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Planeten verstanden die mittelalterlichen Weisen alle »wandelnden Sterne«, welche im Gegensatz zu den Fixsternen ihre Position am Himmel verändern. Sieben solche Wandelsterne konnten sie ausmachen: die erdnahen Planeten wie Mond, Merkur und Venus und die erdfernen wie Mars, Jupiter und Saturn. Die Sonne galt dabei als das Herz des Systems, als der mittlere Planet (STORL 1994:167).

      Im Gegensatz zu unseren Astrophysikern stellten sich die alten Astronomen die Planeten weniger als stofflich-materielle Körper in orbitaler Bewegung vor, sondern als ineinander fließende, schöpferische Energien. Man war überzeugt, das ganze Dasein sei aus den sieben planetarischen Wirkkräften gewoben, und der Botaniker, der sich auskannte, konnte an der jeweiligen Pflanze recht gut ablesen, welche dieser Kräfte in ihr wirksam sind. Zwar sind alle sieben Kräfte an der Entwicklung einer jeden Pflanze beteiligt, aber je nach Art dominiert einmal der eine und ein andermal der andere Planet. Der pflanzenkundige Apotheker konnte also durchaus von saftigen Mondgewächsen, schnell wachsenden Merkurpflanzen, lieblichen Venuspflanzen, süßen, ölhaltigen, safrangelb blühenden Jupitergewächsen oder trockenen, dunklen Saturngewächsen sprechen.

      Bei der Brennnessel – da herrscht unter den alten Botanikern kein Zweifel – handelt es sich eindeutig um eine Marspflanze. In ihren positiven wie in ihren negativen Eigenschaften gibt sie die Signatur des heißen, feurigen Planeten zu erkennen. Wir sollten uns diesen Planetengott etwas näher anschauen.

      Mars ist der archetypische Krieger, der Eroberer. Bewaffnet tritt er auf. In allen stacheligen, spitzen, stechenden, scharf brennenden Pflanzen erkennen wir seine Signatur. Seine Pflanzenkinder sind keine wässrig aufgedunsenen, weichen Gewächse, wie sie etwa der Mond hervorbringt, und auch keine schleimigen, schlangenähnlichen Schlingpflanzen, wie sie dem Merkur angehören, sondern Gewächse mit streng geordneter Physiognomie – eben wie die Brennnessel. Mit ihrem kerzengeraden vierkantigen Stängel und den geordneten, gegenständigen Blattpaaren, die sich rhythmisch von Knoten zu Knoten dem Blütenpol zu bewegen, mit ihren spitzen Brennhaaren ist sie ganz die Erscheinung eines Kriegers oder Soldaten, der in strenger Selbstzucht verharrt.

      Auch die Blüten haben nichts Verschwenderisches, nichts Prahlerisches an sich. Sie haben weder Farbe noch Nektar noch einen besonderen Duft. Sie kleiden sich, wenn man so will, in ein schlichtes Feldgrau. Und dennoch hat die Brennnessel bezaubernde Farben. Nur hat sie diese auf Armeslänge von sich geschoben – sie wird umflattert von den schönsten bunten Schmetterlingen, von dem rötlichen Kleinen Fuchs, von dem Landkärtchen, dem Tagpfauenauge und dem prachtvollen Admiral. Die Raupen dieser Falter ernähren sich mit Vorliebe von den Blättern der Nessel.

      Zu der Signatur des Mars gehört die feurige Hitze. Die galenischen Humoralpathologen der Antike und des Mittelalters erkannten in der Brennnessel, dieser typischen Marspflanze, ein heißes, trockenes »Temperament« des dritten Grades. Das ist sehr heiß. Entsprechend verordnete man sie, wenn es galt, etwas zu erwärmen oder auszutrocknen, etwa bei Milzverhärtung, Steinleiden, kalten Geschwüren, Asthma, Brustfellentzündung oder Lungenentzündung. Aber auch bei verschiedenen hitzigen Erkrankungen und Fiebern fand sie Anwendung nach dem (homöopathischen) Prinzip, man solle Gleiches mit Gleichem heilen. Schon Plinius, der römische Schriftsteller, der das Naturwissen der Antike zusammentrug, schrieb, dass die Wurzel der Herbstnessel, dem Kranken aufgebunden, das drei- oder viertägige Fieber heile. Man müsse aber beim Ausgraben der Pflanze den Namen des Kranken nennen und ihr sagen, wessen Sohn dieser sei.

      Es ist noch gar nicht so lange her, dass man in ländlichen Gebieten versuchte, sämtliche Fieber auf dieses feurige Kraut zu übertragen. Auch wurde die Pflanze dabei rituell angesprochen. So sollte der Fiebernde drei Tage hintereinander, vor Sonnenaufgang und abends nach Sonnenuntergang, zum Nesselhorst gehen und sagen:

      »Guten Morgen (bzw. Guten Abend) liebe Alte!

      Ich bringe die Heiße und Kalte.

      Mir soll es vergehen.

      Du sollst es bekommen!«

      Oder der Fiebernde bestreute die Pflanze mit Salz und sprach:

      »Ich streue den Samen durch Christi Blut.

