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zu stellen.« Jetzt fährt er mich harsch an, als hätte ich ein Verbrechen begangen, weil ich eine Frage gestellt habe. Ich beiße mir auf die Unterlippe und sage nichts mehr.

      67-45 bleibt abrupt vor einer der Türen direkt vor der T-Kreuzung stehen, ich wäre beinahe gegen ihn geprallt. Wieder zieht er seine weiße Plastikkarte durch den Schlitz neben der Tür, die daraufhin nach rechts aufgleitet. Dann drückt er mir überraschend die Karte in die Hand.

      »Das wird künftig dein Schlüssel sein. Den wirst du brauchen, wenn du dich auch nur drei Yards weit im Gebäude bewegen möchtest. Er passt zu diesem Zimmer, außerdem zu einer Reihe anderer Türen. Allerdings hat der Schlüssel die niedrigste Berechtigungsstufe des Hauptgebäudes, du kannst damit weder in einen anderen Gang gelangen noch herumschnüffeln. Hast du das verstanden?« Sein Tonfall lässt jede Freundlichkeit missen. Ich nicke zaghaft. Früher habe ich immer große Ehrfurcht für jeden empfunden, der einen schwarzen Anzug trägt. Obwohl ich weiß, dass auch er nur ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, habe ich meine alten Gewohnheiten nicht gänzlich abgelegt. Seit Cade mir erzählt hat, was die Obersten in ihrer Zentrale wirklich treiben, hat sich zu der Ehrfurcht noch ein anderes Gefühl gesellt: Angst.

      67-45 bemerkt, dass ich ihn nur verständnislos ansehe, meine Finger krampfen sich um die Plastikkarte. »Morgen früh um sieben wird jemand kommen, der dich abholt. Dann erfährst du alles Weitere. Die neuen Rekruten leben sich sehr schnell ein, also hab keine Angst.« Obwohl er das sagt, hören sich seine Worte gar nicht Trost spendend an, eher genervt. »In deinem Zimmer kannst du dich ausruhen, dort findest du erst einmal alles, was du brauchst. Es ist mitten in der Nacht, ich rate dir also, noch ein paar Stunden zu schlafen.«

      Er wendet sich ab und geht den Gang hinunter. Ich sehe ihm nach und starre ihm auch noch hinterher, als er längst aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Ich höre, wie die Tür am anderen Ende des Flurs aufgleitet und sich wieder schließt. Dann ist es völlig still. Inzwischen ist auch die Tür, zu der meine Karte passt, wieder geschlossen, ohne dass ich hinein gegangen wäre. Mich durchzuckt der Impuls, noch weiter zu gehen und nachzusehen, was sich hinter der T-Kreuzung befindet. Vorsichtig sehe ich um die Ecke. Der Gang dahinter sieht genauso aus wie der andere. Dort gibt es nichts, das meine Aufmerksamkeit erregt hätte.

      Mit zitternden Fingern ziehe ich die Karte erneut durch den Schlitz, wie es auch 67-45 getan hat. Die Tür gleitet auf. Ich fasse mir ein Herz und gehe hinein.

      Ohne, dass ich etwas getan hätte, geht das Licht an. Im ersten Moment denke ich, dass noch jemand anderes im Raum ist, weshalb ich zusammenfahre. Dann leuchtet mir ein, dass es einen Bewegungsmelder geben muss. So etwas kenne ich aus den Badehäusern in Manhattan. Dort fließt automatisch Wasser, wenn jemand unter der Dusche steht.

      Der Raum, in dem ich mich befinde, ist klein und quadratisch, vielleicht das zweifache meiner Körperlänge an jeder Seite. Es gibt kein Fenster, nur das ungemütliche weiße Licht dreier runder, in die Decke eingelassener Strahler. Außerdem gibt es über mir ein Lüftungsgitter. Ich spüre einen schwachen Luftzug auf meiner Haut.

      In einer der Wände ist eine Nische, quaderförmig und etwa in der Länge eines Bettes. Das Loch in der Wand ist weniger als einen Yard tief. Dass sich darin ein weißes Kissen und eine weiße Decke befinden, bestätigt meine Vermutung, dass es sich um eine Schlafstätte handelt. Die Bettwäsche ist faltenfrei und akkurat zusammengelegt. Es gibt eine Klappe an der dem Bett gegenüberliegenden Wand. Sie hat einen runden weißen Knauf. Ich ziehe daran, woraufhin sie aufschwingt. Dahinter sind drei Regalfächer in denen schwarze Kleidungsstücke liegen, ebenfalls akkurat gefaltet. Ein in die Wand eingelassener Kleiderschrank also. Ich untersuche dessen Inhalt: schwarze einteilige Anzüge, schwarze Unterwäsche und ein schwarzes Nachthemd. Ganz unten eine schwarze Plastikkiste. Auf einem weißen Etikett am Rand der Kiste steht 4-19, meine Indviduennummer. Ich wundere mich nur kurz darüber. Eigentlich sind die Kleidungsstücke und die Sammelbox dieselben, die ich schon aus Manhattan kenne, nur in einer anderen Farbe.

      An der Wand rechts neben dem Kleiderschrank ist eine weitere Klappe. Sie ist größer und reicht bis zum Boden, fast wie eine niedrige Tür. Ich öffne sie. Dahinter befindet sich ein winziger Raum mit einer Toilette und einem Waschbecken. Einen Spiegel gibt es nicht, dafür Handtücher und Toilettenpapier. Beides ist mit dem Emblem des Volkes V23 bedruckt - der siebenzackige Stern.

