Скачать книгу

einen Blick nach hinten auf Neal riskieren, aber ich fürchte, 3-33 würde mich dann wieder anschreien. Mein Kopf dröhnt ob des Schlafmangels ohnehin schon mit steigender Intensität.

      Wir befinden uns in einem Raum außerhalb des Hauptgebäudes. Ein Mann hat mich heute morgen wortlos durch das akkurat angelegte Straßensystem der Zentrale hierher geführt. Schon nach wenigen Biegungen habe ich die Orientierung verloren, weil alles gleich aussieht. Es ist unmöglich, sich die Umgebung anhand prägnanter Wegpunkte einzuprägen. Ich muss mich daran gewöhnen, Kreuzungen zu zählen. Das nehme ich mir für den Rückweg vor.

      Als ich den Raum betreten habe, haben Shelly und Neal bereits auf ihren Plätzen gesessen. Das Mädchen wollte sofort aufspringen und mir entgegen laufen, aber der Ordnungshüter, der mich hergeführt hat, hat sie grob wieder auf ihren Platz gedrückt und sie derartig böse angesehen, dass Shelly keinen Versuch mehr gewagt hat, sich von der Stelle zu bewegen.

      »Da wir nun vollzählig sind -«, fährt 3-33 fort, deren Nummer ich im Übrigen nur anhand des Schildes über ihrer Brust kenne. Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, sich vorzustellen. Ich frage mich, wie sie wirklich heißt. »- kann ich endlich damit beginnen, Ihnen die Regeln unseres künftiges Zusammenlebens zu erläutern, damit alles seinen gewohnten Gang geht.« Sie hebt den Blick und deutet ein verkniffenes Lächeln an, das aber eher wie das Schneiden einer Grimasse auf mich wirkt, als wüsste sie nur aus Büchern, wie man lächelt. »Für gewöhnlich halte ich diesen Vortrag nicht zwei Mal in einer Saison, aber die Umstände verlangen es von mir.«

      Umstände. Wie sie das sagt! Ich komme mir mehr denn je überflüssig vor. Wir sind Nachzügler, ja, aber das hat sich niemand von uns so ausgesucht. Die anderen Rekruten haben schon vor über einer Woche ihre Einweisung bekommen. Inklusive Suzie, die an meiner Statt hier gewesen ist ... Ich frage mich, was aus ihr geworden ist.

      »Ich mache es kurz und knapp.« Die Oberste sieht geradeaus, an uns allen vorbei. Wie ein Roboter, schießt es mir in den Kopf. »Die Zimmer, die Ihnen gestern Nacht zugeteilt wurden, werden Ihr Zuhause sein für die Zeit, in der sie dem System dienen, was heißt: bis zu Ihrem Tod.«

      Oh ja. Also mit ungefähr dreißig. Ich erinnere mich nicht gerne an das, was Cade mir erzählt hat. Plötzlich wird mir ganz heiß. Ich möchte dieses schreckliche Serum nicht verabreicht bekommen, das mich in einen von ihnen verwandelt. Das Blut rauscht in meinen Ohren und ich habe große Mühe, den Worten der Dame überhaupt noch zu folgen.

      »Wir tragen alle dieselbe Einheitskleidung. Ihnen stehen drei komplette Sets zur Verfügung. Verschmutzte Kleidung legen Sie bitte in die Plastikkiste und stellen diese vor Ihre Zimmertür. Jemand sammelt sie ein und bringt sie auch wieder zurück. Aber das kennen Sie ja alles schon aus der Stadt.« Wieder dieses künstliche Lächeln. Ich kann mich kaum noch auf meinem Platz halten. Alles in mir schreit danach, einfach aufzuspringen und zu flüchten, aber ich weiß, dass das keine Lösung ist. Wir kommen hier nicht heraus. Mit Unbehagen denke ich an die mit Stacheldraht gespickte Mauer, die die Zentrale umgibt.

      »Gegessen wird jeweils um sieben, um dreizehn und um neunzehn Uhr im Speisesaal, der Ihnen noch gezeigt wird. Heute ist eine Ausnahme. Das Frühmahl werden Sie nachher auf Ihren Zimmern einnehmen, weil sie es heute verpasst haben. Niemand in unserer Gemeinschaft besitzt mehr oder weniger als ein anderer. Es besteht kein Grund, jemandem sein Eigentum zu neiden. Solche Eigenschaften werden Sie ablegen müssen. Damit unser Zusammenleben funktioniert, geht jeder einer geregelten Arbeit nach, die Sie zugeteilt bekommen. Neue Rekruten arbeiten zunächst in Klasse drei, das heißt, dass Sie innerhalb der Zentrale im Wäschereibetrieb, als Reinigungskraft, in der Küche oder als Hilfsarbeiter jedweder Art eingesetzt werden. Manchmal werden Klasse-drei-Arbeiter auch in die Stadt geschickt, um dort niedere Arbeiten zu verrichten. Das allerdings erst, wenn sichergestellt werden kann, dass Sie ihr früheres Leben hinter sich gelassen haben und loyal zum System stehen. Später ist es möglich, in Klasse zwei aufzusteigen. Diese Klasse macht den Großteil aller Bewohner unserer Zentrale aus. Klasse-zwei-Arbeiter besetzen die medizinischen Stationen und die Patrouillen innerhalb Manhattans.«

      Ich stutze kurz. Sie weiß also, wie man meine Stadt nennt?

