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als sie erwartet hatte. Eine große, kräftige, dunkelhaarige Mittfünfzigerin öffnet ihr. Nie hätte sie sie für eine Prostituierte gehalten, eher Typ Unternehmensberaterin.

      Sie ist eine verantwortungsvolle Chefin, der gute Arbeitsbedingungen für die Frauen wichtig sind. Nur ausgewählte Kunden – »oberes Segment«. Es gibt sogar Supervision für die Frauen und gute Bezahlung.

      Genau der richtige Ort für Claudia S. Es dauert nicht lang, bis sie ihrer Chefin von Kevin erzählt. Die ist nicht verwundert. Sie freunden sich an und verbringen viel Zeit miteinander. Langsam gewinnt Claudia S. ihr Selbstbewusstsein zurück, beginnt wieder zu fühlen und sich wieder zu mögen. Die Wunden heilen nach und nach.

      Eines Tages, als sie sich schon nicht mehr ständig umsieht, passiert es. Kevin steht vor ihr, mitten im Supermarkt.

      Nie wird sie erfahren, wie er sie gefunden hat. Kevin lächelt sie an, kommt auf sie zu. Dann droht er ihr, zischt ihr üble Beschimpfungen zu. Sie schreit – so laut sie kann. Kevin geht langsam, sehr langsam, erst lächelnd, dann lachend hinaus. Er nimmt Cheri mit, die draußen angeleint ist. Claudia S. wagt es nicht, den sicheren Supermarkt zu verlassen, muss tatenlos zusehen, wie er ihr Liebstes nimmt.

      Im Supermarkt hat jemand die Polizei angerufen. Als sie kommen, zeigt sie ihn an. Spontan. Monate nach der Tat. Zunächst wegen Diebstahl des Hundes. Aber die Polizeibeamtin merkt, dass es mehr gibt als den gestohlenen Hund, und Claudia S. ist nicht in der Lage, es zu verschweigen. So erzählt sie von der Vergewaltigung.

      Später wird die Anzeigesituation Anlass zu großem Misstrauen geben. Immer wieder wird im Verfahren behauptet werden, dass sie die Vergewaltigung nur erfunden habe, um den Hund zurückzubekommen. Ihre Glaubhaftigkeit sei schon deshalb eingeschränkt, da sie nicht unmittelbar nach der Tat zur Polizei gegangen sei, denn ein echtes Vergewaltigungsopfer zeige sofort nach der Tat an.

      In Deutschland gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2018 114.393 weibliche Opfer von vollendeten und versuchten Delikten sogenannter Partnerschaftsgewalt.1 Mehr als 3100 Personen wurden Opfer sexueller Übergriffe und sexueller Nötigungen im Rahmen von Beziehungen im sozialen Nahbereich, wovon 92 Prozent weiblich waren.2

      Das hohe Maß an Gewalt belegt auch eine Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2014, nach der 33 Prozent der befragten Frauen in Europa seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder sexuelle Gewalt erfahren haben.3

      Die Dunkelfeldforschung geht von einem sehr hohen Dunkelfeld aus, also von zahlreichen Taten, die nicht angezeigt werden. Nach einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) aus dem Jahr 2003 – leider gibt es keine aktuellere Studie – zeigen gerade einmal acht Prozent aller Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, diese bei der Polizei an.4 Dieses Schweigen ist nicht zuletzt der alltäglichen Kultur geschuldet, in der Betroffenen von Vergewaltigung die Schuld zugewiesen wird.

      95 Prozent der Täter*innen sind männlich, 95 Prozent der Opfer weiblich. Nur bei sexuellem Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen sind die Opfer zu 20 Prozent männlich. Trans- oder Interpersonen werden von der Statistik nicht erfasst. Es ist aber davon auszugehen, dass diese ein noch erheblich höheres Risiko haben, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden.5

      Claudia S. sagt viele Stunden bei der Kriminalpolizei aus. Äußerst kritisch werden ihre Aussagen beleuchtet, immer wieder erlebt sie die Befragung so, als glaube man ihr nicht, als sei sie schuldig und habe das gesamte Geschehen nur erfunden. Jedes Detail der Vergewaltigung berichtet sie, so gut es geht, einiges hatte sie schon verdrängt.

      Sie berichtet nichts über Kevins Geschäfte. Voller Angst und Ekel verlässt sie die Polizeidienststelle und nimmt die abschließend freundlichen Worte des Vernehmungsbeamten kaum noch wahr, der ihr mitteilt, dass man sie einfach so hart habe drannehmen müssen, um die Wahrheit herauszufinden und zu prüfen, ob sie eine spätere Hauptverhandlung durchhalten werde. »Wenn Sie wüssten, was da noch alles auf Sie zukommt – dagegen ist unsere Befragung ein Zuckerschlecken!«

      Ihr wird auch gesagt, dass das Verfahren in Berlin geführt werden wird und sie gut beraten sei, sich möglichst rasch eine Anwältin in Berlin zu suchen.

