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bemerkte ich erst, wie groß und schlank sie war – man konnte schon fast von Modelmaßen sprechen. Mit einem Lächeln auf den Lippen verkündete sie: »Neues Schuljahr, neues Glück. Ich habe eben mal auf die Klassenliste geschaut, aber bis auf Andrew und Mary hatte ich vorher noch keinen von euch im Unterricht. Deshalb werde ich jetzt erst mal euer Können überprüfen, um die Leistung des Kurses besser einschätzen zu können.«

      Als ein leises Raunen durch den Raum ging, fügte sie noch schnell hinzu: »Keine Angst, nichts Schwieriges.«

      Sie holte einen Stapel Folien vom Lehrerpult. »Wie ihr hier seht«, sagte sie, während sie die erste Folie auflegte, »wird unser erstes Thema, mit dem wir uns dieses Halbjahr beschäftigen werden, Zeichnen sein.«

      Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Juhu, Zeichnen! Genau wie ich gehofft habe.

      »Ihr werdet vier Monate Zeit bekommen, da wir uns ja leider nur jede zweite Woche sehen und noch ein paar Stunden ausfallen, um eine Ganzkörperzeichnung eures Banknachbarn anzufertigen.«

      Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, wurde der Geräuschpegel deutlich höher, da alle schon wild mit ihren Nachbarn diskutierten. Die meisten schienen sichtlich erleichtert und glücklich. Nur ein paar wenige verzogen den Mund beim Anblick ihres Gegenübers und wollten gerade schon anfangen zu tauschen, als Ms Carrol sich wieder zu Wort meldete und verkündete, dass alle an ihren Plätzen bleiben müssten.

      »Wenn ihr euren Nachbarn noch nicht kennt, dann habt ihr ja genug Zeit ihn kennenzulernen«, sagte sie schließlich und zwinkerte zwei Jungen in der ersten Reihe zu. Während sich alle wie wild unterhielten, schaute ich immer wieder von Ms Carrol zu dem leeren Platz neben mir und fühlte mich seltsam alleine und unwohl.

      »Ich möchte, dass ihr mehr über denjenigen neben euch in Erfahrung bringt und ihn so darstellt, dass jeder direkt sieht, was ihn auszeichnet«, fuhr unsere Lehrerin fort und legte nacheinander ein paar Folien auf, die Beispielbilder von einer anderen Klasse zeigten. »Ihr könnt also den Ort selbst aussuchen und auch frei bestimmen, welche Gegenstände die Person auf der Zeichnung gegeben falls bei sich trägt.«

      Etwas unsicher blickte ich immer wieder von einigen Schülern um mich herum zur Tafel, dann wieder zu dem leeren Platz neben mir und schließlich zu Ms Carrol. Als sich unsere Blicke zufällig trafen, machte sie ein überraschtes Gesicht, warf einen Blick auf die Klassenliste und kam schließlich lächelnd auf mich zu.

      »Hi, ähm…wie war dein Name nochmal?«

      »Anjuli Aishani. Ich bin neu an der Schule«, antwortete ich, während ich in ihre großen blauen Augen blickte.

      »Also gut, Anjuli. Darf ich mich kurz zu dir setzen?«

      Ich nickte und rückte ein Stück zur Seite, um ihr Platz zu machen.

      »Wie du wohl auch schon bemerkt hast, ist der Platz neben dir heute leer. Ich habe aber gerade in der Klassenliste nachgezählt und ihr seid 20 Schüler. Dein Banknachbar ist heute also wahrscheinlich nur verhindert und wird in der nächsten Stunde wohl hoffentlich hier sein und dann könnt ihr auch mit dem Ideensammeln anfangen.«

      Ich wusste nicht, ob ich erleichtert oder doch eher enttäuscht sein sollte. Was ich aber auf jeden Fall spürte, waren Aufregung und Neugier, die mein Herz schneller schlagen ließen, ohne überhaupt zu wissen, wer mein Nachbar sein würde. Ich hoffte nur, dass wir einigermaßen miteinander auskommen würden und konnte gar nicht erwarten, es in zwei Wochen endlich herauszufinden. Während ich mir bereits ausmalte, wie er oder sie aussehen könnte, hatte ich Ms Carrol neben mir schon fast vergessen und erschrak leicht, als sie plötzlich wieder mit mir sprach.