      »Außerdem zählen zu den Arbeitern der zweiten Klasse unsere Haustechniker und auch die Feld- und Fabrikarbeiter, die außerhalb New Yorks für Nahrungsmittelnachschub sorgen. Mehr müssen Sie einstweilen nicht wissen.«

      »Gibt es Klasse-eins-Arbeiter?« Es ist Shellys leise und piepsende Stimme aus dem hinteren Teil des Raumes. Trotz der Mahnung von 3-33 drehe ich mich noch einmal zu ihr um. Sie sitzt noch immer zitternd wie ein Häufchen Elend auf ihrem Stuhl. Sie ist blass. Dann irrt mein Blick zu Neal schräg hinter mir. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine lässig ausgestreckt, zwischen seinen Augenbrauen hat sich eine Falte gebildet. Er starrt ernst und konzentriert nach vorne, ohne mir einen Blick zu schenken.

      3-33 räuspert sich. »Aber natürlich gibt es Klasse-eins-Arbeiter, Schätzchen. Aber diese Klasse werden Sie nicht erreichen, zumindest nicht innerhalb der nächsten fünf bis acht Jahre. Das sind die Wissenschaftler, Laboranten und natürlich unsere Führer. Sie können von Glück reden, wenn sie denen jemals über den Weg laufen, also verschwenden Sie keinen Gedanken an diese Klasse, okay?« Wieder lächelt sie so falsch. Ich kann sie nicht leiden.

      »Einen Punkt hätte ich noch auf meine Liste.« Jetzt sieht sie endlich abwechselnd jeden von uns einmal an. Ihre Augen sind eisblau und kalt, frei von jeglicher Emotion. Wieder muss ich an Cades Worte denken, nach denen die V23er nichts anderes als mit Acraiblut verseuchte Menschen sind, die irgendwann die Fähigkeit verlieren, zu fühlen. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter.

      »Direkt zu Anfang Ihrer Karriere in der Zentrale werden Sie geimpft.«

      Ich ziehe fragend die Augenbrauen zusammen, weil ich absolut nicht verstehe, wovon sie spricht. Sie macht eine wegwerfende Handbewegung. »Nur eine kleine medizinische Notwendigkeit. Sie werden dadurch frei sein von Krankheiten und Seuchen, außerdem wird es Ihnen immer gut gehen. Ein wunderbarer Zustand! Das Mal auf ihrem linken Arm, das die Impfung mit sich bringt, ist ein Zeichen von hohem Ansehen. Je größer es wird, desto mehr wird man Sie respektieren.« Zur Demonstration krempelt sie ihren linken Ärmel auf und offenbart die schwarzen verschlungenen Linien auf ihrem Unterarm. Ihr Mal reicht schon bis über den Ellenbogen. Ob sie weiß, dass sie sterben wird, wenn es ihr Herz erreicht hat? Wie kann sie es als Ehre bezeichnen?

      Ich fühle mich herausgefordert. Was habe ich zu verlieren, wenn ich ihr etwas auf den Zahn fühle? Es ist der Mut einer Verzweifelten, der mich antreibt. »Wie lange werden wir arbeiten?«

      3-33 hebt fragend die Augenbrauen, als könne sie es nicht fassen, dass ihr eine Frage gestellt wurde. Dann setzt sie wieder ihr altbekanntes Kunstlächeln auf. »Von acht bis achtzehn Uhr an sechs Tagen in der Woche.«

      »Nein, das meinte ich nicht. Bis zu welchem Alter müssen wir arbeiten?«

      Ich sehe etwas in ihren Augen aufblitzen, das man als Verärgerung hätte bezeichnen können. Vielleicht auch Geringschätzung, so genau kann man das bei einem emotionalen Krüppel wie ihr nicht sagen.

      »So lange, wie Sie selbst glauben, dass Sie dazu in der Lage sind.«

      »Und was passiert mit den alten Menschen, mit den Gebrechlichen?« Ich stelle mich bewusst dumm. Ich möchte, dass sie zugibt, dass wir alle jung sterben müssen.

      »Diese Menschen leben in einem gesonderten Bereich fernab der Zentrale. Dort geht es ihnen gut bis an ihr Lebensende. Für ihre Altersvorsorge ist also gesorgt.«

      Glaubt sie das etwa wirklich? Hat man ihr das damals auch erzählt? Unmöglich, es herauszufinden.

      »Was wird mit Shelly passieren? Sie ist zu jung für eine Rekrutin, noch keine achtzehn.« Ich höre, wie Shelly hinter mir nach Luft schnappt, als würde sie weinen.

      »Das stimmt, sie ist zu jung. Zudem ist sie nicht einmal Einwohnerin von Manhattan gewesen, ehe sie hierher kam. Sie war nur die Brut von freien Rebellen.«

      Soso. Jetzt wird also kein Geheimnis mehr daraus gemacht, dass es außerhalb von New York noch etwas anderes gibt als den Energieschild. Sonst hat es immer geheißen, die Welt sei dahinter

Скачать книгу