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Sie jetzt so verzweifelt zu sehen, weckt beinahe mein Mitgefühl.

      Ich habe keine Ahnung, wie lange ein Acrai ohne Nahrung überleben kann. Ich habe es nie ausgereizt. Ich persönlich verspüre keinen Hunger. Nicht mehr, seit Holly mir ihre Emotionen geschenkt hat. Ich bin schlichtweg nicht mehr zwingend darauf angewiesen, mich von menschlichen Gefühlsregungen zu ernähren. Seltsamerweise knurrt mein Magen dennoch, aber ich habe das Gefühl, eher nach irdischer Nahrung zu lechzen als nach emotionaler. Einfach krank! Am Ende fange ich noch an, Brot zu essen ... Ich bin ein Wandler, einer jener Acrai, die vor Jahrtausenden auf die Erde gekommen sind und aus deren Blut die nachfolgenden Acrai hervorgegangen sind - ich habe schon viel erlebt und viel gesehen. Aber das ist sogar für mich absolut neu. Ich habe mich noch immer nicht an die veränderte Lebenssituation gewöhnt. Ich kannte keine Gefühle. Bis vor einer Woche. Seitdem glaube ich, reicher an Erfahrungen geworden zu sein als in all den Jahrhunderten zuvor.

      Layton kaut auf seiner Unterlippe herum. Ebenfalls ein Zug, den ich von ihm nicht kenne. »Sienna hat recht. Früher oder später werden wir hier verrecken. Ich gehe lieber durch den Regen als noch länger hier zu bleiben.« Er hebt den Blick und sieht mich an. »Was sagst du dazu?«

      Hat er mich gerade tatsächlich nach meiner Meinung gefragt? Layton, der mich hasst wie die Pest? Ich räuspere mich. »Wir könnten versuchen, einen anderen Unterschlupf zu finden. Mit einem Auto könnten wir schneller ein Dorf erreichen, aber auch zu Fuß müsste es zu schaffen sein.«

      »Und dann?« Siennas Stimme klingt schrill. »Wir sind alle schwach. Was, wenn es uns nicht gelingt? Außerdem ist das keine Lösung für unser Problem. Wir hätten zwar ein neues Dach über dem Kopf, aber noch immer keine Nahrung.«

      Nun, da hat sie recht. »Wir könnten uns auch einfach gegenseitig erwürgen oder anderweitig den Freitod wählen.«

      Es war als Scherz gemeint, aber Layton knirscht so heftig mit den Zähnen, dass es mir in den Ohren weh tut. Sein Blick glüht vor Zorn. »Eine wunderbare Idee! Am besten fangen wir gleich mit dir an.«

      Ich vergrabe mein Gesicht in den Händen und fahre mir durch die Haare. Wir hatten uns gefreut, das Inferno überlebt zu haben. Gewonnen haben wir dadurch nichts. Nur verloren. Erst unser Quartier, dann Holly, dann vielleicht unser Leben. Macht es überhaupt einen Sinn, weitermachen zu wollen? Für mich vielleicht, denn ich werde alsbald nicht an Nahrungsmangel sterben. Und überhaupt - sterben kann ich als Wandler im eigentlichen Sinne gar nicht, es sei denn, jemand verbrennt den Körper, den ich gerade bewohne. Sollte ich verhungern, wird mein Geist einfach in einen anderen jungen Kerl schlüpfen. Ich habe nie gewusst, wer meinen heutigen Körper vor mir bewohnt hat, ob er Familie hatte oder Freunde. Ich habe mir auch nie Gedanken darüber gemacht. Er ist auf jeden Fall einer der attraktivsten, die ich je erwischt habe. Manchmal würde ich Layton gerne an den Kopf knallen, wer oder was ich wirklich bin, nur, um seine verdutzte Miene zu sehen. Was hält mich eigentlich davon ab? Das Quartier ist verloren - wozu noch den alten Mummenschanz mitmachen und vortäuschen, ein niederer Acrai zu sein? Alles, was mich davon abhält, mich zu offenbaren, sind diese schrecklichen Wandler-Gesetze, auf die ich keine Lust habe. Ich bin nicht erpicht darauf, hunderte Nachkommen zu zeugen und mich auf einen Thron zu erheben. Uuuh, allein der Gedanke daran ...

      »Wir könnten versuchen, Unterschlupf bei einer anderen Sippe zu finden«, sage ich schließlich. »Über kurz oder lang wird nur das unser Überleben sichern.« Ich gebe es nicht gern zu, aber es ist die Wahrheit.

      »Eine andere Sippe? Wo sollen wir die finden? In der Nähe gibt es keine Acrai außer uns!« Sienna funkelt mich nun ebenso böse an wie Layton.

      »Maureen kam aus Albany. Dort gibt es die größte Acrai-Sippe im Staat.«

      Maureen ... Das verdammte Weib, welches das Gesetz für mich ausersehen hatte, mit ihr die nächste Generation zu sichern. Wäre mir Holly nicht in die Quere gekommen, hätte ich den Gedanken gar nicht so abwegig gefunden. Maureen war ein wunderschönes Mädchen gewesen. War, wohlgemerkt. Ihr toter Körper liegt noch immer irgendwo da draußen vor dem Quartier und zersetzt sich im Regen.

