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      Sophia Vallbracht

      Die normative Kraft des Decorum

      Angemessenheit bei Cicero, Ambrosius und Augustinus

      Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

      © 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

      Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

      www.narr.de[email protected]

      Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

      ISBN 978-3-7720-8671-7 (Print)

      ISBN 978-3-7720-0166-6 (ePub)

      Für meine unvergessene Oma Pauline und meine Mutter Angela, zwei unglaublich mutige, starke und kluge Frauen, die mir zum Vorbild wurden. Meinen Eltern danke ich für ihr unerschütterliches Vertrauen in mich und ihre nie enden wollende Unterstützung.

      Für meinen Ehemann Sebastian, der mich in Liebe ermutigt, meine Träume zu verwirklichen. Ohne ihn wäre ich nicht mutig gewesen, diesen Schritt zu gehen. Meiner Familie und besonders meiner Schwester Rebecca danke ich für ihren festen Glauben an mich und ihre Unterstützung.

      Allen anderen, die mir auf diesem Weg geholfen haben: Prof. Dr. Mike Edwards für seinen Enthusiasmus, einer jungen Kollegin mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, Prof. Dr. Dietmar Till für seine Betreuung und Geduld als Doktorvater, Prof. Dr. Johannes Brachtendorf als Wegbegleiter, der für alle Ideen offen war und auf dessen Rat ich mich immer verlassen konnte, Dr. habil. Franz-Hubert Robling, der mich von der ersten Stunde an in diesem Vorhaben unterstützt, beraten und auch korrigiert hat, ihnen allen ein von Herzen kommendes Dankeschön.

      1 Einleitung

      1.1 Problemaufriss

      Hier zeigt sich die Tüchtigkeit des Redners wie die des Feldherrn im Kampf, der seine Streitkräfte teils für den Fall, daß es zum Treffen kommt, bei sich behält, teils sie zur Verteidigung auf die Kastelle oder zur Garnison in die Städte, zur Beschaffung des Nachschubs, zur Sicherung der Marschwege und schließlich auf Wasser und Land verteilt. Quintilian: Institutionis oratoriae. VII, 10, 13.

      In der Feldherrnmetapher beurteilt Quintilian die Fähigkeit des Orators danach, ob dieser wie ein Feldherr seine Strategie der jeweiligen Situation entsprechend und damit effektiv einsetzt, also teleologisch. Die Frage, ob Angemessenheit eine genuin rhetorische Kategorie darstellt, erübrigt sich hier.1 Erstaunlicherweise ist das Postulat der Angemessenheit aber auch in der Folgezeit kaum Gegenstand moderner Rhetorikforschung geworden.2 Wie lässt sich dieses Phänomen erklären?

      Zum einen sicherlich dadurch, dass die Angemessenheit in der antiken Rhetorik zwar eine sehr wichtige Stellung als zentrales Regulativ der Rede einnimmt, jedoch nirgends eine konkrete Definition gegeben wird. Das Konzept der Angemessenheit stellt die rhetorische Theorie vor ein Problem, da es erstens mehrere Begriffe dafür gibt (aptum, πρέπον, decorum), die durch Übersetzung vom Altgriechischen ins Lateinische (Cicero übersetzt πρέπον mit decorum) tradiert worden sind, und sich zweitens die Angemessenheit über die Jahrhunderte hinweg als ein interdisziplinäres Thema (Poetik, Philosophie, Kunst, Literatur, Architektur und Musik3) erweist. Zum anderen ist in der modernen Rhetorik eine Leerstelle entstanden, die sich daraus ergibt, dass das antike Verständnis von Angemessenheit als πρέπον/decorum sich nicht mehr passgenau in eine Rhetorik im 21. Jahrhundert4 einfügen lässt.5 Eine neue Bestimmung von Angemessenheit in der modernen Rhetoriktheorie scheint unumgänglich zu sein, ist sie doch „[a]uch für die heutige Darstellungsfähigkeit [...] das wichtigste Verständniskriterium geblieben.“6

      Angemessenheit scheint auch der archimedische Punkt zwischen Rhetorik und praktischer Ethik zu sein, wenn man von folgenden Annahmen ausgeht:

      1 Angemessenheit ist zentrales Regulativ der Rede (bei Cicero decorum orationis) und der Rhetorik.

      2 Angemessenheit stellt eine normative Erwartung an den Redner dar (decorum vitae).

      Die normative Verankerung von Angemessenheit muss so mit strategischem, auf Persuasion ausgerichtetem Handeln in einem interdisziplinären ganzheitlichen Rahmen problematisiert, analysiert und möglichst in eine rhetorische Theorie überführt werden.