      Offenbar hatte man ihrer Aussage Glauben geschenkt, die Akte aus Rostock sofort an die Staatsanwaltschaft Berlin weitergeleitet, die einen Haftbefehl beantragt und erhalten hat. Sicherlich spielte dabei auch eine Rolle, dass Kevin für die Ermittlungsbehörden kein unbeschriebenes Blatt ist.

      Als Kevin zwei Tage nach der ersten Aussage von Claudia S. festgenommen wurde, haben die Polizisten Cheri mitgenommen und ihr mitgeteilt, dass sie sie abholen könne.

      Claudia S. beschließt deshalb, sofort nach Berlin zurückzukehren, und schlüpft wieder bei Anke unter. In Rostock fühlt sie sich sowieso nicht mehr sicher. Die Angst ist wieder da, fast wie am ersten Tag.

      Als sie zehn Tage später bei der Anwältin am Besprechungstisch sitzt, will sie eigentlich nur eins: ihre Anzeige zurücknehmen.

      Sie sitzt da in ihrem kleinen Pelzjäckchen, hat Cheri auf dem Schoß, spricht leise, viel zu schnell, nervös. Wenn es bei der Anwältin klingelt, zuckt sie zusammen. »Die werden mich finden und fertigmachen. Ich werde nichts sagen über die Drogen, nichts über die ganzen Verbindungen. Aber das wissen die ja nicht. Es ist ein absolutes Tabu, man wendet sich einfach nicht an die Bullen, nie, unter keinen Umständen. Wie konnte ich nur so blöd sein!«

      Aber sie kann die Anzeige nicht einfach zurücknehmen.

      Eine Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt. Wenn eine sexuelle Nötigung mit Gewalt oder besonders erniedrigend erfolgt, was etwa bei dem Eindringen in eine Körperöffnung der Fall ist, ist sie mit einer Mindeststrafe von ein bis zwei Jahren belegt, wenn sie sogar konkret lebensbedrohlich war, mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren. Bei solch schweren Straftaten liegt es nicht in der Hand der Betroffenen, zu entscheiden, ob das Verfahren durchgeführt wird oder nicht. Sobald die Ermittlungsbehörden von einer solchen Straftat hören, müssen sie ermitteln, unabhängig von dem Wunsch der Betroffenen. Diese sind verpflichtet auszusagen, selbst wenn sie dies aus welchen Gründen auch immer nicht möchten. Es gilt den staatlichen Strafanspruch zu erfüllen, nicht das Interesse der Einzelnen. Dabei wissen viele Betroffene, dass gerade bei Sexualdelikten oder bei Delikten im häuslichen oder sonstigen Nahbereich die Verfahren äußerst belastend sind, ihnen massives Misstrauen begegnet und sie retraumatisiert werden können. Viele Opferhilfeorganisationen und Anwält*innen, die in diesem Bereich tätig sind, diskutieren seit Jahren, ob der Strafprozess der richtige Weg für die Betroffenen ist oder man ihnen von der Erstattung von Strafanzeigen abraten sollte.6 Aber was käme stattdessen? Sollte man ganz auf Strafverfahren verzichten und für die Betroffenen allein auf Entschädigungsverfahren setzen, wie es liberale Strafverteidiger*innen fordern?7 Sinn, Zweck und Wirkung von Strafen ist durchaus umstritten, aber eine gute und schlüssige Antwort darauf, wie man mit dem Massenphänomen der sexualisierten und physischen und psychischen Gewalt gegen Frauen umgeht, gibt es aus progressiver Sicht bisher nicht. Besorgniserregend ist, dass konservative und extrem rechte Organisationen in diese Lücken drängen und sich als überwachende und/oder ausführende Macht anbieten. Dabei fordern sie wahlweise mehr Polizei und einen starken Staat oder auch die Bildung von Bürgerwehren.8

      Kevin sitzt in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft will das Verfahren schnell durchführen, sie schreibt schon an der Anklageschrift. Ein erster Haftprüfungsantrag von ihm wurde bereits zurückgewiesen, erst einmal bleibt er in Haft.

      Die Anwältin weiß, über wen sie Kontakt zu denen aufnehmen kann, vor denen Claudia S. Angst haben muss. Sie kennt die Anwälte, die für Kevins Bosse arbeiten. Es ist ein unverbindliches, wie zufälliges Gespräch, das sie ein paar Tage später im Anwaltszimmer führt. Sie trifft einen »bestimmten« Kollegen wie beiläufig am Kaffeeautomaten und erzählt ebenso beiläufig, dass sie von Claudia S. mandatiert sei. »Ich weiß ja nicht, ob du Herrn O. in dem Vergewaltigungsverfahren vertrittst, aber möglich wäre es ja. Mir und meiner Mandantin ist wichtig zu betonen, dass es nur um die Vergewaltigung gehen wird, ansonsten gibt es nichts zu erzählen für sie, gar nichts.« Der Kollege sieht sie an, anscheinend irritiert, und sagt, dass

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