      »Albany ist einhundertzwanzig Meilen von hier entfernt! Hast du den Verstand verloren? Wie sollen wir dorthin kommen?« Layton sieht mich an, als sei ich geisteskrank. Und vielleicht bin ich das sogar.

      Erst jetzt wird mir richtig bewusst, welche Tragweite das Unternehmen hätte. Es fällt mir schwer, New York City zurückzulassen - wegen Holly. Ob sie schon in eine von den Genmutanten verwandelt wurde? Ob sie mich vergessen hat? In mir schlummert noch die Hoffnung, Holly könnte immun gegen ihr widerliches Serum sein, immerhin hat sie auch nicht als Nahrungsspenderin getaugt. Dieser Gedanke zieht einen nächsten, viel unangenehmeren nach sich. Die V23er würden nicht zögern, unbrauchbare Menschen zu entsorgen. Ich traue Holly genug Grips zu, dass sie das begriffen hat und sich schützt. Entweder ist sie geflohen, oder sie findet einen Weg, unauffällig zu bleiben.

      Meine Überlegungen führen zu nichts. Ich werde nicht erfahren, was aus ihr geworden ist. Ich muss sie mir aus dem Kopf schlagen. Außerdem hat sie mich verstoßen und mir mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie mit einem lügenden Monster nichts zu tun haben will. Ein unerträglicher Stich fährt mir ins Herz.

      »Es gibt zwei Optionen«, knurre ich schließlich. »Entweder wir bleiben hier und sterben früher oder später auf jeden Fall, oder wir machen uns auf den Weg und sterben bei dem Versuch, ein anderes Quartier zu erreichen. Wobei Alternative zwei noch die Möglichkeit birgt, dass wir auf eine Menschensiedlung treffen.«

      Nun ja, eigentlich gibt es noch eine dritte Option: Ich mache mich einfach aus dem Staub und lasse Layton und Sienna zurück. Ich könnte Holly suchen. Und dabei ganz sicher sterben und meinen Körper verlieren, ja ja. Das sollte ich ganz schnell vergessen. Wie groß wären meine Überlebenschancen als einzelner Wandler in einer Welt, in der es von Feinden wimmelt? Und kann ich tatsächlich sicher sein, nie wieder Nahrung zu benötigen? Es ist gerade erst eine Woche her, seit Holly mir freiwillig von ihren Emotionen gegeben hat.

      »Ich bin es jedenfalls satt, hier zu versauern«, sagt Sienna. »Cade hat recht. Hierzubleiben ist auch keine Lösung.«

      Sie wartet gar nicht darauf, was Layton erwidert, sondern gleitet sogleich durch den Höhlenspalt ins Freie. Offenbar ist sie überzeugt, dass Layton sich fügen wird.

      »Na schön«, presst er durch seine Zähne hervor. Sein Gesicht ist verkniffen und ich merke ihm deutlich an, dass es ihm schwer fällt, meine Entscheidungen zu akzeptieren. Immerhin bin ich noch immer der Anführer, auch, wenn von der Sippe nicht mehr viel übrig ist.

      Ich erhebe mich ächzend und folge Sienna durch den Spalt. Verdammt, das ist eng! Ich winde mich seitlich durch das Gestein und schramme mir dabei den Ellenbogen auf. Auf der anderen Seite schlägt mir frische Luft entgegen. Zum ersten Mal seit zwei Tagen. Hinter mir höre ich, wie Layton mir nach draußen folgt. Sienna steht bereits mit in die Hüften gestemmten Händen vor den Überbleibseln unseres Quartiers und lässt den Blick über das Schlachtfeld gleiten. Auch sie ist nicht mehr hier draußen gewesen, seit die Obersten abgezogen sind und einen Ort der Verwüstung zurückgelassen haben.

      Mir offenbart sich ein scheußlicher Anblick. Überall liegen Trümmerteile - Steine, Metallplatten, Einrichtungsgegenstände, darunter sogar ein Duschkopf. Ich wusste bis heute nicht einmal, dass wir so etwas im Quartier hatten. Die Explosion hat es völlig auseinander gerissen. Irgendwo unter dem Schutt steht das Auto, vermutlich zerquetscht. Im Handschuhfach ist meine Beretta, der trauere ich fast am meisten nach.

      Zwischen all dem zerstörten Zeug liegen die teilweise bis zur Unkenntlichkeit entstellten Leichen von Acrai und V23ern. Maureen erkenne ich nur anhand ihres dunklen Haarschopfes. Sie liegt auf dem Rücken, die Gliedmaßen stehen in einem unnatürlichen Winkel von ihrem Körper ab. Der ständige Regen der letzten beiden Tage hat ihre Haut zerfressen, von ihrem ehemals hübschen Gesicht ist nicht mehr viel übrig. Irgendwo in dem Durcheinander liegen auch Vince und Gavin. Ich schaffe es nicht, mehr als Gleichgültigkeit ob dieses Umstandes zu empfinden. Ich bin mir sicher, es wäre andersherum genauso gewesen, wenn meine Leiche hier irgendwo gelegen hätte. Vince hat seit Jahren immer wieder versucht, mir meine Position streitig zu machen, ebenso Layton. Vielleicht bedauert er

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