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Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag. Gerhard Ebert
Читать онлайн.Название Wie der Fünfzehnjährige den Krieg überlebte und einer Hoffnung erlag
Год выпуска 0
isbn 9783738002348
Автор произведения Gerhard Ebert
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
„Damen und Herren, haben Sie schon die neuesten Nachrichten gehört?“
Die Frage erstaunte die Klasse maßlos, denn Herr Pfister hatte früher nie auch nur irgendeine Lippe riskiert, schon gar nicht über neueste Nachrichten, sondern hatte Jahr für Jahr so stur wie leidenschaftslos sein Fach absolviert und konsequent nur über Biologie, über Menschen, Tiere oder Pflanzen gesprochen. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er jetzt grimmig fort:
„Ich sage Ihnen, wenn Sie hören, was die Nationalsozialisten in Buchenwald und in Auschwitz verbrochen haben, werden Sie Gott danken, dass die Alliierten diese Mörder endlich zum Teufel gejagt haben!“
Niemand in der Klasse rührte sich, alle staunten und machten große Augen. Ratloses Schweigen.
„Haben Sie wirklich keine Ahnung?“ fragte er jetzt vorwurfsvoll in die Stille hinein. Niemand rührte sich.
„Lassen Sie sich gesagt sein, Damen und Herren...“, rief er, unterbrach sich aber, klopfte zur Bekräftigung mit dem Zeichenstock wütend gegen das Pult, und fuhr fort:
„...diese ungeheuren Verbrechen in deutschem Namen werden das deutsche Volk ewig verfolgen! Ewig! Ewig!“
Nach diesen Worten nahm der alte Herr, der soeben noch viel älter geworden zu sein schien, Platz hinterm Pult, stützte seinen Kopf in die Hände und starrte über die Schüler hinweg ins Leere. Kaum verständlich, aber wegen der Stille dennoch gut vernehmbar murmelte er:
„Schande, ein Deutscher zu sein! Schande!“
Quälende Ruhe im Klassenraum. Jeder duckte sich hinter seinem Vordermann weg, weil er fürchtete, von dem Alten aufgerufen zu werden. Aber der schwieg jetzt, schwieg beharrlich als sei er zur Salzsäule erstarrt. Die ungewohnte, angespannte Stille war jetzt wie eine schwere Last. Man wagte nicht, sich zu rühren, geschweige denn dem Nachbarn etwas zuzuflüstern. Endlich fasste sich der Klassenprimus ein Herz. Uwe Stübe hob die Hand, wartete nicht auf des Lehrers Reaktion, sondern fragte scheu und leise:
„Entschuldigung, Herr Pfister, was ist passiert?“
Das war grundehrlich gemeint, wirkte aber wie eine Provokation. Prompt schoss wieder Leben in den alten Mann.
„Was passiert ist?“ tobte er laut. „Was passiert ist? Wo lebt ihr denn? Hört ihr keine Nachrichten? Die Nazis haben Hunderttausende unschuldige Menschen in Konzentrationslagern umgebracht, Juden, Kommunisten, Christen, Sozialdemokraten, Zigeuner! Es ist unfassbar! Es ist unfassbar!“
Und übergangslos, leise jetzt, aber sehr bestimmt, sagte er unerwartet:
„Schluss für heute! Geht nach Hause, Rotzlöffel! Hört Nachrichten!“
Zitternd vor Erregung raffte er seine Utensilien zusammen, eilte zur Tür, drehte sich aber abrupt noch einmal um und rief laut in die Klasse zurück:
„Nie wieder Faschismus! Das sage ich Euch! Nie!“
Und raus war er. Ein Moment der Lähmung folgte, die ganze Klasse war total geschockt. Aber, wie Uwe schien, weniger wegen der Nachricht, mehr wegen des ungewöhnlichen Verhaltens des alten Mannes. Jetzt brach Gelächter los. Uwe war nicht wohl dabei. Er mied jeden Disput, packte hastig seine Tasche und verließ Klassenzimmer und Schule. So schnell wie diesmal war er wohl noch nie zu Hause und am Radio. Er musste nicht lange einen Sender suchen. Stumm hörte er sich alles an.
Mittlerweile war Vater gekommen.
„Hast du das gewusst?“ fragte der Sohn fasst ein bisschen vorwurfsvoll und schaute ihn mit großen Augen durchdringend an.
„Schalt erst mal ab“, sagte der Vater und griff sich ein Bier. Mutter putzte irgendwo auffällig emsig herum, sie schien ein schlechtes Gewissen zu haben.
