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seine letzte Frage geben, da bemerkte ich seinen Gesichtsausdruck, der sich schlagartig von jetzt auf gleich verändert hatte.

      Seine Züge ließen erahnen, dass er die Augen geschlossen hatte, und ich konnte deutlich sehen, wie er die roten Lippen aufeinander presste, so als hätte er eine Fliege verschluckt und wollte sie auf keinen Fall wieder aus seinem Mund lassen.

      Verwundert sah ich ihm zu, wie er das Gesicht in den Wind hielt und kräftig einatmete. Mein Verstand musste mich täuschen, denn das, was ich da vor mir sah, erinnerte mich mehr an ein wildes Tier, das die Fährte seiner Beute aufnimmt, als an einen Menschen.

      Seine Hände verkrampften sich und ich konnte deutlich die blauen und grünen Adern erkennen, die sich darauf abzeichneten. Ich hatte Angst, sie könnten aufplatzen, so fest drückte er darauf. Völlig erschrocken trat ich einen Schritt zurück, um Abstand zwischen uns zu bringen. Angst um mich hatte ich in diesem Moment keine.

       Warum sollte dieser Mensch mich angreifen? Ich habe ihm nichts getan.

      Vielmehr sorgte ich mich um sein Wohlbefinden. Vielleicht hatte er einen Anfall? Ich biss mir leicht auf die Lippe, so wie ich es immer tat, wenn ich mir in einer Sache unsicher war, und fragte ganz leise:

      »Ist alles in Ordnung, Nathan?«

      Endlich entspannten sich seine Züge. Er schien wieder zu sich gekommen zu sein.

      »Ich muss los«, presste er zwischen den Lippen hervor. Anstatt mir zu versichern, dass alles klar war, wie es normale Menschen für gewöhnlich taten, verzog er das Gesicht, rückte seine Brille zurecht, während er einen unheimlich arroganten Blick aufsetzte und sich dann schließlich umdrehte und in schnellen Schritten den Parkplatz verließ. Zu meiner Überraschung, die durch dieses Verhalten sowieso schon riesig war, ging er jedoch nicht in Richtung Schule, sondern verschwand in ein anderes Gebäude, das ich jedoch noch nicht kannte. Ich überlegte einen Moment lang, ob ich ihm nachrufen sollte, verwarf diesen Gedanken jedoch schnell wieder. Ich würde aus diesem Jungen wohl so schnell nicht schlau werden. Außerdem war ich bereits mehr als spät dran und so eilte ich in das Schulgebäude, welches ich wohl für die nächsten zwei Jahre so gut wie täglich besuchen würde.

      In der großen Eingangshalle angekommen, zerrte ich den geknickten Stundenplan aus meinem Rucksack und versuchte vergeblich herauszufinden, in welchem Raum ich eigentlich schon vor dreißig Minuten hätte erscheinen sollen. Die Halle war verlassen. Keiner, den ich hätte fragen können. Natürlich nicht – alle saßen bereits im Unterricht. So blieb mir nichts anderes übrig, als noch einen kurzen Abstecher ins Sekretariat zu machen, um die zum Glück freundliche und verständnisvolle Mrs. Jacobs nach dem Weg zu fragen.

      Ich war leicht außer Atem, als ich endlich die Tür des Klassenzimmers erreichte, noch einmal tief durchatmete und dann leise aber hörbar anklopfte. Ein älterer Mann, graue Haare, Halbglatze, groß und schlaksig, öffnete mir und starrte mich mit zornigem Blick an. Er rückte seine altmodische Brille zurecht und verkündete spöttisch:

      »Ah, sie müssen zweifellos Miss Aishani sein, habe ich Recht? Wir haben Sie bereits erwartet.«

      Beschämt nickte ich, betrat den Raum und setzte mich kleinlaut auf den einzigen freien Platz, auf den Mr. Black, mein neuer Lehrer, mich verwiesen hatte. Ich spürte, wie alle Blicke auf mich gerichtet waren, während ich meine Jacke auszog, sie über den Stuhl hängte und mich schließlich darauf niederließ. Neben mir saß ein Junge, der mich mit schwarzen kurzen Haaren, grünen Augen und Sommersprossen anlächelte und sich als Daniel Reed vorstellte. Er schien nett zu sein und ich hoffte nur, dass er mir helfen würde, dieses grauenhafte Fach zu überleben.

      Mr. Black war nicht gerade der Mathelehrer, den ich mir gewünscht hatte, und um direkt zu demonstrieren, dass man bei ihm besser niemals zu spät kam, holte er mich auch schon an die Tafel und ließ mich eine verdammt schwere Aufgabe vorrechnen. So etwas Gemeines hatte ich an meinem ersten richtigen Schultag nun wirklich nicht erwartet. Ich würde mich zum Schulgespräch Nummer eins machen – jedoch nicht auf positive Weise.

