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Mann heran! Ich schrie und tobte und stampfte mit den Füssen, so fest ich konnte, weil seine Hände nicht von Mascha liessen. Ich krümmte mich auf dem Boden und über mir war diese fremde, schwarze Frau, die mich fest umklammerte. Ich konnte sie atmen hören. Endlich liess der Mann Mascha los, mein Körper entspannte sich, das Feuer wich aus meinen Fäusten, das Schreien in mir hörte auf. Mein Herz musste nicht mehr rasen, und ich hörte, wie es zu summen begann.

      Dann wurde Mascha weinend von einer schwarzen Frau aus dem grossen Saal getragen und war auch verschwunden. Arabat und ich waren nun allein mit zwei Schwestern und diesem Mann. Arabat liess alles mit sich machen. Seine Augen waren leer. Ich konnte darin so wenig erkennen wie in der schwarzen Nacht vor dem Fenster. Nur war es in seinen Augen nicht schwarz, sondern grau, nicht einmal eine Träne, gar nichts war da. Auch Arabat verschwand mit einer Schwester. Sie hatte keine schönen Farben um sich herum, und ich traute ihr nicht. In meiner Seele wusste ich, dass Arabat nichts Gutes geschehen würde, aber Arabat lief mit ihr mit. Ich blieb allein zurück mit dem Mann und der letzten Schwester. Der Mann wollte mit mir dasselbe tun wie mit meinen Geschwistern, aber ich liess es nicht zu. Ich wehrte mich mit heftigen Bissen, sodass er nicht an mich herankam und mich schliesslich mit der Schwester aus dem Raum gehen liess. Sie wollte mir die Hand reichen, ich ergriff sie aber nicht. Wir gingen wieder diesen langen Gang entlang, und wieder gab es eine Tür, die sich öffnete, und ich musste hinein ins Ungewisse. Ich stand vor einer langen Holztreppe, die sich die Wand entlangschlängelte. In der Mitte jeder Stufe war ein kleiner, geblümter Fleck, den ich mir auf den Knien genauer anschauen musste. Die Schwester wartete geduldig auf mich. Ich fuhr mit der Hand über den Fleck, und er kratzte, nur nicht an jenen Stellen, wo er ganz glatt war – als hätte er dort keine Haare, die ihm zu Berge standen. Ich musste an ihm riechen, und er roch nach vielen verschiedenen Füssen.

      Die Blümchen luden mich ein, auf sie zu treten und die Treppe hochzugehen. Ich achtete darauf, dass ich immer schön auf die glatte Stelle trat, denn dort hatte es fast keine Blümchen. Diese Treppe war lang, ich hatte noch nie so viele Stufen hinaufsteigen müssen, und meine Beine mussten viel arbeiten. Ich wurde müde und setzte mich auf eine Stufe. Die Schwester setzte sich neben mich und redete zu mir, doch ich verstand das meiste nicht. Ich schaute sie nur an. Es war seltsam, ein Gesicht zu sehen, aber keine Ohren und keine Haare. Ihre Augen strahlten, als sässen zwei kleine Flammen darin. Die Schwester nahm behutsam meine Hand und ich liess es zu, denn sie war so warm und freundlich und zart. Ich musste weiter die Treppe hoch. Da war wieder eine Tür und neben der Tür ein Stuhl, auf dem eine schwarz eingehüllte Frau mit ei­nem Buch in der Hand sass. Die beiden Schwestern begrüssten sich, und es ging weiter die Treppe hoch, es schien kein Ende zu nehmen. Es kam mir vor, als würde ich in den Himmel steigen. Endlich müde im Himmel angekommen, öffnete sich für mich eine letzte Tür, und ich sah einen grossen Raum mit vielen, vielen Betten. Es war unheimlich still. Die Schwester hielt den Finger vor den Mund, was wohl bedeutete, dass ich nicht mehr atmen sollte. Das versuchte ich, aber ohne ein- und auszuatmen konnte ich nicht weitergehen, also blieb ich einfach stehen, bis ich nicht mehr konnte und nach Luft ringen musste. Die Schwester hob mich vorsichtig auf den Arm und trug mich zwischen den vielen Betten hindurch an ein Fenster, das ein wenig Licht in den grossen Raum hereinliess.

      Nun war ich am Ende meiner Reise angekommen. Ich musste mich ausziehen und ein neues Kleidchen anziehen, das nach Seife roch. Ich wurde behutsam in ein Bett gelegt und zugedeckt. Eine Weile sass die Schwester neben mir, wachsam. Ich war müde von der Fahrt, und das Licht in ihren Augen liess mich in die Welt der Träume reisen. Als ich erwachte, blickte ich in die Nacht hinaus, in den Himmel, und ich konnte die Sterne leuchten sehen. Ich sah Alioscha, Mascha und Arabat vor mir, die alle weinten. Ich glaubte zu hören, wie sie meinen Namen riefen: «Luisa, Luisa, wo bist du? Komm uns holen!» Ich setzte mich auf und ihr Rufen verstummte. Ich rieb mir heftig die Augen und spitzte die Ohren. Ich konnte nur die unheimliche Stille hören in diesem viel zu grossen Raum mit diesen vielen Betten. Ich wagte kaum zu atmen. Ich schaute in den Schlafsaal und bemerkte, dass in jedem Bett ein Häufchen lag, das sich aufblies wie ein kleiner Ballon und dann die Luft wieder herausliess.

