Скачать книгу

ruht.

      »Du zwingst mich, mich zu entscheiden. Das ist gemein. Du weißt, dass du mein bester Freund bist.«

      Neal zieht seine Hand weg. Es versetzt mir einen Stich. »Nur das? Holly, ich träume schon seit dem Tag, an dem ich in die Kommune gekommen bin davon, mit dir in ein eigenes Haus zu ziehen und eine Familie zu gründen.«

      Seine Ehrlichkeit durchströmt meine Eingeweide wie eiskaltes Wasser. Ich wäre weniger schockiert gewesen, wenn er mir mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen hätte. Ich ahne schon lange, dass Neal andere Absichten hegt, als nur mein bester Freund zu sein. Ich habe es aber immer beiseite geschoben und mir eingeredet, ich bilde es mir nur ein. Was soll ich ihm sagen? Ich möchte ihn nicht anlügen. Aber ihm wehzutun, ist genauso schwer. Ich weiß nicht, wie Liebe sich anfühlt. Vielleicht liebe ich ihn ebenfalls? Bedeutet Liebe, gerne mit jemandem zusammen zu sein? Dann ist es wohl so. Oder ist es mehr? Woher soll ich das wissen? Flüchtig schweifen meine Gedanken ab. Ich versuche, mir vorzustellen, mit Neal in ein eigenes Haus zu ziehen. Es fühlt sich nicht richtig an.

      Allmählich wird die Pause zu lang. Ich muss etwas sagen. Neal sieht mich erwartungsvoll an.

      »Vielleicht sollten wir erst einmal abwarten, ob man mich überhaupt rekrutiert.«

      Es scheint nicht das zu sein, was Neal hören wollte, denn eine Falte gräbt sich zwischen seine Augenbrauen. »Weshalb läufst du vor der Entscheidung davon? Kannst du mir nicht jetzt schon sagen, ob du dir eine Zukunft mit mir vorstellen kannst?« Sein harscher Tonfall versetzt mir einen Schreck. »Was fühlst du für mich, Holly? Das ist eine ganz einfache Frage.«

      Ich habe nicht geahnt, dass ein Herz noch schneller schlagen kann, aber meines scheint sich hohe Ziele gesetzt zu haben. Stärker denn je wünsche ich mir davonzulaufen. Neal drängt mich in die Ecke. Ich hasse ihn dafür.

      Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Die Wahrheit wäre gewesen, dass ich mir wünsche, alles würde genauso weitergehen wie bisher, sollten die Obersten mich nicht zu sich rufen. Aber mir wird bewusst, dass das nicht dauerhaft möglich gewesen wäre. Ich kann nicht bei Carl, Suzie und Candice leben, bis ich alt und grau bin.

      Ich möchte gerade den Mund öffnen, um Neal zu sagen, dass auch ich mir eine Zukunft mit ihm wünschen würde, obwohl das nicht ganz der Wahrheit entsprochen hätte, als er schnaubend die Beine heranzieht und aufspringt. Ich habe zu lange gezögert.

      »Weshalb willst du unbedingt über die Brücke gehen?«, raunzt er, wobei er mich von oben herab absieht, was mir noch mehr Angst einjagt. »Woher willst du wissen, dass dort alles besser ist als hier? Hier könnten wir ein sorgenfreies Leben führen. Familien mit Kindern werden gut versorgt. Du weißt nicht, ob deine Eltern überhaupt noch leben. Und noch viel weniger weißt du, ob die Welt jenseits der Brücke wirklich das Paradies ist, das man dich glauben lässt.«

      Ich spüre, wie mir das Blut aus dem Gesicht weicht und mein Mund aufklappt, aber sagen kann ich nichts. Ich starre ihn nur an. Ich kann nicht glauben, was er sagt.

      »Du glaubst alles, was in deinen Büchern steht«, fährt Neal mit seiner Schimpftirade fort. »Schaltest du gelegentlich auch mal dein Gehirn ein? Du bist doch so schlau, oder willst es zumindest sein. Wir wissen überhaupt nicht, was sich auf der anderen Seite der Brücke befindet und niemand hat je darüber gesprochen. Kommt dir das nicht seltsam vor? Ich sage dir jetzt mal etwas: Ich war froh, dass sie mich damals nicht rekrutiert haben!«

      Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln und laufen meine Wangen hinab. Ich hasse es zu weinen, kann es aber nicht verhindern. Meine Welt bricht gerade über mir zusammen, der Boden unter meinen Füßen wird mir weggezogen. Mit einem Mal weiß ich selbst nicht mehr, was ich eigentlich will. Neal hat recht, ich weiß nicht genau, wie ein Leben in der Welt außerhalb der Barriere aussieht. Ich weiß nicht einmal, wie groß das Gebiet der Obersten ist. Es sind schon einige unser Nachbarn in den vergangenen Jahren rekrutiert worden. Einige von ihnen arbeiten heute bei der Nahrungsausgabe oder bei der Polizei, andere haben wir nie wieder gesehen. Diejenigen, die in schwarzen Anzügen in die Stadt zurückgekehrt sind, haben kein Wort mehr mit uns gesprochen, ihre Gesichter waren emotionslos. Ich habe mir geschworen, so nicht zu werden, wenn ich einer von ihnen werden sollte. Aber hätte ich das verhindern können? Was geschieht mit den Menschen jenseits der Barriere?

