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sein privates Glück gefunden, doch der Zustand der Sowjetunion bekümmerte ihn. Die neuen Töne aus dem Politbüro schürten Erwartungen. Die Erwartungen rüttelten am stabilen Fundament der Republiken. Überall bildeten sich Risse. Vor langer Zeit geschmiedete Allianzen drohten zu zerbrechen und riefen Gegenkräfte auf den Plan.

      Der Generalleutnant war wiederholt ins Verteidigungsministerium zitiert worden. Überall auf den Fluren tuschelte man. Die zweite Riege hinter Gorbatschow sah ihre Zeit gekommen. Ostrowski beschloss abzuwarten, als die Nachrichten verkündeten, Gorbatschow habe während seines Krimurlaubs beschlossen, aus gesundheitlichen Gründen zurückzutreten.

      Der Putsch war halbherzig gewesen und dilettantisch vorbereitet. Das Militär und die Paramilitärischen Einheiten der Geheimdienste verweigerten den Gehorsam. Jelzin schwang sich zum Retter der Nation auf und demontierte Gorbatschow unter dem Deckmantel der Solidarität. Glasnost und Perestroika regierten das Denken und Handeln. Unabhängigkeit und Demokratisierung waren Vorläufer der Privatisierung. Das Sowjetreich war den Raubrittern zum Opfer gefallen.

      Als man Ende 1991 Ostrowski erneut vorlud, ahnte er nicht, dass er entlassen werden sollte. Eine Säuberungswelle ging durchs Land. Russland hatte diese Wellen schon oft erlebt. Ostrowski hatte nicht gespürt, dass etwas gegen ihn im Gange war. Man warf ihm vor, ein enges Vertrauensverhältnis zu dem Armeegeneral Warennikow, dem ehemaligen stellvertretenden Verteidigungsminister, einem der Putschisten, unterhalten zu haben. Es gäbe Belege, dass Ostrowski Teil der Verschwörung gewesen sei. Er sei dazu ausersehen gewesen, den GRU auf der Seite der Putschisten in Stellung zu bringen. Man halte ihm zugute, dass er in letzter Sekunde gezögert habe. Deswegen werde er nicht inhaftiert und erhalte eine gekürzte Pension. Das zu unterzeichnende Schriftstück liege vor ihm auf dem Schreibtisch. Er habe 60 Sekunden, sich zu entscheiden. Danach erlösche das Angebot und man sei gezwungen, andere Mittel anzuwenden.

      Ostrowski hatte den gelangweilt wirkenden Technokraten angesehen und nach dem Füller gegriffen. Er war nur zu gut mit der Maschinerie vertraut, um nicht zu wissen, dass sein Schicksal beschlossene Sache war. Man händigte ihm die bereits ausgefüllte Versetzung in den Ruhestand aus. Sein Schreibtisch sei geräumt und die persönlichen Dinge seiner Frau zugestellt worden. Alles Weitere könne er einem Schreiben entnehmen, das ihm in den nächsten Tagen zugehe. Generalleutnant Ostrowski war 56 Jahre alt, als er der Sowjetunion in den Untergang folgte.

      Es folgte eine Zeit der Stille. Anna fragte nicht. Sie konnte die Wahrheit in dem Gesicht ihres Mannes lesen. Seine innere Unruhe bekämpften sie mit langen Spaziergängen und Theaterbesuchen. Freunde waren ihnen kaum geblieben, denn Männer wie Ostrowski galten als ansteckend. Anna nahm mehr Privatschüler für den Fagottunterricht an als üblich. Sie sagte, dass ihr die Arbeit Spaß mache, aber Ostrowski kannte den wahren Grund und er schämte sich, dass seine Pension für den Lebensunterhalt nicht ausreichte.

      Der völlige Zusammenbruch kam, als Jelzin seinen Gefolgsmann Luschkow auf den Bürgermeisterposten für Moskau hob. Luschkow hatte Macht, Pläne und Gier im Übermaß. Und er hatte Jelena Baturina zur Frau, die innerhalb kürzester Zeit zur ungekrönten Zarin der Bauunternehmer aufstieg. Das Privatvermögen des Paares schnellte in astronomische Höhen.

      Die Männer der Stadtverwaltung, die Ostrowski besuchten, machten wenig Umschweife. Man benötige das Stück Land der Ostrowskis für eine wichtige Baumaßnahme. Die Entschädigungssumme sei bereits festgesetzt. Das Ehepaar erhalte eine Ersatzwohnung im 8. Stock eines Plattenbaus außerhalb von Moskau. Bei einer Weigerung drohe die Enteignung und Räumung.

      Ostrowski widersetzte sich zum ersten Mal in seinem Leben einer behördlichen Anordnung.

      Als zehn Tage später der Schlägertrupp das zerstörte Haus am See verließ, griff man Ostrowski schreiend und blutüberströmt im Park auf. Er rammte seinen Schädel immer wieder gegen den Stamm einer Trauerweide, bis man ihn überwältigte und sedierte. Im Haus fand man Anna. Jedes Leben war aus ihren Augen gewichen. Man konnte nicht feststellen, wie oft sie vergewaltigt worden war.

