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hast und eins mit der Natur geworden bist, wird es dir leichter fallen, dich in den Wäldern zu bewegen“, erklärt sie und gibt mir somit Hoffnung.

      „Ich war schon immer ziemlich unsportlich“, gebe ich zu bedenken und pralle fast mit ihr zusammen, als sie sich umdreht und stehenbleibt.

      „Sehe ich für dich sportlich aus?“, will sie wissen und deutet an ihrem kolossalen Körper hinunter. Meine Wangen werden rot und ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, ohne sie zu beleidigen. „Ich bin fett!“, platzt sie heraus und nickt. „Ich bin fett und absolut unsportlich, genau wie du! Aber ich bewege mich wie eine Gazelle in diesen Wäldern und allen anderen Wäldern der Welt, weil ich eine weiße Hexe bin!“

      Diesen Vergleich hätte ich zwar nicht gewählt, und zudem bestreite ich, ebenso fett zu sein wie sie, aber sie hat recht. Trotz ihres massiven Übergewichtes, schreitet sie geschmeidig wie eine Raubkatze durch die Natur. Zwar wie eine dicke, gefräßige Raubkatze, aber immerhin!

      Ein wenig verdutzt blicke ich auf ihren Gehstock, und frage mich, wozu sie ihn benötigt, wo sie doch eins mit der Natur ist.

      Sie folgt meinem Blick und grinst. „Den hier habe ich nur, weil er schick ist!“, sagt sie, lacht und hält ihn hoch wie ein Zepter.

      Erst jetzt sehe ich, dass der goldene Knauf eine Fledermaus mit angewinkelten Flügeln darstellt. Der schwarze König hat als Knauf an seinem Gehstock einen silbernen Raben. Ich frage mich, was es damit auf sich hat, und ob sich eine Geschichte dahinter verbirgt. Jedoch dreht Roberta sich wieder um und geht weiter, bevor ich sie danach fragen kann.

      Nachdem wir Fletcher wieder eingeholt haben, kommen wir am Ufer des Sees an. Er liegt ruhig und friedlich da, die Wasseroberfläche ist leicht silbern und an den Ufern wächst Schilf. Vereinzelt treiben ein paar bräunlich rote Blätter darauf und hier und da durchbricht ein Fisch die Wasseroberfläche, sodass sich immer größer werdende Kreise darauf bilden.

      Roberta und Fletcher stehen zu meinen Seiten dicht am Ufer. Beide haben die Augen geschlossen und atmen lächelnd ein. Nur ich stehe in der Mitte, die Hände in die Hüfte gestemmt und ringe nach Luft. An einer Seite des Sees entdecke ich das Haus von Chris. Die Hälfte ist von hohen Bäumen verdeckt, doch hinter der Garage führt ein Weg hinunter zum Ufer, wo sich ein kleiner Bootssteg befindet.

      „Du solltest auch die Augen schließen und dem See mitteilen, dass du in Frieden kommst, anstatt die Nachbarn auszuspionieren“, ermahnt Roberta mich.

      „Dem See mitteilen...“, wiederhole ich verdutzt und ernte von Roberta ein Augenrollen.

      „Als weiße Hexe begegnest du der Natur anders, als du es als Mensch getan hast. Du willst ja schließlich auch etwas von ihr, also lasse sie wissen, dass du mit friedlichen Absichten gekommen bist.“

      Ich nicke und lasse die Arme sinken. Noch immer ein wenig ratlos blicke ich auf den See und die Spiegelung des Himmels darauf, bevor ich die Augen schließe. Lieber See, ich komme in Frieden, denke ich und muss fast lachen, doch dann spüre ich etwas Seltsames. Ich höre oder sehe es nicht, aber ich vernehme es tief in meinem Inneren: Der See heißt mich willkommen. Plötzlich tauchen Bilder von grauem Wasser, darin treibenden Algen und einer Vielzahl von Fischen und Flusskrebsen vor meinem inneren Auge auf. Erschrocken reiße ich die Augen auf und sehe zu Roberta. Sie lächelt und nickt, als hätte sie gewusst, was passieren würde.

      „Was hast du gesehen?“, will Fletcher wissen.

      „Wasser, Algen, Fische und Krebse!“, sage ich erstaunt und doch begeistert.

      Fletcher lächelt und blickt verträumt auf den See. „Ist das nicht wunderbar?“, fragt er in einem Ton, den ich noch nie von ihm gehört habe. Es kommt mir vor, als zeige er mir endlich sein wahres Ich. Er ist mehr, als nur dieser verschrobene Typ mit dem stoppeligen blonden Bart und der Nick-Carter-Gedächtnisfrisur. Er ist eine naturverbundene, sensible Hexe.