      Jetzt weine ich ganz hemmungslos, meiner Kehle entweicht ein Schluchzen. Neal knurrt wütend.

      »Ich bin diese verdammte Scheißstadt satt!«, brüllt er über die Wasseroberfläche. Ich hoffe, keiner der Obersten hat ihn gehört. Die Polizei geht nicht zimperlich mit jenen um, die das System infrage stellen.

      Neal tritt gegen einen losen Brocken Teer, der aus der Straße herausgebrochen ist. Er fliegt weit und landet mit einem dumpfen Plopp im Wasser. Ehe ich begreifen kann, was er tut, springt er mit einem beherzten Sprung hinterher. Er taucht unter und macht ein paar Schwimmzüge unter Wasser. Ich schnappe geräuschvoll nach Luft. Was tut er denn da? Es ist verboten, in diesem Gewässer zu schwimmen, dazu ist einzig ein See im großen Park freigegeben worden.

      Neal taucht wieder auf und schwimmt mit großen Zügen vom Ufer weg, ohne sich nach mir umzudrehen. Ich springe auf.

      »Neal! Komm zurück! Was machst du denn da? Das ist verboten!«

      Er antwortet mir nicht, sondern scheint nur noch schneller zu schwimmen. Es sieht aus, als steuere er auf die Insel der grünen Dame zu. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm dabei zuzusehen.

      Nach endlosen Minuten werden seine Schwimmzüge behäbiger. Er wird es niemals schaffen, die anderthalb Meilen bis zur Barriere zu schwimmen. Weshalb sollte er auch? Im Norden der Stadt, wo es kein Wasser gibt, kann man die Barriere aus der Nähe sehen. Dort gibt es nur Zäune, die das Stadtgebiet begrenzen, die wenige Yards vor dem Energieschild dafür sorgen, dass niemand den Sicherheitsabstand überschreitet. Als Kind habe ich einmal versucht, einen Stein durch den Schild zu werfen, aber er ist davon abgeprallt wie von einer Gummiwand. Grelle Blitze zuckten über den Schild, das Surren war ohrenbetäubend laut gewesen.

      Ich habe Angst um Neal. Wenn er die Barriere berührt, ist er tot, weil er einen elektrischen Schlag bekommt.

      »Neal!« Ich schreie so laut ich kann, bin mir aber nicht sicher, ob er mich hören kann. Er wird ertrinken, wenn er nicht umkehrt, denn seine Kräfte scheinen ihn zu verlassen.

      Irgendwann hört er auf zu schwimmen. Ich sehe seinen Kopf nur noch als Punkt auf der grauen Wasseroberfläche. Zuerst denke ich, er würde sich überhaupt nicht mehr bewegen. Minutenlang bleibt er auf der derselben Stelle. Dann sehe ich, wie er wütend auf die Wasseroberfläche schlägt, sodass es spritzt. Dann endlich bewegt er sich wieder auf mich zu. Mit zitternden Knien stehe ich noch lange am Ufer, bis Neal es endlich erreicht und ich ihm eine Hand reichen kann, um ihn herauszuziehen. Er bleibt erschöpft und wie tot neben mir liegen. Er sagt nichts, und ich schließe mich seinem Schweigen an. Alles, was ich hätte hervorbringen können, hätte es nur noch schlimmer gemacht. Ich lasse ihm die Zeit, die er benötigt, um sich auszuruhen, ehe wir langsam zurück nach Hause gehen. Neal zittert vor Kälte, obwohl es Sommer ist.

      Kapitel vier

       Cade

      Ich werde mich nie an den Gestank von Bars gewöhnen. Vermutlich stört mich eher der Geruch ihrer Besucher als der der Lokalität an sich. Menschliche Ausdünstungen jedweder Art, vermischt mit gepanschtem Alkohol und billigen Zigaretten. Mir selbst haftet dieser Geruch an. Nicht meiner Haut, nein, aber meiner Kleidung. Ich hätte mich in all den Jahren längst daran gewöhnen müssen, aber Fehlanzeige.

      Der Hocker unter mir knarrt, einer der Beine ist kürzer als die anderen. Ich befürchte, er könnte mir bald unter dem Hintern zusammenbrechen. Die Einwohner dieser Stadt haben ihn aus Überresten alter Möbel gezimmert, die sie unter den Trümmern hervorgezogen haben. Immerhin haben sie sich überhaupt die Mühe gemacht, Sitzmöbel anzufertigen. Das sollte man ihnen hoch anrechnen. Die meisten Besucher hocken jedoch auf dem nackten Steinboden und lehnen sich an die kahlen grauen Wände, von denen der Putz bröckelt. Tische sucht man hier ebenfalls vergeblich.

Скачать книгу