      Es ist für 77erlei Fieber gut!«

      Als Medizin gegen »Hitze und Brand« bei Mensch und Vieh grub man zu Mariä Himmelfahrt Brennnesselwurzeln aus, die unter einer Dachtraufe wuchsen, trocknete sie und verrieb sie mit Schneckenschalen und einem Schädelstück zu Pulver. Zum Einreiben gefrorener Glieder hingegen wurden Brennnesseln vor Sonnenaufgang gepflückt und in Öl gesotten. Derartige Rezepte könnten beliebig aufgezählt werden. Der kritische Zeitgenosse mag da die Nase rümpfen und ungläubig den Kopf schütteln – dennoch, in den Zauberrezepten der alten Volksmedizin liegt sicherlich ein Quäntchen Wahrheit. Beim genaueren Hinsehen entpuppt sich der Aberglaube als überaus wirksam, wenn er von einer gesellschaftlich getragenen Erwartungshaltung begleitet wird.

      POTENZ UND FEURIGE LIEBE

      Die traditionellen Kräuterkundigen lehrten, dass jeder Planet am Pflanzenwachstum beteiligt ist: der Mond am Keimen und am Wurzelwachstum, Merkur am Aufschießen der jungen Triebe und Sprossen, Venus an der Entwicklung des grünen Laubs, der Blüten- und Fruchtblätter. Mars ist als Verkörperung der männlichen Sexualität in den Staubblättern und im befruchtenden Blütenstaub vorhanden. Wenn Mars und Venus sich als Ovum und Pollenkorn vereinen, kommt Jupiter zum Zuge. Er lässt die Frucht anschwellen und ausreifen. Zuallerletzt kommt Saturn daher. Er bedeutet den Tod der Pflanze, zugleich aber trägt er als kosmischer Sämann die Saat durch den Winter in die kommende Jahreszeit, wenn die Vegetation erneut ergrünt.

      Nach dieser Anschauung müsste die Brennnessel als Marspflanze besonders potent sein und besonders viel Blütenstaub erzeugen. Diese Vermutung trifft durchaus zu. Die Große Brennnessel ist, wie ihr lateinischer Artname dioica andeutet, zweihäusig: das heißt, die Staubblüten und die Fruchtknoten befinden sich in »zwei verschiedenen Häusern«, also auf getrennten »männlichen« und »weiblichen« Pflanzen. Zur Befruchtung muss der Wind den Pollenstaub auf die begattungsbereiten Narben tragen. Weht aber kein Wind, was kümmert’s diese Marspflanze! Die Spannung in den männlichen Blütenhüllen ist dermaßen stark, dass die Staubbeutel bei der ersten Berührung der morgendlichen Sonnenstrahlen nach außen schnellen und explosionsartig eine kleine Wolke Blütenstaub in die Luft schleudern. Wenn man sich die Zeit nimmt, kann man diesen Vorgang gut beobachten.

      Früher, ehe es eine wissenschaftliche Botanik gab, wusste man noch nicht, dass diese Pflanze zweihäusig ist. Aber an ihrem erotischen Drang bestand kein Zweifel. Sie braucht ein weibliches Gegenüber. So meinte man, die Nessel nehme sich die sanfte weißblütige Taubnessel (Lamium album) zur Frau. Und genau so, wie man die Taubnessel als Venusgewächs bei weiblichen Unterleibsstörungen (Weißfluss, Menstruationsstörungen, Blasenentzündung) einsetzte, wurde ihr Buhle, die Marspflanze, bei Potenzstörungen des Mannes empfohlen. Überhaupt galt die Brennnessel als sicheres Liebes- und Lenzmittel. Darauf deutet auch die auf keltischer Überlieferung basierende Blumensprache der Minnesänger hin: »Wer heiß brennende Liebe in seinem Herzen fühlt, soll die sengenden Nesseln tragen.«

      Mit der Pflanze konnte man dem oder der so innig Begehrten eine unausweichliche, »heiße, brennende Liebe« anzaubern. Dazu musste man an einem Freitag, dem Tag der Liebesgöttin Venus, vor Sonnenaufgang heimlich auf eine Nesselstaude urinieren, den Namen des oder der Begehrten aufsagen und die Pflanze mit Salz besprengen. Nach Sonnenuntergang desselben Tages grub man die Nessel aus, legte sie in die Glut und beschwor drei Dämonen:

      »Öl, Ammel und Ingrimm,

      So wie die Nessel hier brennt,

      So brenne auch sein (ihr) Herz nach mir!«

      Wenn wir annehmen, dass Gedanken und Wünsche eine Art von Energie darstellen und dass es so etwas wie Telepathie gibt, dann hat man mittels dieses Rituals gewiss eine Wirkung erzielt. Der davon Betroffene, der vermutet, auf diese Art und Weise verzaubert worden zu sein, vermag sich dennoch zu wehren: Wenn er etwas Johanniskraut oder eine Wegerichwurzel bei sich trägt, wird man ihm nichts anhaben können.

      Die Brunst des Mars ist also nicht nur eine physische,

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