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Eva und das Paradies. Dominik Rüchardt
Читать онлайн.Название Eva und das Paradies
Год выпуска 0
isbn 9783738009972
Автор произведения Dominik Rüchardt
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Ansonsten war Zhaoming Chiang eher ein Radikaler. Einer, dem es nichts oder nur wenig ausmachte, eine Ordnung in Frage zu stellen und den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, der diesen oft nicht angenehm war. Im Laufe seines Lebens war er milder geworden. Sein zorniges, oft moralisches Wesen, das auch dafür gesorgt hatte, dass er aus seiner amerikanischen Heimat auswandern musste, hatte sich zu einer lebensfroheren Haltung gewandelt, darüber war er sehr dankbar. Er war nun freier, hatte aber, und das war ihm wichtig, nichts von seiner Scharfzüngigkeit verloren, seiner wohl wichtigsten Waffe. Inzwischen konnte er sie aber einsetzen, ohne andere zu verletzen, denn er hatte gelernt, seine Mitmenschen zu mögen, auch wenn die völlig andere Positionen vertraten als er.
Zhaoming Chiang war hier vor fast 10 Jahren angekommen, nachdem er seinen Posten in Dakota aufgeben musste. Die Aufspaltung der Vereinigten Staaten von Amerika hatte zu einer fundamentalistisch religiösen mittleren Staatengemeinschaft geführt, in der für seinesgleichen kein Platz mehr war. Allmählich war der Schmerz verheilt, den der Bruch hinterlassen hatte. Nicht nur sein Job war weg, auch seine junge Liebe kam nicht mit. Wer weiß, vielleicht hätten sie inzwischen kleine indianisch-chinesische Kinder gehabt.
Er war auf Philosophie und Religionsgeschichte spezialisiert und vertrat eine strikte Nichteinmischung von Religion in die Politik. Er galt als unbequem, vor allem wegen der Anfeindungen, die er in seiner amerikanischen Heimat ausgelöst hatte. Aber die Region Wien hatte die Absicht, an ihre Geschichte als Vermittlerin der Kulturen anzuknüpfen, und ihm einen Vertrag angeboten. So hatte er ohne Zeitverzug den dreimonatigen Integrationskurs vollziehen können, sich in die Arbeit gestürzt und leitete nun, als Chinese amerikanischer Abstammung in Europa, unter anderem den Kurs für afrikanische Philosophie an der Wiener Philosophieschule. Und nebenbei war er deren Direktor.
Der Pferdekutscher, den sie gerade langsam überholten, schimpfte auf sie. Das Fahrradrikschageschäft war für diese Kutscher eine ernsthafte Konkurrenz geworden und sie beriefen sich auf ihre jahrhundertealte Tradition, die mit dem typischen Klappern der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster, das sich im Echo der wuchtigen Häuserschluchten verstärkte, ja auch bedeutsam war. Dennoch bevorzugte er diese Alternative. Insgeheim vielleicht, weil er von der Abstammung Chinese war, vordergründig eher, weil er fand, es sei die korrektere Transportmethode, auch wenn die Rikschas durchgehend eine elektrische Antriebsunterstützung besaßen. In Wirklichkeit mochte er diese reduzierte Form, bei welcher der Rikschafahrer sich anstrengte für seine Dienstleistung, für die er auch gut bezahlt wurde. Er fand, Rikschafahrer waren wesentlich fröhlichere Menschen als Kutscher, die in der Regel mürrisch und bewegungslos auf ihren Kutschböcken saßen. Außerdem fand er , dass auch Pferde Anspruch auf individuelle Freiheitsrechte hätten und dass es keinen Grund gäbe zu behaupten, es mache ihnen Spaß, mit Scheuklappen vor eine Kutsche gespannt herumzulaufen und dabei den eigenen Kot in Windelsäcken herumzutragen, damit die Straße nicht verschmutzt wurde.
Während er noch über seine Fahrt nachdachte, waren sie bereits an der Philosophieschule angekommen, er zahlte, stieg aus und ging, heute ausnahmsweise, über den Haupteingang hinein.
In der Eingangshalle öffnet er den altmodischen Glaskasten mit den Aushängen und hängte zwei Zettel auf: einen für sein nächstes Blockseminar, den anderen für das Fortgeschrittenenseminar zum Wiederaufstieg Afrikas.
