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gestreut hatte, es fühlte sich an, als gingen sie über eine Kiesauffahrt. Sie näherten sich einem dunkelblauen BMW, der derart deformiert war, als wollte er sich jeden Moment in etwas anderes verwandeln. Die Motorhaube war geradezu um den eisernen Pfeiler herum geflossen. Dass es sich überhaupt um eine Motorhaube handelte, musste man wissen, sehen konnte man es nicht. Der Scheinwerfer auf der Beifahrerseite war nicht mehr da, Schläuche, Metall und Plastik waren zu einer Masse verformt, die Kühlergrill und Nummernschild eingesogen hatte, die Stoßstange wies fast senkrecht in die Luft, über ihrer Spitze steckte ein Verkehrshütchen, damit sich niemand an den scharfen Kanten schnitt.

      »Schickes Auto. Was neueres und teureres hat BMW derzeit nicht zu bieten«, sagte Maik.

      »Und wohl auch ziemlich schnell«, sagte Anita. »Das waren doch mindestens achzig Sachen, oder?«

      »Am besten, wir fragen mal den Kollegen, der da den Infusionsständer macht«, sagte Maik und ging auf den Rettungsassistenten zu, der die Infusion hoch hielt. Anita kannte ihn vom Sehen, ein Kollege von den Johannitern, die in der Wiener Straße stationiert waren.

      »Guten Morgen. Und? Was habt ihr für uns?«, sagte sie.

      »Eine eingeklemmte Person. Ansprechbar, Blutdruck 120 zu 80, Herzfrequenz 90«, sagte der Rettungsassistent und zeigte mit der freien Hand auf die Fahrertür. »Zum Glück war das Fenster offen, da haben wir schon mal einen Stiffneck angelegt und gleich einen Zugang gelegt, wo wir schon dabei waren. Aber man kommt echt schlecht am Lenkrad vorbei.«

      Er klang erleichtert, dass nun jemand anderes für die medizinischen Entscheidungen zuständig war.

      Ein solcher Unfall war in der Großstadt für alle eine Seltenheit. Sogar Maik, den kaum etwas schockierte, fehlten für einen Moment die Worte, wo er nun so nah an dem eingeklemmten Unfallopfer stand.

      Anita zählte still für sich bis drei, wie sie es inzwischen automatisch tat, um sich in einer schwierigen Situation zu beruhigen. Sie hatte sofort Mitgefühl für das Unfallopfer, hatte Angst, einen Fehler zu machen, vielleicht vermischt mit Euphorie darüber, dass nun alle auf ihre Anweisungen warteten. Natürlich musste sie diese Emotionen unterdrücken, um vernünftig entscheiden zu können, das war eigentlich kein Problem, sie hatte das gelernt, und doch bemerkte sie, dass es in diesem Fall nicht so einfach war wie sonst. Sie zählte bis fünf, sechs, sieben, dann atmete sie tief durch und sagte zu dem Rettungsassistenten:

      »Na, dann machen wir uns mal an die Arbeit.« Sie blickte auf das Wrack und fragte sich, was man bei diesen neuen Autos eigentlich alles tun musste, um sofort tot zu sein. Dann sah sie in das Wageninnere, und die eben unterdrückten Emotionen waren wieder da. Ein Junge. Sie hatte einen Erwachsenen erwartet, einen Mann, davon war sie fest ausgegangen, doch der Fahrer war nur wenig älter als ihr Sohn, siebzehn, vielleicht achtzehn. Junge Menschen auf diese Art schwach und hilflos zu sehen, schockierte Anita immer, sie musste sich zwingen, genau hinzusehen.

      Der Junge war schlank und erinnerte in der unnatürlich steifen Haltung, in die ihn der Stiffneck gebracht hatte, eher an eine Puppe aus einem Crashtest als an einen Menschen. Sein linker Arm hing schlaff aus dem offenen Autofenster heraus, wie von dem kleinen weißen Gerät nach unten gezogen, das an seinem Zeigefinger hing und anzeigte, wie viel Sauerstoff sein Blut transportierte – ein erfreulich normaler Wert.

      Anita rupfte die noch halb an der Fahrzeugdecke hängende Sonnenblende ab, zog einen schlaffen Airbag hinaus so weit es ging und sagte:

      »Ich bin die Notärztin. Können Sie mich hören?«

      Sie fragte das eher aus Gewohnheit, denn in dieser Situation konnte sie sich selbst kaum hören: Unweit von ihr hatten einige Feuerwehrleute kurz zuvor einen Generator angeworfen, und eines der Lösch-Hilfeleistungsfahrzeuge fuhr mit lautem Piepen rückwärts.

      »Bekommen Sie einigermaßen Luft?«, rief Anita dem Jungen ins Ohr.

