächen graben.

      »Nummer 21-19 bitte in den Untersuchungsraum.« Die Stimme der Dame ist nüchtern und zeigt keinerlei Gefühle. Vermutlich ist es für sie Routine. Für mich ist es das nicht.

      Ich spüre einen kleinen Stich der Enttäuschung in meiner Brust, als Suzie neben mir ein vergnügtes Quietschen ausstößt und von ihrem Stuhl aufspringt. 21-19 ist ihre Individuennummer, nicht meine. Sie würdigt mich keines Blickes mehr, als sie hinter der Ärztin im Raum gegenüber verschwindet und sich die Tür wieder schließt. Ich ringe mit den Tränen,

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