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      „Ich möchte Ihnen heute eine der interessantesten politisch-kulturellen Begebenheiten der jüngeren Geschichte erläutern, die gleichzeitig zu den umstrittensten gehört.“

      Zhaoming Chiang blickte in die Reihen der Studenten der Wiener Philosophieschule und freute sich auf die Vorlesung, die um eines seiner Lieblingsthemen ging.

      „Wie Sie alle wissen, ist der afrikanische Kontinent eine der am besten gedeihenden Wirtschaftsregionen der Welt. Die Wachstumszahlen sind unvergleichlich, die Biostabilität schlägt alle anderen Regionen und der Zufriedenheitsindex liegt mehr als 20% über den Kontinenten der Nordhalbkugel und damit mehr als 50% über Kerneuropa.

      Viele unserer Medien sagen, das liege an den Bodenschätzen und der Klimaverschiebung, die Afrika angeblich begünstigt, sowie an der extremen Landhöhe des Kontinentes, die trotz der Äquatorlage auch dort für ein moderates Klima sorgt. Es ist aber weit komplizierter. Noch vor 50 Jahren war der Großteil Afrikas bitterarm und von korrupten Banden regiert. Immer wieder brachen Seuchen aus, der Kongo lag an letzter Stelle der Armutsliste aller Länder und in den großen Ländern, auf der Nordseite des Äquators, war das Töten Alltag. Afrika galt als der verlorene Kontinent, der auch in den Regionalaufteilungen großer Konzerne nur als Anhängsel des arabischen Raumes auftauchte.

      Das Interessante ist, dass Afrika diese Rolle seit vielen Jahrhunderten hatte, vielleicht sogar Jahrtausenden. Der Kontinent war anscheinend dauerhaft im Armutsschicksal festgefahren. Die Sklavengeschichte in den Vereinigten Staaten von Amerika kennen vermutlich die meisten von Ihnen. Die Geschichte begann jedoch viel früher. Schon in der Römerzeit war der Homo Africanus als Sklave beliebt, und allen voran hielten sich die Ägypter der Pharaonenzeit gerne tiefschwarze Menschen aus dem südlichen Afrika als Dienstvölker.

      Nun wissen Sie vermutlich auch, dass die Wiege der Menschheit eben in Afrika lag.“

      Zhaoming ging vom Pult fort und schritt vor der Tafel auf und ab, im Erzählen weit ausholend.

      „Irgendwann vor hunderttausend oder mehr Jahren sind affenähnliche Wesen aus dem Wald in die Savanne und damit in gefährlichere Gebiete geraten. Durch den hohen Druck äußerer Gefahren entwickelte sich aus ihnen in relativ kurzer Zeit eine Art, die aufrecht ging, und dadurch einen besseren Überblick hatte, ein strategischer Vorteil. Der wurde aber mit dem Preis bezahlt, dass alle, die diesen Überblick nur für sich alleine nutzen wollten, bald, als leichte Beute, von Löwen gefressen wurden. Diejenigen, die überlebten, hatten die gemeinsame Eigenschaft, sich in der Gruppe organisieren zu können, und so Feinde zu besiegen, gegen die sie alleine niemals eine Chance gehabt hätten.“

      Einer der Studenten ahmte Löwengebrüll nach und die Klasse lachte. Doch Zhoming ging nicht darauf ein. Beide Arme breit aufs Pult gestützt, doch im Ton weniger dozierend als vorher, fuhr er fort:

      „Die Gruppenkompetenz war der entscheidende Durchbruch. Und dabei war die wichtigste Entwicklung die Sprache. Sie diente nicht nur der Verständigung mit anderen, sondern bewirkte auch das Nachdenken über sich selbst, und damit das Lernen. Diese Menschen waren so einfallsreich und handlungsfähig, wie nie zuvor ein Wesen, und in der Gruppe waren sie nahezu unbesiegbar.

      So lebten die afrikanischen Menschen über Jahrtausende zwischen Steppe, Dschungel und Waldgebiet und entwickelten ein sehr stark ausgeprägtes Gruppenwesen, in dem sich jeder einzelne vollständig als Teil seiner Gruppe oder seines Dorfes erfuhr.

      Irgendwann spaltete sich, aus Gründen, die wir nicht kennen, eine Gruppe ab. Diese Gruppe landete in der feindseligen Wüstenregion Südägyptens, bewegte sich den Nil herunter nach Norden und siedelte sich dort an. Der Weg dorthin muss von schlimmen Bedrohungen und Spannungen geprägt gewesen sein, denn das Volk, das schließlich in Nordägypten ankam, war sehr viel härter und brutaler als seine Vorfahren im mittleren Afrika.

