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alle Evangelisten neben der Augenzeugenschaft eine Art zweite Basis der Glaubwürdigkeit. Sie liegt in der Annahme, dass alle wichtigen Ereignisse im Alten Testament, also in den heiligen Schriften der Juden, »vorhergesagt« worden waren. Wichtige Passagen der Evangelien wie etwa die Passionsgeschichte lesen sich (schon bei Markus) wie aneinandergereihte Zitate aus den Propheten sowie den Psalmen. Wir werden dem bei der Weihnachtsgeschichte wiederbegegnen. Man kann sicher sagen, dass die damaligen Leser/Hörer in diesen Vorhersagen eine besonders starke Basis der Glaubwürdigkeit sahen, vielleicht sogar stärker als in der Berufung auf Augenzeugen. Von heute her gesehen kann man sich darüber nur wundern, denn sämtliche »Vorhersagen« sind äußerst vage, einige beruhen auf schlichter Fehlinterpretation. Den Musterfall dafür bietet die Jungfrauengeburt. Denn die Berufung auf den Propheten Jesaja erledigt sich für jeden Kenner des Hebräischen dadurch, dass im originalen Text das Wort almah steht, das nicht ›Jungfrau‹ bedeutet, sondern lediglich ›junge Frau‹.

      Davon später mehr. Hier interessiert etwas anderes. Wenn es keine wirkliche Augenzeugenschaft gibt und die Voraussagen keine sind: Was besagt dies über die »Wahrheit« der Evangelien? Sind sie eben doch Fälschungen, wie es Kritiker seit der Aufklärung behauptet haben? In gewissem Sinne schon. Aber dies rechnet zu wenig mit den erzählerischen Möglichkeiten der damaligen Zeit, die den uns geläufigen Unterschied zwischen Wahrheit und Fiktion nicht machte, sondern an einem »Gesamtbild« oder einer »Gesamterzählung« arbeitete, die ihre Wahrheit mit beiden Elementen konstruierte, mit Historischem und Mythischem. Dies gilt auch für die Lehren Jesu in Form von Gleichnissen und Reden, die früh gesammelt wurden, wobei die authentischen Worte dennoch kaum oder nur sehr schwer zu rekonstruieren sind. Die Bergpredigt beispielsweise, die Matthäus in ihrer ausführlichsten Form wiedergibt, könnte im »Original« eine Sozialutopie enthalten haben, bei der Jesus seinen Zuhörern konkrete Landversprechungen machte. Lukas gibt sie ebenfalls wieder, als »Feldrede« mit stark abweichenden Äußerungen, die jedoch einen ähnlichen sozialutopischen Kern enthalten, angereichert durch ein ausgesprochenes Steckenpferd von Lukas: die Hochschätzung der Armut. Es spricht viel dafür, dass Jesus eine solche Rede gehalten hat. Nur wurde sie in der Überlieferung sofort dem Strom des eigenen Erzählens zu- oder untergeordnet.

      Um es auf den Punkt zu bringen: Die Evangelisten griffen auf Berichte zurück, die Historisches mit Mythologischem in für sie nicht zu durchschauendem Gemenge präsentierten. Ganz sicher hatte sich in der Wahrnehmung der Ereignisse schon Grundlegendes geändert. Der historische Jesus war von einem kurz bevorstehenden Weltende überzeugt gewesen, predigte zu einer radikalen Umkehr angesichts der »Tatsache«, dass ohnehin bald alles vorbei sei. Das musste gut zwei Generationen später, als nichts passiert war, korrigiert werden. Die Botschaft lautete jetzt »nur« noch: Glaube an die Auferstehung und das ewige Leben im Vertrauen auf Jesus als den Erlöser. Die dazu passende »Erzählung« war im Gerüst da. Die ersten Jünger, die wirklichen Augenzeugen, hatten diese Erzählung entwickelt und mit den Elementen ausstaffiert, die Glauben erwecken sollten. Dann wurde weitergearbeitet, weitererzählt. Die Weihnachtsgeschichte war die erste neue Zutat, die zur Grunderzählung hinzukam. Lukas und Matthäus wussten um das Mythologische ihres Erzählens (weil sie es ja selbst entwickelt hatten), während sie die vorhandene Mythologie wohl für historisch hielten. Ihre Leser bzw. Hörer nahmen dann auch die neue Mythologie für historisch hin.

       Lukas

      Lukas also hat sich die Geburt im Stall ausgedacht, aber nicht aus der Luft gegriffen. Die Theologen pflegen von »Sondergut« zu sprechen, weil die Szene bis auf die Lokalisierung in Betlehem von sonst niemandem berichtet wird. Aber das besagt nichts über das genauere Vorgehen von Lukas. Dazu muss man zunächst etwas über ihn wissen.

