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Weiterwohnlichkeit der Welt. Группа авторов
Читать онлайн.Название Weiterwohnlichkeit der Welt
Год выпуска 0
isbn 9783863936129
Автор произведения Группа авторов
Жанр Философия
Издательство Bookwire
Die Theodizeeproblematik geht in ihrer modernen Fassung zwar auf Leibniz zurück, hat in ihrem Kern – der Frage, wie Gott angesichts der Übel gerechtfertigt werden kann – ihre erste große Ausdeutung jedoch bereits in der Klage Hiobs angesichts des ihm widerfahrenen, für ihn nicht mehr nachvollziehbaren Leides erfahren. Der griechische Philosoph Epikur hat dieser Problematik dann die erste logifizierte Fassung gegeben: Der Philosoph, der die Vermeidung von Schmerz zur Maxime seiner Philosophie erhoben hatte, soll auf die Frage, warum Gott das Leid zulassen könne, geantwortet haben: „Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er kann es nicht und will es nicht, oder er kann es und will es. Wenn er nun will und nicht kann, so ist er schwach, was auf Gott nicht zutrifft. Wenn er kann und nicht will, dann ist er mißgünstig, was ebenfalls Gott fremd ist. Wenn er nicht will und nicht kann, dann ist er sowohl mißgünstig wie auch schwach und dann auch nicht Gott. Wenn er aber will und kann, was allein sich für Gott ziemt, woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht weg?“28 Die Präzision dieser Deduktionen, mit denen die prinzipiellen Möglichkeiten, das Verhältnis Gottes zum Übel zu denken, ausgelotet waren, sind unüberbietbar. Alle Diskurse der Theodizee, mit welchem Raffinement sie auch immer geführt wurden, standen, wenn auch oft unausgesprochen, vor dem Problem, Epikurs Schlußfrage beantworten zu müssen, weil alle anderen Möglichkeiten unzumutbar oder undenkbar erschienen. Genau diese Frage aber bestimmte letztlich auch das Nachdenken von Günther Anders und Hans Jonas über Gott nach Auschwitz.
In seinen zum Teil fingierten tagebuchartigen Aufzeichnungen Ketzereien hat Günther Anders die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts der Massenmorde des zwanzigsten Jahrhundert in aller Radikalität und Naivität noch einmal gestellt. Im Rahmen einer Fragebogenaktion wird der Philosoph von einem Fernsehjournalisten mit der Frage konfrontiert: „Glauben Sie an Gott, wenn nein, warum nicht.“ Auf diese – sogar in seinen „unzimperlichen“ Ohren „ungehörige“ – Frage folgt ein Anderssches Lehrstück, an das sich der Journalist, sollte es ihn tatsächlich gegeben haben, wohl noch lange erinnert hat: „Erst einmal teilte ich ihm schlicht mit, daß ich nicht wüßte, was mit dem Wort ‚glauben’ gemeint sei. Sein Unterkiefer fiel herunter, so als hätte ich in präzedenzloser Weise einen durch den Fernsehauftrag automatisch mitgeltenden Vertrag gebrochen. […] ‚Wenn es [Gott] gibt’, sprach ich sehr langsam, ‚dann ist er einer, der Auschwitz und Hiroshima nicht verhindert hat. […] Er ist also einer, der, die Hände im Schoß, diese beiden Ereignisse zugelassen hat. […] Ist solch ein Gott ein gerechter Gott? Wäre ein solcher Gott ein gerechter Gott? Ein liebender Gott? Ein barmherziger Gott? Einer, zu dem wir beten dürften, ohne uns zu entwürdigen? Einer, den wir anbeten dürften, ohne uns zu schämen? Ohne uns zum Komplizen seines Zulassens zu machen? […] Finden Sie nicht, dann schon besser kein Gott?’“29
Mit Blick auf die Greuel des zwanzigsten Jahrhunderts – und Anders nennt konsequent Auschwitz und Hiroshima in einem Atemzug – steigert der bekennende Atheist stakkatoartig die Argumente, die, wenn auch in anderer Form, seit Leibniz gegen die Verteidigung Gottes vorgebracht werden, zu einem historischen Anti-Gottesbeweis. Angesichts dessen, was in diesem Jahrhundert Menschen anderen Menschen angetan haben, angesichts der vollständigen und systematischen Vernichtung ganzer Populationen und Völker ist ein barmherziger Gott nicht mehr vorstellbar. Auf die Freiheit des Menschen, über die Gott keine Macht habe, will sich Anders dabei erst gar nicht einlassen: denn er spricht aus der Perspektive der Opfer. Deren Leiden hätte einen existierenden Gott zu einem Eingreifen bewegen müssen. Da dies jedoch nicht geschah, kann Gott nicht existieren. Daß Auschwitz – nicht Hiroshima – vielleicht gerade deswegen zum Kern einer säkularen negativen Theologie werden konnte, hat Anders allerdings nicht intendiert – eher im Gegenteil. In einem wohl ebenfalls nicht ganz