      „Ja, das ist wirklich wunderbar“, stimme ich zu und folge seinem Blick auf den See und die angrenzenden Bäume, dessen Farbenspiel sich auf der Wasseroberfläche spiegelt.

      „Nun aber genug. Lasst uns beginnen!“, unterbricht Roberta die Stille.

      Sie zieht ihre Umhänge hoch, klemmt ihren Stock unter einen Arm und stapft näher ans Ufer, wo sie sich hinhockt und ihre Hände ins Wasser hält. Sie wedelt mit den Händen unter Wasser, sodass kleine Wellen entstehen und ein Plätschern zu hören ist. Dann schöpft sie eine Handvoll Wasser aus dem See und kommt auf mich zu.

      „Sieh zu und lerne“, sagt sie, als sie vor mir steht.

      Sie schließt die Augen, während das Wasser langsam durch ihre zur Schale geformten Hände tropft. „Ich konzentriere mich jetzt nur auf das Element Wasser und rufe die Gezeiten an“, erklärt sie, ohne die Augen zu öffnen. Bald ist alles Wasser aus ihren Händen getropft, denke ich, doch plötzlich hört es auf zu tropfen. „Wasser und Winter, Wasser und Winter“, flüstert Roberta und ich sehe, wie sich eine dünne Eisschicht auf der kleinen Pfütze in ihrer Hand bildet. Langsam öffnet sie wieder die Augen und blickt in ihre Handflächen. „Eis“, haucht sie. Ihr Atem formt sich zu weißem Nebel, während das Wasser in ihrer Hand zu einem einzigen Eisklumpen gefriert.

      Sie legt ihn in meine Hände und ich bestaune das durchsichtige Eis, in dem sich unzählige Risse bilden. „Wahnsinn“, ist das einzige was ich vor lauter Staunen herausbringe. Das Eis ist so kalt, dass ich es von einer Hand in die andere rutschen lasse.

      „Gib es dem See zurück“, fordert Roberta mich auf und ich trete ans Ufer.

      Ich lasse den Eisblock aus meinen Händen zurück in den See gleiten und sehe zu, wie er kurz auf der Oberfläche schwimmt und sich dann auflöst.

      „Jetzt bist du dran“, sagt Roberta.

      Ich blicke fragend zu Fletcher, doch er nickt mir nur aufmunternd zu.

      „Du kannst es, Scarlett“, sagt er und scheint sich ganz sicher zu sein.

      Roberta winkt mich zu sich heran. „Du konzentrierst dich auf das Wasser, auf die Bilder, die der See dir gezeigt hast“, erklärt sie und gestikuliert mit der Hand. „Dann denkst du an den stärksten Winter, den du jemals erlebt hast. Denk an Schlittschuhlaufen und Schneeballschlachten, denk an eisige Kälte und Frost. Stell es dir vor, bis du die Kälte in deinen Fingerspitzen spürst.“

      Ich nicke, obwohl ich mir kaum vorstellen kann, dass der Gedanke an Winter eine Handvoll Wasser in meinen Händen zu Eis werden lassen kann.

      „So rufst du die Gezeiten, mit deinen Erinnerungen.“

      „Okay“, sage ich und will wieder auf das Ufer zugehen, doch Roberta fasst mich am Arm und hält mich zurück.

      „Aber du machst es mit dem ganzen See!“

      „Was?“, frage ich verdutzt.

      Roberta nickt. „Schau dir den See an, präge ihn dir ein. Dann schließe die Augen, konzentriere dich auf das Element Wasser und danach auf deine stärksten Erinnerungen an den Winter. Breite die Arme aus und stelle dir vor, wie der See gefriert.“

      Kopfschüttelnd blicke ich von Fletcher zu Roberta, doch sie sehen mich nur aufmunternd und neugierig an. Sie wollen sehen, wie groß meine Macht ist, und wenn ich ehrlich bin, will ich es auch wissen. Was soll schon passieren, außer dass ich am Ufer eines Sees stehe, über Wasser und Winter nachdenke und letztendlich nichts geschieht?

      Also gebe ich nach, füge mich meinem Schicksal und stelle mich am Ufer auf. Fletcher und Roberta hinter mir sind mucksmäuschenstill, ihre Anspannung bringt die Luft um uns herum zum Knistern.

      Ich atme ein und aus, allein um mich zu beruhigen, und beginne, mich auf das Element Wasser zu konzentrieren. Vor meinem inneren Auge lasse ich die Bilder des Sees abspielen: Das graue, leicht trübe Wasser, die schwerelos umhertreibenden Algen, der Schwarm silberner Fische und die spinnenartigen Flusskrebse. Dann denke ich an einen vergangenen Winter, als ich noch ein Kind war. Ich denke an Schlittschuhlaufen mit Carmen, stelle mir vor, wie die Kufen unserer Schuhe über das Eis kratzten. Ich denke an die Kälte, die vom

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