„Weißt du“, sagte Vater jetzt irgendwie gequält, Wort für Wort mühsam abwägend, „weißt du, manchmal wurde so etwas gemunkelt, von Buchenwald und so, von Lagern. Aber Genaues konnte man nicht erfahren. Es war zu gefährlich. Weißt du! Sonst wäre man auch da gelandet.“
„Ist ja entsetzlich“, sagte Uwe, „entsetzlich!“
Mehr wusste er im Moment auch nicht zu sagen. Vater kippte Bier, noch einen Schluck, noch einen Schluck, wie als wolle er Zeit gewinnen, dann setzte er die Flasche ab und ergänzte:
„Es darf einfach nie wieder passieren. Nie wieder! Hörst du?“
„Wir Deutsche, wir Deutsche!“ sagte jetzt Mutter wehleidig, und es war nicht recht zu verstehen, wie sie das meinte.
Nun berichtete Uwe, noch immer ziemlich fassungslos, wie ganz anders er heute seinen alten Biologie-Lehrer erlebt hatte. Dass der völlig von der Rolle war.
„Ja, die Deutschen“, sinnierte jetzt Vater. „Ich traue ihnen alles zu, alles, auch in Zukunft.“
„Was?“ wollte Uwe wissen, „was alles traust du ihnen zu?“
Statt zu antworten, griff Vater verzweifelt die leere Bierflasche, als wolle er sie gegen die Wand donnern, und sagte:
„Das Volk ist eine Hure, es will verführt werden!“
Uwe musste ein sehr erstauntes Gesicht gemacht haben, denn Vater fügte sofort hinzu:
„Wenn du verstehst, was ich meine!“
Doch Uwe verstand nicht, schaute nur erstaunt.
„Lass es gut sein“, winkte Vater ab, „für heute reicht es! Die Hauptsache, du lernst ordentlich in der Schule.“
„Ja, ja“, versprach Uwe irritiert. Immerhin hatte er heute ein ernstes Gespräch mit Vater geführt, wie es zwischen ihnen aus welchen Gründen auch immer noch nie zustande gekommen war.
Lange, lange lag er an diesem Abend wach im Bett, versuchte die entsetzlichen Nachrichten irgendwie in ein menschliches Bild zu bringen. Aber es gelang ihm nicht. Und die Verbindung zwischen Volk und Hure schien ihm ganz und gar rätselhaft. Bislang hatte er gedacht, dass eine Hure Männer verführt und nicht von ihnen verführt wird oder gar verführt werden will. Aber das ganze Volk? Dennoch schien etwas dran zu sein an Vaters Meinung.
Uwe erinnerte sich an ihr Gespräch, als er Tage später im Kino in der Wochenschau entsetzliche Bilder zu sehen bekam von Konzentrationslagern, von ausgemergelten Menschen hinter Drahtzäunen, von Bergen von Leichen. Wie verführt musste das deutsche Volk gewesen sein, dass es solche Unmenschlichkeit geduldet hatte! Uwe saß gebannt auf seinem Sessel im Dunkel des Kinos. Keine Reaktion im gut gefüllten Saal, er schien völlig allein. Ein unbestimmtes Gefühl ergriff ihn, eine Welle von Solidarität mit den unschuldigen Menschen da oben auf der Leinwand. Nie wieder! schwor sich der inzwischen Fünfzehnjährige. Nie wieder!
10. Kein Feuer, keine Kohle
Sobald Gelegenheit war und Zeit dafür, streifte Uwe auf der Suche nach der großen Unbekannten durch die Straßen seiner Heimatstadt. Erfolglos. Aber: Unerwartete Überraschung, als er faulenzend zu Hause aus dem Fenster guckte.
Eigentlich war das langweilig, nur so aus dem Fenster zu schauen, aber in der Kleinstadt ein beliebter Brauch. Irgendwie war es eine Abwechslung. Man sah diese oder jene, die unten auf der Straße lang kamen und die man kannte. Wenn es Nachbarn waren, musste man artig "Guten Tag" sagen. Manche Leute kamen immer wieder zu ganz bestimmter Zeit daher. Nur selten geschah wirklich etwas Außergewöhnliches. Aber diesmal!
War doch plötzlich ein weibliches Wesen um die nahe Ecke gebogen, das ihm mit seinem wiegenden, lockeren Schritt prompt das Blut pochend durch alle Adern jagte. Das geschah unabwendbar und unfassbar, noch bevor er wirklich genau hatte sehen können, dass es sich tatsächlich um das Fräulein handelte, das ihm nun schon seit Wochen überhaupt nicht wieder aus