authentischen Gespräch mit einem Priester auf einer Bahnfahrt von Bad Ischl nach Wien nennt Anders den Glauben an einen Gott, der Auschwitz „zugelassen“ hat, geradezu eine „Blasphemie“ und fährt dann – gegen die hilflosen Einspruchsversuche des Priesters – fort: „‚Oder meinen Sie, er [Gott] habe davon [von Auschwitz] sowenig gewußt wie das deutsche Volk seit dem Jahre 1945? Das heißt: gewußt, aber nichts davon wissen wollen. Und die Frage ist nicht nur an Sie gestellt. Sondern auch an die Rabbiner. Und an alle Nachfahren der sechs Millionen. Zuweilen frage ich mich sogar, ob es wirklich so groß gewesen sein kann, mit den Preisungen dessen, der dies zuließ, auf den Lippen in die Gasöfen hineinzuziehen. Ob das nicht – aber ich wage das aus Respekt vor dem Unsäglichen, das mir ohne Verdienst erspart geblieben ist, nur ganz leise zu fragen – ob dieser Preisgesang vielleicht nicht etwas …’ Das Wort ‚unwürdig’ wagte ich nicht auszusprechen. Und ließ dieses Gespräch versanden.“30
Hans Jonas stellte sich in hohem Alter in einem 1984 gehaltenen Vortrag an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen ebenfalls noch einmal der Frage nach dem Gottesbegriff nach Auschwitz. Dabei meinte er dezidiert und bewußt den Gott des Judentums und nannte seine Reflexionen ein „Stück unverhüllt spekulativer Theologie“.31 Auch Jonas griff angesichts des Geschehens der Schoah noch einmal die seit Hiob und Epikur tradierten Denkfiguren der Theodizee auf: „Nach Auschwitz können wir mit größerer Entschiedenheit als je zuvor behaupten, daß eine allmächtige Gottheit entweder nicht allgütig oder (in ihrem Weltregiment, worin allein wir sie erfassen können) total unverständlich wäre. Wenn aber Gott auf gewisse Weise und in gewissem Grade verstehbar sein soll (und hieran müssen wir festhalten), dann muß sein Gutsein vereinbar sein mit der Existenz des Übels, und das ist es nur, wenn er nicht all-mächtig ist.“32 Im Gegensatz zu Anders, für den die Vernichtung des europäischen Judentums und die Bombardierung von Hiroshima letztlich einen negativen Gottesbeweis darstellten, zog Jonas aus ganz ähnlichen Prämissen einen völlig anderen Schluß. Nicht Gottes Nicht-Existenz wird in der Katastrophe des jüdischen Volkes sichtbar, sondern seine vollkommene Ohnmacht: „Durch die Jahre des Auschwitz-Wütens schwieg Gott […], nicht weil er nicht wollte, sondern weil er nicht konnte, griff er nicht ein.“33 Mit großartigen, ergreifenden Worten skizzierte Jonas das faszinierende und erschreckende Bild eines Gottes, der zu schwach ist, um in das von ihm initiierte Weltgeschehen noch einzugreifen, aber dennoch um die Liebe der Menschen für sein Schöpfungsprojekt wirbt: „Aus Gründen, die entscheidend von der zeitgenössischen Erfahrung eingegeben sind, proponiere ich die Idee eines Gottes, der für eine Zeit – die Zeit des fortgehenden Weltprozesses – sich jeder Macht der Einmischung in den physischen Verlauf der Weltdinge begeben hat; der dem Aufprall des weltlichen Geschehens auf sein eigenes Sein antwortet nicht ‚mit starker Hand und ausgestrecktem Arm’, wie wir Juden alljährlich im Gedenken an den Auszug aus Ägypten rezitieren, sondern mit dem eindringlich-stummen Werben seines unerfüllten Zieles.“34
Der schwache, ohnmächtige Gott: Das ist zweifellos auch ein naher Gott, der paradoxerweise leichter verständlich erscheint als ein allmächtiger deus absconditus. Schwach zu sein, nicht eingreifen zu können und trotzdem geliebt werden zu wollen – das ist nicht nur nachvollziehbar, das ist vor allem zutiefst menschlich. Nach Auschwitz, so die These von Jonas, haben wir keine Möglichkeit, Gott anders als in dieser Gestalt zu denken. Glauben hieße heute, an diesen schwachen Gott glauben und ihm gleichsam, indem man selbst versucht, das Projekt der Schöpfung zu verbessern, zu Hilfe zu eilen und alles zu tun, damit er an sich selbst nicht verzweifeln muß. Doch, so könnte man fragen, setzt nicht dieses Ansinnen, daß der Mensch sich mitleidig in den ohnmächtigen Gott einfühlen soll, jene Hybris der Gottähnlichkeit voraus, die seit dem Sündenfall als Ursprung des Bösen gilt? Und schließt sich in einer Theologie des schwachen Gottes nicht ein Kreis, der mit einer letztlich technisch induzierten Selbstermächtigung des Menschen begonnen hat und nun zur Ohnmacht des Allmächtigen führt?
Dort, wo Hans Jonas trotz Auschwitz und trotz der Atombombe einen