      Die Behörden kümmerten sich um alles. Ostrowski wurde in ein Militärkrankenhaus verlegt und ruhiggestellt. Anna erhielt einen Platz in einer psychiatrischen Klinik für Traumapatienten. Die Polizei beeilte sich als Ermittlungsergebnis mitzuteilen, dass eine Bande verrohter Jugendlicher für den Überfall verantwortlich sei. Sogar der Bürgermeister Luschkow erwähnte den Vorfall in einer Pressekonferenz und verlieh seiner Abscheu vor der ,barbarischen Tat‘ Ausdruck. Er kündigte an, dass seine Ehefrau Jelena Baturina aus menschlicher Anteilnahme beschlossen habe, das verwüstete Grundstück zum Doppelten des Schätzpreises zu übernehmen.

      Seither war Ostrowski auf der Suche. Auf der Suche nach der großen Lösung. Die neue Wohnung in der Plattenbausiedlung war unmöbliert geblieben. Ostrowski benötigte keine Möbel. Er brauchte ein neues Leben. Ein neues Leben und Anna, die einen Stoffhasen umklammert hielt und ängstlich vor ihm zurückwich, wenn er leise mit ihr sprach.

      Ostrowski verließ die U-Bahn. Er zündete sich eine Zigarette an. Die Erste seit mehr als zwanzig Jahren. Er verschluckte sich und hustete. Er würde tun, was er tun musste. Er hatte sich entschieden; entschieden für ein neues Leben. Er würde Anna nicht zurücklassen. Das war er ihr schuldig. Ostrowski drückte die Zigarette aus.

      Zwanzig Minuten später gingen die ersten Fahndungsaufrufe bei den Dienststellen der Polizei ein. Gesucht wurde ein pensionierter GRU-Offizier, der soeben seine Frau erschossen hatte. Doch Ostrowski blieb verschwunden.

      London lag friedlich eingebettet im Herzen Englands und lebte seine Mixtur aus der vergangenen Größe eines weltumspannenden Empires und dem pulsierenden Finanzdistrikt, der sich geschickt gegen jeden Regulierungsversuch wehrte. London war ein Sinnbild für royale Pracht, für Tradition und für das Beharren auf einem eigenen Weg. London unterschied sich wie eine geschmückte Festung vom europäischen Festland. London war anders. War es schon immer. Es verkörperte England.

      Der Schock war unvorstellbar. Und er hielt an. Er verdoppelte sich von Minute zu Minute und jagte wie ein apokalyptischer Reiter um den Erdball. London hatte den Nordmännern, den Nazis und dem Euro getrotzt. Es hatte Eroberer hochmütig abgewiesen und sich jedem neuen Trend versagt. Es war ein Wahrzeichen für Stabilität und eine Trutzburg für gelebten Widerstand. Terroristische Anschläge und Finanznot hatten es nicht aus dem Gleichgewicht bringen können. London war unverwundbar. Bis jetzt.

      Als die dickbäuchige Transportmaschine vom Himmel fiel, dachte man an ein tragisches technisches Versagen. Eine Gruppe Schulkinder und ihr Lehrer hatten vom Pausenhof ihrer Schule beobachtet, wie die Maschine, aus Stansted kommend, ihr Fahrwerk einzog, dann eine Kurve beschrieb, sich schüttelte und kippte, in der Luft um Kontrolle kämpfte, als habe sich eine unsichtbare Riesenfaust um den Rumpf geschlossen und dann mit einem kreischenden Geräusch aus dem Sichtfeld verschwand.

      Ein Liebespaar aus Nancy, das in London seine Flitterwochen verbrachte, hätte die Szenerie mit seiner freien Sicht aus einer der Glasgondeln des ,London-Eye-Riesenrades‘ an der Themse anders dargestellt. Georgette und Karim hielten Händchen und wisperten verliebte Dinge, als das wuchtige Flugzeug abhob. Es war Georgette, die den Lichtblitz sah. Einen grellen, wabernden Blitz, als habe ein Elektrizitätswerk seine gesamte Kapazität in eine gewaltige Ladung gesteckt, die über die Stadt pulsierte. Als Karims Augen dem aufgeregten Finger Georgettes folgten, sahen sie die schräg nach unten weisende Schnauze eines Riesenflugzeugs und brennende Teile, die sich wie eine Leuchtspur über die Dächer Londons ergossen. Karim und Georgette hätten das Kreischen der Triebwerke bestätigt und die unnatürlichen Flugbewegungen, die wie Todeszuckungen eines Rieseninsektes aussahen. Doch Karim und Georgette konnten mit ihrer Aussage nicht zur Klärung des Phänomens beitragen. Eine Tragfläche und Teile des Triebwerks einer Passagiermaschine aus Singapur streiften das Riesenrad und amputierten es. Das ,London Eye‘ protestierte noch eine halbe Umdrehung lang, bevor es sich mit berstenden Metallstreben neigte und in die Themse stürzte. Georgette und Karim waren zu diesem Zeitpunkt nicht mehr am Leben. Nur ihr Peugeot stand unversehrt auf dem nahen Parkplatz und wartete. Aus dem Himmel regneten Passagiere des Singapur Airlines Fluges und durchschlugen in weitem Umkreis die Dächer von Wohnungen und Kaufhäusern.

      Die japanische Reisegruppe in

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