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"Erlesene" Zeitgenossenschaft. Ursula Reinhold
Читать онлайн.Название "Erlesene" Zeitgenossenschaft
Год выпуска 0
isbn 9783847679097
Автор произведения Ursula Reinhold
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Mein Verhältnis zu den Bedingungen in der DDR funktionierte so, dass ich mir angewöhnt hatte, die Disparitäten des herrschenden Ideologiegebäudes, dessen Versatzstücke auch mein Denken bestimmten, zu verdrängen. Unüberbrückbare Widersprüche, die sich auftaten, wurden mit Witzen garniert und so erträglicher gemacht. Wenn ich diese oder jene Entscheidung nicht verstand, sagte ich mir, dass mir der politische Überblick und Einblick fehle, um ein schlüssiges Urteil zu bilden. Im Übrigen hoffte ich, dass alles seinen guten Gang ginge. Schon die Entscheidung, meine Dissertation über westdeutsche Literatur zu schreiben, hing damit zusammen, dass ich das Gefühl hatte, hier besser unterscheiden zu können, was als richtig und was als falsch gelten konnte, und mich so auf Fragen zu konzentrieren, die mir lösbar erschienen. Die Maßgaben, nach denen die Politiker in der DDR die kulturelle Entwicklung zu beeinflussen und zu dirigieren suchten, erschienen mir dagegen rätselhaft, und ich traute mir nicht zu, sie zu durchschauen und ihnen Sinnhaftigkeit abzugewinnen. Auch die Literaturentwicklung und die Maßstäbe, nach denen sie in der Öffentlichkeit behandelt und wirksam wurde, stellten sich mir als unübersichtlich und voller Ungereimtheiten dar.
Die Beschäftigung mit dem sich politisierenden Literaturverständnis in der Bundesrepublik bildete für mich den Boden für einen universellen gesellschaftlichen Optimismus, der sich aus der Erfahrung des antifaschistischen Aufbaus in der DDR, aus Bildungschancen für mich und meinesgleichen, aus Lektüre und Beobachtung aktueller Vorgänge speiste. Ich fühlte mich als Teilhaber am großen Wissen um den Verlauf der Geschichte, deren objektive Gesetzmäßigkeiten wir zu kennen meinten. Das war so in etwa die ideologische Grundausstattung, mit der ich 1970 dem Autor gegenübersaß.
Wie meine Literaturauffassungen beschaffen waren, lässt sich an dem Beitrag über „Literatur und Politik bei Hans Magnus Enzensberger“ ablesen, der zusammen mit dem Gespräch im Heft 5/1971 gedruckt wurde. Immerhin verleugnet die Darstellung meine Begeisterung für den Lyriker nicht. Aber der optimistische Glaube, in der Hälfte der Welt zu leben, die für die Menschheit zukunftsweisend sein wird, verleitete mich dazu, so zu tun, als wäre ein produktives Miteinander der politischen und der literarischen Sphäre für die DDR-Gesellschaft der Normalfall. Dabei blieben Erfahrungen, die dem entgegenstanden, ausgeklammert bzw. wurden nur sehr verklausuliert angesprochen. Darin folgte ich Überlegungen von Volker Braun, der sich in seinem Beitrag über „Politik und Poesie“ zu einer eingreifenden, auf Veränderung der Gesellschaft gerichteten Programmatik von poetischer Arbeit bekannte. In Abgrenzung zu Enzensberger plädiert er für eine Haltung, die sich nicht in kritischer Abwehr erschöpft, sondern sich in die revolutionäre Veränderung der Verhältnisse stellt, die er sich von sozialistischer Gesellschaftlichkeit erhofft. „Poesie kann nicht nach einer folgenlosen Autonomie jagen, sie muss sich in den geschichtlichen Prozess stellen. Statt dem Druck der Herrschaft auszuweichen oder ihn zu billigen, muss sie für die Herrschaft der Massen kämpfen“, heißt es in seinem Beitrag aus dem Jahr 1971. Braun lässt Widerstände durchblicken, die damals sein täglich Brot ausmachten, bleibt aber dabei, mit seiner Dichtung am großen zukunftsweisenden Emanzipationsprojekt beteiligt zu sein, hofft auf ein einvernehmlich korrespondierendes Verhältnis zwischen Politik und Literatur. Lange noch blieb für ihn das Staatswesen seines Landes eine Projektionsfläche für utopische Entwürfe. Enzensberger bestand dagegen auf dem unabdingbaren Spannungsverhältnis von Literatur und Politik. Literatur könne sich nicht positiv auf Politik beziehen, sondern nur beim Auflösen von Herrschaftsansprüchen eine Rolle spielen. Verse mit lyrischem Herrschaftslob schlügen fürs poetische Gedächtnis stets negativ zu Buche, konstatierte er, was er an Beispielen von Walter von der Vogelweide bis zu Johannes R. Becher und Stephan Hermlin zeigte. Aber diesem Gedankenzug folgte ich nicht, obwohl mir solche Sachverhalte durchaus geläufig waren. Mein Hauptinteresse bezog sich auf die Wandlungen im Umgang mit dem Politischen im Werke von Enzensberger, auf die Felder politischer Gegenstände, die er behandelte und die er sich als praktisches Wirkungsfeld eröffnet hatte.