      Ich hatte Heimweh nach meinen Geschwistern. Zu Hause schliefen wir immer zusammen in zwei Betten. Ich fühlte mich einsam ohne ihre Wärme. Ich kletterte aus dem Bett und machte mich so leise wie möglich auf die Suche nach ihnen. Ich lief von Bett zu Bett und schaute in die schlafenden Gesichter. Um sie zu erkennen, musste ich mich auf die Zehenspitzen stellen und mich im Gleichgewicht halten. Aber keines der Gesichter gehörte zu meinen Geschwistern. Auch mit der Nase konnte ich sie nicht ausfindig machen, denn ein strenger Seifengeruch lag in der Luft. Ich ging wieder zurück zu meinem Bett, kletterte hinein und deckte mich zu. Ich schaute in die Nacht hinaus, hoch hinauf zu den leuchtenden Sternen, die friedlich vor sich hin strahlten, bis meine Augenlider schwer wurden.

      Als ich erwachte, standen lauter kichernde Mädchen um mich herum und zupften und rupften an meiner Decke und meinem Kleidchen. Sie kamen mir vor wie wild gewordene ­Vögel, die schon lange nichts mehr zu picken gehabt hatten. Es machte mir Angst, und ich versteckte mich unter der Decke. Aber sie wurde mir gleich wieder weggezogen, und eine der Schwestern stand neben mir mit Kleidern in der Hand. Eine andere hatte ihre liebe Mühe, die Mädchenhorde zusammenzutrommeln.

      Die Schwester nahm mich bei der Hand. Ich war froh um ihre Hand, denn ich fühlte mich verloren. Ich glaubte, wir würden nun zu meinen Geschwistern gehen, hinaus und die grosse Treppe hinunter. Doch wir gingen durch einen Gang, den ich nicht kannte, und eine andere Treppe hinunter. Es roch muffig, es stank. Auf den Steinstufen hätten meine kleinen Füsse zehnmal Platz gehabt. Wieder ging eine Tür für mich auf, und ich befand mich in einem hohen Raum mit Steinmauern und kleinen, schmalen Fenstern. Die Luft war rauchig und feucht. Es roch nach Seife. An der Wand stand ein Gefäss, gross wie ein Boot, unter dem ein Feuer brannte. Als mir die Schwester das Kleidchen auszog, wusste ich: Da musste ich hin­ein. Ich wollte nicht in diese grosse Pfanne, ich wollte nicht gekocht werden und stampfte und schrie, als wäre der Teufel hinter mir her. Hatte man Arabat, Mascha und Alioscha auch gekocht?

      Mein Schreien und Stampfen half nichts. Ich wurde in den Topf gesetzt und plötzlich umgab mich eine angenehme Wärme. Ich hörte auf zu schreien. Aber kaum gefiel mir etwas, kam wieder etwas, was ich hasste: Meine Haare wurden nass gemacht, eingeseift und ausgespült, es brannte in den Augen. Dann wurde ich aus der Pfanne gehoben und trocken gerieben, vom Kopf bis zu den Füssen. Ich roch nur noch nach Seife, wie alle anderen in diesem Haus. Ich war nun eine von ihnen. An meinen Haaren wurde herumgerupft und mit einem Messer hantiert. Meine Kopfhaut juckte. Mein Haar wurde nicht zu zwei Schwänzchen gebunden, wie meine Mutter es machte, sondern eng geflochten. Meine Kopfhaut juckte.

      Geputzt und gestriegelt, durfte ich dieses Gemäuer endlich verlassen, und ich fühlte mich, als hätte ich nun auch noch meine Seele verloren. Ich, Luisa, war mir fremd. Ich roch nicht mehr wie Luisa. Ich stieg die dicke Steintreppe hinauf und gelangte in den Saal, den ich schon kannte. Es war laut, und die vielen Tische und Stühle waren von Kindern besetzt. Ich liess mich auf einen freien Stuhl fallen und wartete, bis meine Seele wieder zu mir zurückfand. Ich sass bei vielen Mädchen am Tisch, und wir reichten uns die Hände. Die Mädchen sangen ein Tischgebet, und endlich durfte ich etwas essen. Es schmeckte mir nicht. Das Brot war sauer und machte mir Bauchweh.

      Dann verging Tag um Tag, und ich gewöhnte mich allmählich an die Grösse dieses Kinderheims. Aber das Heimweh nach meinen Geschwistern wurde immer stärker. Sie waren in einem anderen Gebäude bei den Säuglingen und Kleinkindern untergebracht. Mein Bruder Arabat war zwar im selben grossen Gemäuer wie ich, doch die Buben und Mädchen wurden getrennt. Nur die Mahlzeiten im grossen Speisesaal durften wir drei Mal am Tag zusammen mit den Buben geniessen, unter strenger Aufsicht und in absoluter Stille. Am Anfang und am Schluss der Mahlzeiten wurde gesungen. Ich war sehr einsam unter den vielen Mädchen. Das meiste, was sie sagten, konnte ich nicht verstehen, weil wir zu Hause nur Jiddisch, Jenisch und Hebräisch sprachen. Ich war in einem fremden Land, unter fremden Menschen.

      Drei

      Ich, Luisa, war mit all den anderen Mädchen für lange Zeit im obersten Stockwerk untergebracht, im Schlafsaal. Die vielen Treppen, die ich steigen musste, rundeten den Tag ab und übergaben mich der Nacht. Die Betten waren in zwei Reihen aufgestellt, vor jedem ein Stuhl für die Kleider. Fein säuberlich gefaltet musste ich sie am Abend hinlegen.

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