      Das wird schwierig und provoziert deshalb Spekulationen. Trotzdem: Es hat schließlich diesen Evangelisten gegeben, der im Text selbst nicht seinen Namen nennt, sich nur in die »vielen« einreiht, die schon Berichte verfasst haben. Dafür wissen wir, dass der »Unbekannte« nicht nur das Evangelium, sondern auch eine Art Fortsetzung geschrieben hat: die Apostelgeschichte, auch wenn diese beiden Teile eigenartigerweise nie zusammen überliefert wurden. Es existiert also von einem einzigen Verfasser ein Doppelwerk, von dem man weiterhin weiß, dass es einen bestimmten Zweck zu erreichen suchte. Der Verfasser hat die beiden Bücher nämlich jemandem gewidmet, den er als »hochverehrten Theophilus« anspricht. Falls auch dieser Theophilus existierte (und nicht lediglich seiner wörtlichen Bedeutung nach ein »Gottesfreund«, wie es letztlich jeder angenommene Leser sein sollte), könnte er ein vornehmer Mann gewesen sein, der sich für die Christen interessierte, vielleicht erste Kenntnisse vertiefen wollte. Der Unbekannte hätte dann das Evangelium als eine Art private Überzeugungsarbeit geschrieben, als Probe der »Zuverlässigkeit der Lehre«, in der der Adressat bislang schon »unterwiesen« wurde. Ein gefestigter Christ schrieb also nach dieser Vermutung für einen noch nicht Gefestigten.

      Aber etwas weiter kommt man doch. In der Apostelgeschichte unseres vorläufig Unbekannten ist von einem Mann namens Lukas die Rede, den Paulus auf seinen Reisen mitnahm und im Brief an die Kolosser als seinen »geliebten Arzt« bezeichnet. Die alte Kirche war davon überzeugt, dass es sich dabei um den Evangelisten handelte. Zwar hat die spätere Forschung herausgefunden, dass dieser Lukas in den Berichten seiner Apostelgeschichte nicht immer genau mit dem übereinstimmt, was Paulus in seinen Briefen schreibt. Man kann dies aber auch so erklären, dass Lukas nur zeitweise mit Paulus zusammen war, ihn immer wieder verließ bzw. aus den Augen verlor. Nur wo Lukas in der ersten Person als »ich« berichtet, könnte es sich um gemeinsam Erlebtes handeln, während die »wir«-Berichte auf einen Zuträger zurückgehen. Alles sehr unsicher, aber auch nicht ganz so wichtig. Jedenfalls wusste Lukas, wie wir unseren Unbekannten nun doch mit fast zwei Jahrtausende alter Tradition nennen wollen, einiges über den historischen Jesus, wenn schon nicht aus erster Hand, so doch aus sehr guter Quelle. Und er hatte eine klare Vorstellung davon, dass das Christentum es geschafft hatte, überall Verbreitung fand, sogar in Rom als der Endstation der Apostelgeschichte, wo Lukas möglicherweise seine Werke verfasste.

      Natürlich fragt man sich, wer dieser Lukas war, zum Beispiel ursprünglich ein Jude, der Christ wurde, oder doch eher ursprünglich ein Heide. Für Letzteres spricht, dass Lukas unter den Evangelisten das stilistisch beste Griechisch schrieb, jedenfalls wenn er frei war wie in der Einleitung, die einige Eleganz zeigt. Im Text selbst lehnt er sich sehr eng an Markus an, als wolle er jede Erfindung abweisen, was dann auf ziemlich schlechtes Griechisch hinausläuft, weil Markus wirklich Jude war, der möglicherweise sogar ursprünglich hebräisch bzw. aramäisch schrieb. Das sieht man an typischen Formeln wie »Es begab sich aber«, auch an der Nebeneinanderstellung von Hauptsätzen statt Unterordnung mit entsprechenden Konjunktionen – was Lukas dann brav nachahmt, als sei mit solchen Plumpheiten die Wahrheit erwiesen.

      Buchmalerei eines Meisters der Fuldaer Schule: Der Evangelist Lukas, um 840

      Auch etwas anderes passt bei Lukas trotz seines großen Interesses an Israel (und der bedauerlichen Trennung als Teil seiner Geschichte) eher nicht zum gebürtigen Juden. Lukas kennt sich zwar in deren heiligen Schriften bestens aus, kopiert förmlich Sprüche der Propheten und Psalmen ein, aber dann fiel Forschern auf, dass ihm das Lokalkolorit von Palästina kaum bekannt war. Als er etwa über die Heilung eines Gelähmten berichtete, fand er bei Markus durchaus das Passende vor, wenn dort davon die Rede ist, dass man den Kranken durch das Dach des Hauses herabließ, weil es offenbar aus Lehm bestand, in dem man leicht eine Öffnung herstellen konnte. Lukas hat vielleicht nicht genau hingesehen oder es sich anders nicht vorstellen können, jedenfalls spricht er von Ziegeln, die man abnahm – Ziegeln, die es im abgelegenen Palästina schlicht nicht gab.

      Man muss sich Lukas wohl als einen weltläufigen Intellektuellen vorstellen, einen »Hellenisten«, wie man in der damaligen globalisierten Welt solche Menschen aufgrund der von den Griechen (Hellenen) dominierten Kultur nannte, ob nun ein jüdischer oder ein heidnischer Hellenist. Wie er Christ wurde, wissen wir nicht. Bei Markus und Matthäus sind sich die Experten sicher, dass sie ursprünglich Juden waren, bei Lukas eben nicht. Nur seine profunde Kenntnis des Alten Testaments, das er allerdings auf Griechisch las, spricht für ursprüngliches Judentum. Sagen wir bei dieser Gelegenheit,

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