      Ich wollte gerade verzweifeln, da ich nicht mehr weiter kam, als es plötzlich an der Tür klopfte. Wenige Sekunden später streckte Nathan seinen Kopf durch die Tür, setzte seine Sonnenbrille ab und murmelte etwas, dass wie »Entschuldigung, verschlafen«, klang. Mr. Black setzte dieselbe Miene auf wie auch bei mir vorhin und wies ihn zurecht.

      »Tja, tut mir leid, Mr. Hawk, aber ich fürchte, ihr Platz wurde soeben vergeben. Da Sie es ja sowieso vorziehen, gar nicht, oder wenn, dann viel zu spät zu meinem Unterricht zu erscheinen, denke ich, es macht ihnen bestimmt nichts aus zu stehen.«

      Verblüfft sah ich von Nathan, dessen Augen wütend funkelten, zu Mr. Black, der in der Ecke stand und zu seiner Genugtuung grinste.

      »Wie wäre es, Hawk«, fuhr er schließlich fort, »wenn sie gastfreundlich wären und für unsere neue Schülerin, Miss Aishani, diese Aufgabe zu Ende rechnen würden?«

      Ich atmete auf. Danke lieber Gott – ich bin gerettet.

      Mit gepresster Stimme würgte Nathan ein »Aber liebend gerne doch«, was mehr als zynisch klang, heraus und kam in Richtung Tafel auf mich zu. Ich reichte ihm die Kreide und ging auf meinen Platz zu. Gerade als ich mich wieder neben Daniel setzte, hörte ich noch ein leises »Vielen Dank« seinerseits. Von der schönen Melodie, die ich vorhin noch in Nathans Stimme vernommen hatte, war nun nichts mehr übrig.

      Ich verstand nicht, warum er sich so anstellte, an die Tafel zu müssen. Er gehörte zweifellos zu den wenigen Mathegenies, denn er rechnete die Aufgabe fehlerfrei und ohne langes Grübeln zu Ende.

      Bewundernd schaute ich ihm dabei zu. Er stand mit dem Rücken zur Klasse. Ich konnte nicht erkennen, welches Logo auf seine schwarze Jeans aufgenäht war, doch es musste zweifelsfrei eine teure Markenhose sein. Dazu trug er ein weißes Shirt, eine schwarze Lederjacke und abgenutzte, knöchelhohe Stiefel.

      Ein nahezu makelloses Bild gab er ab, wie er so da stand und in atemberaubender Geschwindigkeit unzählige Formeln an die Tafel kritzelte. Schon halb gefangen in einem herrlichen Tagtraum schreckte ich plötzlich hoch, als Mr. Black einmal in die Hände klatschte und Nathan mit einer Handbewegung zurück an die Tafel zitierte, um ihn auch noch den Rechenweg für die anderen Schüler erklären zu lassen.

      So wundervoll das Mathegenie auch von hinten noch ausgesehen haben mochte, als ich in sein ernstes und zugleich genervt dreinblickendes Gesicht schaute, verflog der Zauber, der ihn noch eben umgeben hatte. Ich kannte diesen Typ erst seit weniger als einer Stunde – wenn man überhaupt von kennen sprechen konnte – und er war mir schon jetzt unsympathisch. Als er vorhin durch die Tür gekommen war, hatte ich die Reaktionen seiner Mitschüler aus den Augenwinkeln mitverfolgen können. Die Mädchen hatten alle wie verzaubert in seine Richtung geschaut, was den Jungen etwas zu missfallen schien, doch auch ein paar von ihnen hatten Nathan mit einem Grinsen zugenickt. Es musste also noch eine andere Seite an ihm geben, die die Schüler der Floresville High School zu bewundern schienen.

      Als er gerade mit seiner Erklärung beginnen wollte, meldete sich die Schulklingel in der Ecke des Klassenzimmers und verkündetet das Ende dieser Stunde. Nathan war der erste, der den Raum verlassen hatte, ohne auf Mr. Black zu hören, der ihm laut nachbrüllte und wohl noch ein Wörtchen mit ihm reden wollte. Ich heftete mich an Daniel, folgte ihm aus dem Raum und atmete erleichtert auf, als ich auf dem Flur im dritten Stock stand und das Schlimmste an diesem Tag wohl zum Glück schon hinter mir hatte.

       Oder kann es noch schlimmer kommen?

      Mein Stundenplan kündigte Französisch für die nächste Stunde an. Daniel war wirklich hilfsbereit, zeigte mir den Weg zu dem Raum, hielt mir die Türen auf, die wir passierten, und beantwortete alle meine Fragen, die ich zwischendurch stellte. Ein echter Gentleman! Ich fühlte mich geschmeichelt.

      Die Französischstunde war schon viel angenehmer. Kein Wunder – Sprachen fielen mir im Allgemeinen leicht und Französisch war meine Lieblingssprache. Mit vierzehn hatte ich etwa ein halbes Jahr bei meinem Onkel Charly verbracht, der in Paris lebte, und in dieser Zeit mehr über Grammatik, Aussprache und Vokabeln gelernt als in drei Jahren Schulunterricht. Freundlich lächelnd begrüßte

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