      Wir wissen wenig über die Zeiträume, aber wir wissen, dass sich dieses Volk immer wieder teilte. In Gruppen, die blieben, und welche, die weiterzogen. Und dass die jeweils Dagebliebenen lange Kulturphasen durchmachten, während die, die weiterzogen, gegen ständig neue Gefahren ankämpfen mussten. Mit dem Ergebnis, dass nur eine kleine Auswahl der Härtesten ein neues Volk in einer neuen Heimat gründete. So entstanden über die Jahrtausende die Europäer, die Araber, die Turkvölker, die Ostasiaten, die Eskimos und die Indianer …“

      Mit einer Geste deutete Zhaoming die Fortsetzung der Aufzählung an, hielt aber im Vortrag inne und setzte neu an:

      „Auffällig ist, dass in dieser Entwicklung häufig die abgewanderten Völker die zurückgebliebenen erobert und unterdrückt haben. Die Ägypter die Schwarzafrikaner, die Griechen die Ägypter, die Römer die Griechen, die Mitteleuropäer die Römer, die Amerikaner die Europäer ... und alle natürlich, in der Reihe zurück, alle vorherigen auch. Der Afrikaner galt dabei lange Zeit als natürlicher Untermensch.

      Zur Jahrtausendwende hatten wir ein historisches Phänomen: 500 Jahre nach Columbus mussten wir endgültig zugeben: die Erde ist eine Kugel. Und beim Umrunden kommen wir irgendwann wieder da an, wo wir losgegangen sind.

      Das war das abrupte Ende des Auswanderungsprinzips. Es hatte jahrhundertelang so funktioniert, dass es immer, außerhalb des eigenen Raumes, ausbeutbares Neuland gab. Und auch als es gar keines mehr gab, ging es noch einige Zeit so weiter: ein interessantes Beispiel ist die Geldkrise des frühen Jahrtausends, als versucht wurde, dieses Ende durch virtuelles Neuland künstlich zu verschieben. Vermeintliche Wirklichkeiten wurden in der Finanzwelt erzeugt, verwegene Konstruktionen, in die investiert werden konnte und die große Reichtümer versprachen.

      Eigentlich ein altes Prinzip. Die Paradiesversprechen der großen Religionen liefen schon nach dem gleichen Muster. Doch ich schweife ab, dazu kommen wir später.

      Wichtig für uns ist das Ende dieser Geldkrise. Im Jahr 2032 wurde der Geldverkehr wieder an echte Güter gebunden. Das wird neuerdings als Zeitwende gesehen. Ob das wirklich so bedeutend war, werden die Historiker allerdings frühestens in 50 Jahren beschließen, das ist die Mindestfrist für die Anerkennung als Epoche.

      Etwa zu diesem Zeitpunkt setzte aber auch die afrikanische Wende ein. Vielleichte etwas früher.

      Historisch gesehen war das Abkommen über das afrikanische Grundeigentum das wichtigste Ereignis, das alles Kolonialeigentum, bis hin zu den chinesischen Landkäufen, rückgängig machte. Daneben die afrikanische Handelsunion, die sich international weitgehend isolierte, und die afrikanische Verfassung. Aber meiner Ansicht nach viel grundlegender sind einmal die afrikanischen Sozial- und Standesgesetze und, allem voran, die Vereinigten Afrikanischen Religionen − und das ist, worauf ich hinaus will.

      In den 20er-Jahren, nach einer unglaublichen Welle der Gewalt nördlich des Äquators und einer unkontrollierten Seuchen- und Gebärwelle auf der Südseite, hat sich eine große Gruppe junger Leute formiert. Die sogenannte Elfenbeingruppe. Sie kamen aus dem Dunstkreis der internationalen Universitäten in Arabien und Afrika oder hatten einfach, durch neue Technologien und Eigeninteresse, Zugang zu Bildung. Sie einte die Erkenntnis, dass das Kernproblem Afrikas in der kulturellen Fremdbestimmung lag, die von den Ägyptern begonnen wurde und über Sklaverei und Kolonialzeit durchgängig bis zu den Christen im Süden und den Muslimen im Norden stattgefunden hat.

      Diese Gruppe hat damals angefangen, an einem afrikanischen Bewusstsein zu arbeiten. Ein Bewusstsein, das den Charakter Afrikas darstellt und sich von den über Jahrhunderte auferlegten Normen abgrenzt.

      Tatsächlich war dieses Bewusstsein niemals wirklich verloren gegangen.

      Die Menschheit war in ihrer Geschichte immer wieder sehr grausam. Und zu Afrika besonders. Sie kamen als Fremde, mit Waffen, mit Regeln, die alles aus den Angeln hoben. Sie verschleppten Menschen und vergewaltigten, zwangen ihnen einen Glauben auf, der sie, die Fremden, zu den Herrschern machte.

      Die Christianisierung Europas im Mittelalter verlief ähnlich und hat nichts ausgelassen. Völker wurden ermordet oder umerzogen. Ebenso die Unterdrückung der amerikanischen Ureinwohner, oder der Australischen, beide wurden verdrängt. In Afrika war es dagegen immer nur Unterdrückung. Und es ist tatsächlich bemerkenswert, dass dabei eine afrikanische Urkultur überlebt hat, die sich irgendwann wieder restaurieren

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