      Der Junge formte die Lippen zu so etwas wie einem »Ja« und versuchte sie anzusehen, soweit das mit der Halskrause möglich war. Anita bemerkte, dass beide Augen sich synchron bewegten, das war gut.

      »Ich leuchte Ihnen kurz in die Augen, okay?«

      Anita zog erst das eine Augenlid nach oben, dann das andere. Die Pupillen waren isokor und klar umrandet. Falls es eine Hirnblutung gab, hatte sie zumindest noch nichts Schlimmes angerichtet, doch ein Schädel-Hirn-Trauma hielt Anita ohnehin für unwahrscheinlich, weil sie weder auf dem Armaturenbrett noch auf der Windschutzscheibe oder dem Lenkrad eine Delle in Form einer Stirn entdecken konnte.

      »Tut dir was weh?«, fragte Anita. Nachdem sie ihm in die Augen geleuchtet und dabei die glatte Haut in seinem Gesicht gespürt hatte, war sie automatisch zum »Du« übergegangen.

      »Mein Rücken.«

      Anita ließ sich eine größere Lampe geben und leuchtete in den Fußraum. Kupplung, Gaspedal und Bremspedal hatten sich durch den Aufprall um die Beine des Jungen herum gebogen. Anita zwängte ihren Arm zwischen Lenkrad und Tür hindurch, kniff dem Jungen in den Oberschenkel und rief:

      »Spürst du das?«

      Sie kniff ihn noch einmal, so fest, dass es ihr in den Fingern weh tat.

      »Kannst du mir sagen, was ich gerade mache?«

      »Nein«, sagte er, und Anita sah in seinen Augen Tränen. Normalerweise verhinderte der Schock eine solche Reaktion, doch der Junge schien zu begreifen, was das alles bedeutete. Und bei der Angst, die Anita in seinen Augen sah, blieb sie nun selbst ganz ruhig und tat fast automatisch das, was sie in solchen Situationen immer tat, sie strich ihm über den Kopf, senkte die Tonlage und sagte mit einer beruhigenden Alt-Stimme:

      »Ich pass auf dich auf.«

      Und nach dem, was ich dir jetzt gebe, wirst du dich an das hier ohnehin nicht erinnern, dachte Anita dann und sagte zu Maik:

      »Zieh mir mal eine Ketamin auf.«

      »Was?«

      »Ketamin!« Anita musste fast schreien, so laut war es um sie herum, jetzt ratterte auch noch eine U 1 direkt über ihren Köpfen hinweg in Richtung Spree. Ketamin. Anita und Maik verwendeten es in solchen Situationen gern, denn es wirkte schnell und nahm ihren Patienten alle Schmerzen, ohne die Atmung zu lähmen. Es gab ihnen lediglich das Gefühl, sie könnten ihren eigenen Körper verlassen, und das hätte sich in dieser Situation so ziemlich jeder gewünscht.

      Maik reichte ihr die Spritze und rief:

      »Willst du auch gleich Dormicum dazu?«

      »Ja.«

      Anita legte die Spritze an den Venenzugang und gab ihm hintereinander das Schmerz- und das Beruhigungsmittel. Es beeindruckte sie immer wieder, wie gut diese Medikamente wirkten, wie die Atmung mit jedem Luftholen ruhiger wurde und innerhalb von Sekunden die Angst aus den Augen des Jungen wich. Da hörte sie, wie ein Mann neben ihr laut in ein Funkgerät sprach. Er hatte ihr den Rücken zugedreht, auf seiner Uniform las sie das Wort Staffelführer. Sie tippte ihm auf die Schulter und sagte:

      »Ich bin Dr. Cornelius. Hallo.«

      »Kruschewsky. Morgen. Und? So etwas hat man nicht alle Tage.«

      »Da haben Sie Recht. Ich bin mir noch gar nicht so sicher, wie wir am besten vorgehen«, sagte Anita.

      »Wirbelsäulenverletzung?«

      »Er sagt zumindest, er spürt seine Beine nicht mehr.«

      »Dann einmal Cabrio, oder?«, sagte der Staffelführer und zeigte mit der Antenne seines Funkgeräts auf das Autodach. Die Lesebrille auf seiner Nase wollte nur auf den ersten Blick nicht zu der Uniform und dem Feuerwehrhelm passen, auf den zweiten Blick passte sie genau zu der Art, wie er mit ihr sprach: Wie ein in Würde gealterter Handwerksmeister, der einer ahnungslosen Bauherrin eine ebenso teure wie alternativlose Maßnahme ankündigte, bei der alles andere als sofortige Zustimmung eine grobe Dummheit wäre. Er senkte den Kopf und sah sie über die Ränder seiner Lesebrille hinweg an. Um sie herum hatten die Feuerwehrleute bereits ihr hydraulisches Rettungsgerät ausgepackt und angeschlossen. Sie machten sich bereit, das Auto aufzuschneiden, das Dach abzureißen

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