Gerade als er den Kasten schloss, tönte von hinten eine bekannte Stimme: „Na, was haben Sie denn für Neuigkeiten, Herr Professor Chiang?“
Zhaoming Chiang drehte sich um. Der Bildungsbeauftragte der Region Wien, mit dem er für diesen Morgen verabredet war, ragte hinter ihm auf. Wie immer im graugrünen Anzug, mit korrekt gescheiteltem grauen Haar und einen halben Kopf größer als er.
„Guten Morgen Herr Doktor Homolka.“ Er reichte ihm die Hand und landete in der drucklos weichen Hand Homolkas, während der den Aushang studierte. Er schluckte die Unhöflichkeit herunter. Er wusste, dass Herr Homolka ihn eigentlich schätzte. Ein Bilderbuchwiener, freundlich, schwammig und titelversessen.
„‚Vertrauen, Würde und Identität als Grundlage der Gesellschaft‘, das lehren Sie Ihre Studienanfänger?“
„Ja, auf dieses Seminar freue ich mich besonders. Wir werden herausarbeiten, wie diese drei Begriffe eine Gesellschaft bestimmen und was es bedeutet, wenn sie verloren gehen.“
Homolkas fragender Blick sprach Bände. Ganz professoral setzte er nach: „Es geht dabei auch um Ordnungsprinzipien, staatliche wie die Demokratie, wirtschaftliche wie das Geldsystem oder gesellschaftliche wie die Regelung des Alltags durch überwachende Systeme. Wir stellen dabei immer die Eigenverantwortung dem Ordnungsprinzip gegenüber und diskutieren das. Oft verliert dabei allerdings die Ordnung.“ Zhaoming lächelte das Lächeln eines Gelehrten.
„Na, dann hoffen wir aber, dass Sie uns da nicht lauter kleine Revolutionäre aufziehen.“
„Das kann ich Ihnen nicht garantieren“, antwortete Zhaoming trocken. „Ein wenig Veränderung können wir aber doch immer mal wieder gebrauchen, oder?“
„Oh, Herr Professor, seien Sie vorsichtig“, Homolka wedelte warnend mit der Hand. „Aber vielleicht sollten wir in Ihr Büro gehen.“
Zhaoming führte Herrn Homolka die Treppe hinauf in sein Büro und sie setzten sich den kleinen Besprechungstisch. Umständlich holte Homolka aus:
„Wie Sie wissen, Herr Professor, ist der Region Wien sehr daran gelegen, das Bild der Stadt als Kulturzentrum Europas weiterzuentwickeln. Wir möchten aus unserem über hundertjährigen Dornröschenschlaf aufwachen und an die Glanzzeiten anknüpfen, die uns einst groß gemacht haben.“
„Da sind wir ja schon auf einem guten Weg, Wien hat sich doch schon völlig neu aufgestellt. Ein Reifeprozess abseits der politischen Seilschaften Europas, gleichzeitig immer die gute Vernetzung in den Osten und zu den Vereinten Nationen.“ Zhaoming lobte Wien bewusst, schon um Herrn Homolka eine Freude zu machen: „Wien hat heute einen Ruf als freigeistige Kulturmetropole und Schmelztiegel für neue Ideen. Nach der Abspaltung Großbritanniens von Europa werden wir London bald von alleine den Rang ablaufen.“
„Ja, da mögen Sie Recht haben, doch um wieder das Zentrum für Wissenschaft und Politik zu werden, können wir noch einiges tun. Und darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.“ Homolka drehte sich direkt zu Zhaoming. „Das Konzept der Philosophieschulen gilt als Wiener Erfindung, und ich muss sagen, es ist ein Erfolgskonzept, viele Abgänger dieser Einrichtung belegen das. Wir haben nun die Möglichkeit, dieses Konzept europaweit einzuführen, und würden, da wir das Urmodell sind, einen europäischen Exzellenzstatus erhalten, als Leitbild für alle anderen Schulen. Das wäre für Stadt und Region ein wichtiger Schritt, den wir auf jeden Fall gehen wollen.“
„Bedeutet das auch, wir werden der Europäischen Kommission für Erziehung unterstehen?“, bei Zhaoming läuteten die Alarmglocken.
„Das könnte natürlich eine Folge sein. Wir sind derzeit in Verhandlung, wie das Modell genau aussehen soll. Es geht dabei auch um Zulassungsbedingungen und all diese Dinge. Wir haben als Urmodell natürlich ein Recht auf Mitsprache.“
Zhaoming reagierte gereizt. „Sie wissen schon, dass die Philosophieschule ihren Auftrag an jedem einzelnen Schüler persönlich versteht.