      Mangels einer Sitzgelegenheit - die Schlafnische ist zu niedrig, um aufrecht darin zu sitzen - lasse ich mich an der kahlen Wand hinunter gleiten und kauere mich auf den Boden. Ich fühle mich fast zu schwach, um meine Kleidung zu wechseln. Mein Blick irrt durch mein winziges Zimmer, in dem ich gegen Platzangst ankämpfen muss. Erst jetzt fällt mir die Uhr über der Tür auf. Sie ist weiß mit schwarzen Zeigern. Es ist halb drei. Mir fallen die Worte von 67-45 wieder ein, nach denen man mich bereits um sieben Uhr am morgen wieder abholen wird.

      Widerwillig erhebe ich mich, nehme mir frische Unterwäsche und das Nachthemd aus dem Kleiderschrank, wasche mich notdürftig über dem Waschbecken im Toilettenraum und lege mich in die Schlafnische. An deren Kopfende befindet sich ein Schalter. Ich betätige ihn, woraufhin das Licht erlischt.

      Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit lang stocksteif auf dem Rücken gelegen und meinen eigenen schnellen Atemzügen gelauscht habe, mache ich das Licht wieder an. Mich ängstigt die Dunkelheit für gewöhnlich nicht, aber heute Nacht möchte ich das Licht doch lieber an lassen.

      Ich wälze mich hin und her. Die Bettdecke und das Kissen riechen nach Waschmittel. Eigentlich ein Geruch, den ich immer gemocht habe, aber heute vermag er mich nicht zu trösten. Meine Gedanken drehen sich trotz der Erschöpfung unentwegt im Kreis. Wo ist Neal? Wo ist Shelly? Hat man sie auch in einen Raum wie meinen gebracht? Ich denke auch an Cade, obwohl ich es nicht möchte. Immer wieder sehe ich sein Gesicht vor mir, bevor mich Neal vom Schlachtfeld getragen hat. Seine orangebraunen Augen, die wie vom Wahn getrieben glühten, als er gegen einen der Obersten gekämpft hat. Unmenschlich, grausam. Und dennoch habe ich das Monster in ihm nie sehen wollen.

      Eine Träne löst sich aus meinem Augenwinkel und tropft mir ins Ohr. Ich kann nichts dagegen tun. Noch immer habe ich das Gefühl, Cades Lippen auf meinen zu spüren. Ob es ihm gut geht? Es muss mir egal sein. Ein neues Leben wartet auf mich. Ich habe keine Wahl.

       ***

       »Sind alle Rekruten anwesend?« Die Dame mit der klangvollen Individuennummer 3-33 lässt den Blick durch den Raum schweifen, als gäbe es hier mehr zu sehen als einen Haufen leerer Stühle und drei bang dreinblickende Personen, die der Herr vom Ordnungsdienst mit größtmöglichem Abstand zueinander auf ihre Plätze verteilt hat. Alle Rekruten. Sie tut gerade so, als hielte sie eine Rede vor Hunderten. Ihr schmales spitzes Gesicht zeugt von Desinteresse für ihre Aufgabe. Vielleicht hat sie diesen Vortrag schon dutzende Male gehalten. Das Haar der Obersten ist blond und kinnlang, ihre winzige Nase sticht zwischen zwei eng beieinander stehenden Augen heraus. Ihr schwarzer Anzug wirft Falten um ihre dürren Arme und Beine. Sie sitzt an einem Pult mehrere Stuhlreihen vor mir. In dem fensterlosen Raum gibt es insgesamt zehn solcher Reihen, jede mit acht kantigen Metallstühlen. Bis auf das Pult an der Frontseite gibt es keine Tische. Es gibt überhaupt nichts, das den Blick hätte ablenken können. Die Wände sind grau, der Boden weiß. Es riecht nach Putzmitteln. Neal sitzt zwei Reihen hinter mir am rechten Rand, Shelly in der letzten Stuhlreihe am linken Rand. Langsam drehe ich mich zu ihr um und fange ihren ängstlichen Blick auf. Sie zittert am ganzen Körper. Auch sie scheint schlecht geschlafen und keine erholsame Nacht gehabt zu haben. Der Anzug, in den sie das kleine Mädchen gesteckt haben, ist ihr viel zu groß. Sie musste ihn an den Armen und Beinen zwei Mal umschlagen.

      »4-19, dort hinten gibt es nichts zu sehen!«, fährt mich die Oberste an und schlägt mit der flachen Hand auf das Pult, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

      Ich wende mich wieder nach vorn. Auch ich habe eine grauenvolle Nacht hinter mir. Ich bin gar nicht sicher, ob ich überhaupt geschlafen habe. Ich bin schon lange, bevor mich jemand um sieben Uhr vor meiner Tür abgeholt hat, auf den Beinen gewesen. Ich habe mich und meine Haare notdürftig über dem Waschbecken gewaschen und danach gefühlte Stunden auf dem Boden meiner nackten Zelle gekauert. Ja, ich bezeichne es als Zelle. Ich weigere mich, es als einen Ort zu bezeichnen, an dem ich mich freiwillig aufhalten würde. Ich ringe permanent mit meiner Verzweiflung,

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