      In der antiken Rhetorik lassen sich mehrere Begriffe finden, die „Angemessenheit“, bzw. die Eigenschaft „angemessen“ beschreiben, wovon noch in Kapitel 2 ausführlich die Rede sein wird. Es ist vor allem der von Cicero geprägte Neologismus „decorum“ als Übersetzung für πρέπον, der die rhetorische Angemessenheit ganzheitlich in Abgrenzung zum aptum fasst. Während aptum sich auf die Sachangemessenheit (inneres aptum) und die Situationsangemessenheit (äußeres aptum)7 einer Rede bezieht, ist das decorum ein von Cicero erweitertes Konzept, das den Redner als ethisch handelnden Akteur in seiner je eigenen Wesensart mit einbezieht.8 In dieser Hinsicht umfasst das decorum als solches das aptum, doch nicht vice versa. Deshalb soll hier die These vertreten werden, dass das decorum die Angemessenheitsnorm in Sprache, Verhalten und Kommunikation darstellt, während das aptum insofern vom decorum zu unterscheiden ist, als es eine redeimmanente Kategorie der Sachangemessenheit und der Situationsangemessenheit darstellt.9

      Sodann folgen in den nächsten Jahrhunderten weitere Übersetzungen von πρέπον und decorum ins Englische als propriety, fittingness, appropriateness oder ins Französische als bienséance oder convenance, um nur die Wichtigsten zu nennen.10 Doch jeder Übersetzung wohnt auch eine Interpretation inne, womit begriffliche und inhaltliche Veränderungen und Akzentverschiebungen im Laufe der Jahrhunderte in den jeweiligen Sprachen zwangsweise einhergegangen sind. Auch im Deutschen macht sich dies bemerkbar, wenn decorum im Historischen Wörterbuch der Rhetorik als „Angemessenes“, „Schickliches“, „Konvenienz“ angegeben wird oder auch als „Wohlanständigkeit“ bei Christian Thomasius zu finden ist. Und selbst wenn das lateinische decorum als „Angemessenheit“ übersetzt wird, ist der Inhalt dieses Begriffs nicht automatisch klar und fassbar, sodass folgende Fragen offenbleiben: angemessen in Bezug worauf? Und wo liegt die Grenze zwischen Angemessenheit und Unangemessenheit? Wie lässt sich diese Grenze rhetorisch bestimmen?

      Es bedarf einer Beschreibung und Einordnung von Angemessenheit in der Rhetorik, die in systematischer Theorie auf die meisten Fälle und Situationen anwendbar ist und ihren Platz sowohl in der Kasualrhetorik, wie auch in der Fundamentalrhetorik11 einnimmt. Wenn die Initiation von Rhetorik im Moment einer Entscheidung(sfindung) (κρίσις) als rhetorischem Fall12 ausgelöst wird, dann scheint Angemessenheit die rhetorische und ethische Absicherung von Persuasion jeglicher Art zu sein und so sollte ihr in der Theorie der modernen Rhetorik ein genuiner Raum zugestanden werden. Fasst man darüber hinaus Angemessenheit mit Erving Goffman soziologisch als Benehmen (demeanor)13, so wird deutlich, inwiefern Kommunikation und Benehmen als gesellschaftliche Prozesse interagieren: „Es bezeichnet ein symbolisches Handeln, mit dem durch Haltung, Kleidung und Verhalten zum Ausdruck gebracht wird, dass man als Akteur über bestimmte Eigenschaften verfügt, die der sozialen Situation angemessen sind, wie etwa Sprachkompetenz, Körperbeherrschung, Ehrlichkeit oder Gelassenheit.“14 Die Art und Weise, wie Menschen miteinander interagieren und welche Selbstdarstellung (face/image) sie bewusst und auch unbewusst kommunizieren, interessiert die Forschung um Erving Goffman, der in der Soziologie als Disziplin mit seinem Interesse an „symbolic interaction“ ein neues Feld der Analyse eröffnet hat, deren Forschungsansätze (auch für die Rhetorik) anschlussfähig sind.

      Analog zu den verschiedenen Begriffsprägungen von Angemessenheit in den jeweiligen Sprachen hat sich Angemessenheit im Laufe der Geschichte zu einem interdisziplinären Thema entwickelt. So taucht es zum Beispiel in der Geschichte der Kunst mit der Diskussion um Caravaggios Gemälde Madonna

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