Fragestellungen, die nicht in die ideologischen Muster passten, wurden ignoriert. War es Feigheit, war es Unwissen oder Unwille? Schwer auszumachen von heute her. Aber wahrscheinlich schwante mir schon, dass mich die Behandlung bestimmter Problematiken in Teufels Küche bringen würde. Vielleicht wollte ich fest in meinem Glauben bleiben.
Ja, es ist nicht angenehm, sich in dieser Weise mit eigenen Illusionen konfrontiert zu sehen. Es schmerzt! Aber es ist heilsam.
Annäherung 1980
Obwohl mich der Dichter interessierte, war davon in meinem Beitrag von 1971 über „Literatur und Politik“ wenig zu spüren. Erst eine erneute Annäherung, fast zehn Jahre später, stellte das Literarische im Spannungsfeld von „Geschichtlicher Konfrontation und poetischer Produktivität“ in den Mittelpunkt. Hier wird die literarische Arbeit der Siebzigerjahre resümiert, in der sich für mich Korrekturen gegenüber dem Selbstverständnis aus dem vorigen Jahrzehnt zeigen und ein durch die politische Praxis gewonnener Erkenntnisgewinn. Enzensberger war weiterhin als Herausgeber wirksam. Außer den Fundstücken im „Museum der modernen Poesie“ gibt er mit 3 Bänden „Klassenbuch. Ein Lesebuch zu den Klassenkämpfen in Deutschland“ (1972) und der Sammlung „Gespräche mit Marx und Engels“ (1973) Einblicke in Erfahrungen aus den sozialen und politischen Kämpfen der Vergangenheit. In den lyrischen Großformaten „Mausoleum“ (1975) und „Der Untergang der Titanic“ (1979) sah ich Höhepunkte in seinem bisherigen lyrischen Werk. Sie zeigten, dass Enzensberger auch in Zeiten, in denen er sich selbst und anderen Autoren politisch Nützliches abforderte, nicht aufgehört hatte, zu dichten. Außerdem entwickelte er im Umgang mit dokumentarischem Material neue Möglichkeiten, nicht nur fürs Theater wie im „Verhör von Habana“, sondern auch für verschiedene Prosaformen. In „Der kurze Sommer der Anarchie. Buenaventura Durrutis Leben und Tod“ (1972) schuf er aus disparatem Material eine Textmontage, der er die Genrebezeichnung Roman gibt. Der Autor montiert aus einer Vielzahl von Zitaten die Ereignisse um Leben und Tod des spanischen Anarchistenführers, der längst eine Legende geworden war. Im Grenzbereich zwischen Dokumentarischem und Fiktionalem schuf er eine originelle Form, mit der er sich eine Möglichkeit eröffnete, geschichtliche Vorgänge in der Vielfalt ihrer Widersprüche darzustellen und fürs Gegenwärtige anschaubar zu machen. Es entsteht eine aus vielen dokumentarischen Quellen mosaikartig zusammengefügte Textmontage, die eine neuartige formale Möglichkeit in seinem Werk eröffnet. Sie sollte sich auch für die folgenden Jahrzehnte als produktiv erweisen, um Schnittpunkte zwischen Geschichte und individuellen Handlungsmöglichkeiten ins Bild zu setzen.
In meinem Annäherungsversuch von 1980 beginne ich das Verhältnis zwischen dem Literarischen und dem Politischen weniger kurzschlüssig zu betrachten, versuche, den geschichtlichen Gesamtprozess als Quelle der poetischen Produktivität dieses Autors ins Zentrum zu stellen. Schon damals beeindruckte mich die Schärfe und Hellsichtigkeit, mit der sich dieser Autor in den Widersprüchen der Welt bewegte. Treffend und scharfsinnig benannte er auch die Schwächen des Teils der Welt, die wir gewohnt waren als die sozialistische anzusehen. In vielen Fragen stimmte ich ihm dabei zu, was mich aber nicht davon abhielt, wegen der geäußerten Kritik Vorwürfe an seine Adresse zu formulieren. Denn noch hatte ich die Hoffnung, dass sich der als sozialistisch verstehende Teil der Welt als zukunftsfähig erweisen, die unübersehbaren Defizite als abänderbar zeigen würden. Solche Vorstellung ignorierte die Zeichen, die darauf hinwiesen, dass auch hier keine Alternativen für die Fragen entwickelt wurden, vor denen die Menschheit stand. Weit war ich davon entfernt, Enzensbergers poetische Beschreibungen, wie er sie in „Kinderkrankheiten“ gegeben