      »Sonst hast du die Aufgabenstellung aber verstanden oder ist dir noch was unklar?«

      »Ich denke, ich habe alles verstanden. Danke.«

      »Schön, das freut mich. Wann bist du denn hierher gezogen, wenn ich fragen darf?«

      Es verunsicherte mich etwas, dass sie so viel Interesse an mir zeigte, ließ sie jedoch auch sehr freundlich und menschlich wirken. »Wir sind erst letzte Woche aus Portland hergezogen.«

      »Wirklich, Portland?«, fragte sie sichtlich überrascht. Ich nickte kurz und war gespannt, was daran so interessant sein sollte. »Dort ganz in der Nähe habe ich früher als Kind auch gewohnt. Wunderschöne Gegend.« Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und lächelte, so als würde sie sich gerade an die schöne Zeit zurückerinnern. Überrascht schaute ich sie von der Seite an.

      »Und wieso sind sie jetzt hier, ausgerechnet in Floresville?«

      Okay, Floresville hatte schon seine Vorzüge. Ein kleines ruhiges Städtchen, im Herzen von Texas, umgeben von Wäldern, mitten in der Natur. Allerdings musste man etwa hundert Kilometer bis zur nächsten großen Stadt und sogar hundertsechzig Kilometer bis nach Austin, der Staatshauptstadt, zurücklegen und war somit doch sehr isoliert. Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass jemand, der ursprünglich aus Portland kam, an Floresville Gefallen finden konnte. Schließlich war meine Heimatstadt mit mehr als einer halben Millionen Einwohnern die größte Stadt des Bundesstaates. Auch mit der Lage konnte Portland punkten: Ganz im Nordwesten der Vereinigten Staaten, nur einen Katzensprung von der kanadischen Grenze oder der Metropole Seattle entfernt und außerdem nicht weit vom Pazifik. Die beiden Städte im Vergleich waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.

       Ich hoffe, es wird mir nicht allzu schwer fallen, mich umzugewöhnen.

      Ms Carrol erklärte mir kurz, dass sie sich mit sechzehn in einen Jungen aus dieser Gegend verliebt hatte und schließlich für ihn hierhin gezogen war. Ziemlich mutig, dachte ich mir und hing noch meinen Gedanken nach, als sie schon wieder aufstand, um einigen anderen Schülern zu helfen. Den Rest der Stunde verbrachten alle damit, sich wild mit ihren Partnern zu unterhalten, Skizzen zu zeichnen und ihre Ideen auszutauschen.

       Alle außer mir.

      Ich saß still und alleine auf meinem Platz, dachte über den Tag nach und wartete, bis es endlich zum Schulschluss klingelte.

       Zur gleichen Zeit, etwas weiter entfernt:

       Der Hunger quält ihn, macht ihn schwach und träge. Seit drei Dutzend Stunden hat er nichts mehr zu sich genommen.

       Den ganzen Tag hat er damit verbracht, etwas Essbares zu suchen – doch vergebens. Der Wald scheint wie leer gefegt zu sein. Besonders, nachdem jetzt auch noch die Jäger ihr Unwesen dort treiben.

       Sie hatten damit rechnen müssen, dass ihre Anwesenheit eines Tages bemerkt werden würde, und doch ärgert es ihn. Er hat den Auftrag noch nicht zu Ende gebracht, er kann jetzt noch nicht gehen.

       So muss er wohl oder übel wieder auf die Notreserve zurückgreifen, auch wenn es gefährlich ist, da sein Diebstahl bereits bemerkt worden ist und er den Geschmack der kleinen Wesen verabscheut.

       Es ist ein Leichtes für ihn, den dünnen Maschendraht auseinanderzubiegen und eines der fauchenden Dinger zu entnehmen. Normalerweise tut er es nachts, im Schutze der Dunkelheit, doch er kann nicht riskieren, noch länger hungrig zu bleiben. Wenn ihm jemand begegnen sollte, kann er für nichts garantieren.

       So landet er vorsichtig auf dem Dach des Hauses und vergewissert sich, dass er unentdeckt geblieben ist. Vor dem Alten muss er sich nicht fürchten, den nimmt keiner mehr für voll, doch vor den Nachbarn sollte er sich in Acht nehmen.

       Fast lautlos gleitet er die Dachrinne hinab, landet leichtfüßig und beugt sich über die kleinen Käfige. Sobald ihm der Duft des warmen pulsierenden Bluts in die Nase steigt, setzen seine Gedanken aus – sein Trieb handelt.

       Mit einem gezielten Schlag durchtrennt er den Draht und greift nach seiner Beute. Diese wehrt sich jedoch und erwischt ihn mit ihren Krallen. Leise flucht er.

       Dann ein weiterer einstudierter Handgriff und das Wesen liegt regungslos in seinen Händen. An der getroffenen Stelle hat sich ein hauchdünner Riss aufgetan, ein

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