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bevor sich Fred orientieren konnte, beugte sich die junge Frau in der papageienhaft farbigen Kluft eines Fahrradkuriers über ihn.

      „Oh mein Gott, haben Sie sich verletzt?“ Die Stimme war hoch und ohne erkennbaren Akzent. Fred fühlte einen neuen Schmerz dicht über seinem Knöchel. Er ächzte. Eine weiche Hand strich ihm über das Gesicht. „Bleiben Sie liegen. Ich hole Hilfe. Es war meine Schuld. Ich bin zu schnell eingebogen und konnte die Spur nicht halten.“ Fred drehte seinen Kopf. Er sah eine schmale Schulter, die mit grünem Stoff bespannt war und ein Stück Fahrradhelm. Übelkeit wusch über ihn hinweg. Noch einmal zwang er sich, hinzusehen. Braune Augen mit Goldtupfen, dachte Fred verwundert, bevor sich das Gesicht wegdrehte. Freds Herz stolperte und es fiel ihm schwer Atem zu holen. Er würde unbedingt einen Arzt aufsuchen müssen, bevor er die Reise nach Frankreich unternahm, war Freds letzter Gedanke, bevor er starb.

      Der Fahrradkurier war verschwunden. Niemand hatte den Vorfall beobachtet. London hatte andere Probleme.

      Das Internet transportierte die verschlüsselte Nachricht über Freds Exekution nur wenige Minuten später.

      Moskau – drei Jahre nach dem Augustputsch 1991

      Generalleutnant Ostrowski stemmte sich gegen den Wind, der Moskau den nahenden Winter verkündete. Die Choroschowskoje Chaussee war von fast kahlen Bäumen gesäumt, die erst im nächsten Jahr wieder zaghaftes Grün tragen würden. Jetzt schienen sie Vorboten einer kargen Zeit zu sein, einer Zeit vergangenen Glanzes. Die wuchtigen Bauten an den Straßenrändern waren noch immer beeindruckend, aber man merkte den prächtigen Fassaden an, dass sie schon bessere Zeiten gesehen hatten.

      Ostrowski machte den Zerfall der Sowjetunion an den Fahrzeugen fest, die die Straßen Moskaus verstopften. Westimporte. BMW und Mercedes waren Statussymbole. Immer öfter sah man auch die riesigen SUVs, die ohne Respekt und Rücksichtnahme vorwärts pflügten. Die Verkehrspolizisten mit ihren unverkennbaren schwarz-weißen Stöcken hielten sich respektvoll zurück, wenn sich Fahrer mit blau und rot flackernden Lichtern und Sirenen näherten. Auch das ein Phänomen der neuen Zeit, in der Privatleute staatliche Hoheitssignale gebrauchten, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. ,Businessman‘ war das neue Schlagwort und ,Neue Russen‘, die sich mit einem über Nacht erworbenen sagenhaften Reichtum alles kauften – Landsitze, Flugzeuge, Politiker und Beamte. Die russische Seele war vergiftet worden und gierte nach Konsum und billigem Glück. Die Autos waren ein Gradmesser für den Werteverfall. In den Seitenstraßen und Vierteln mit den riesigen Wohnblocks, deren Balkone bröckelten, regierte die Hoffnungslosigkeit. Die Renten reichten nicht für das Existenzminimum, Familien zerfielen, Wodka übernahm die Rolle des Trösters. Die Neue Russische Föderation war ihrer Kornkammern, ihrer Häfen und Bodenschätze beraubt. Die industrielle Produktion strebte einem Nullpunkt entgegen, während Spekulanten und Finanzhaie Banken gründeten, Gewinne mit Immobiliengeschäften machten und sich Schlüsselindustrien für lächerlich kleine Summen unter den Nagel rissen. Das Land lag im Koma und wurde von westlichen Konsumgütern überflutet. Das Vaterland war besiegt. Besiegt von den Flüchen ,Glasnost‘ und ,Perestroika‘, die als russische Errungenschaften vermarktet wurden und doch Ausgeburten des Niedergangs waren. Die Gesundung würde einen radikalen Kurswechsel erfordern, wenn überhaupt noch eine Gesundung möglich war.

      Die KPdSU hatte ihren Auftrag verraten, das Politbüro war vor Reformern in die Knie gegangen, die Institutionen und Stützen der großen Sowjetunion hatten kapituliert, die Armee war ein armseliger Haufen mit einer veralteten Ausrüstung und ohne Moral. Dies war die Stunde des Gorbatschow Vermächtnisses. Mit Jelzin war es noch schlimmer gekommen. Russland blutete aus und verkaufte nach seiner Seele auch seinen Reichtum.

      Der Generalleutnant sah sich nach dem Verwaltungsblock um, aus dem er gekommen war. Russlandtreue Kräfte, Patrioten hatten sich getroffen, um eine vaterländische Rettungsidee zu entwickeln. Aber Ostrowski erschien die Initiative schwach und unkoordiniert. Alle hatten darin übereingestimmt, dass die letzten zehn Jahre rückgängig gemacht werden mussten. Ein Provinzpolitiker schwadronierte von einem Umsturz und dem Wiederaufleben der Atommacht Sowjetunion. Andere forderten die Rückkehr hinter den Eisernen Vorhang, um Kräfte zu schöpfen und den westlichen Einfluss zurückzudrängen. Für Ostrowski, der mit jedem einige ermunternde Worte wechselte, und sich im Übrigen zurückhielt, bot die Versammlung einen erbärmlichen Anblick. Die Netzwerke der Macht waren längst in andere Hände gelangt. Die Entscheidungen lagen bei jungen Technokraten, die an den Eliteuniversitäten der USA studiert hatten und ohne Loyalität zu ihrem Land aufgewachsen waren. Die alten Haudegen des Warschauer Paktes, die Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges gegen die Nazihorden, die Protagonisten einer Systemalternative zu dem marktwirtschaftlichen Chaos, das die Demokratisierung Russlands mit sich gebracht hatte, hatten aufgegeben. In Scharen waren sie zu jedem übergelaufen, der sie bezahlte. Sie waren zu Wissenschafts- und Waffensöldnern geworden, weil das Vaterland sie ausgespuckt und vernachlässigt hatte.

      Ostrowski beugte sich hinunter zu einem Mütterchen, das auf dem Gehsteig kauerte und bittend eine Tasse mit Sonnenblumenkernen feilbot. Alte Frauen wie diese sah man häufig wie Kehrichtbündel an den Ecken und vor den prächtigen Auslagen der Kaufhäuser sitzen. Ihre Augen waren leer und ihre Pose erstarrt. Die Fußgängerströme zogen vorbei, ohne die Ausgestoßenen zu beachten. Nur hier und da regte sich Mitleid und eine barmherzige Hand warf einer Hockenden ein paar Rubel zu. Das waren russische Rentnerinnen, Witwen, die die neue Zeit zu Bettlerinnen gemacht hatte. Einige von ihnen trugen Medaillen und Ehrenzeichen an ihren zerschlissenen Mänteln. Sie hatten ihre Männer und Söhne im Krieg verloren und selbst mit der Waffe gekämpft, bevor sie das Land wieder aufbauten.

      Ostrowski streichelte die faltigen Wangen des Mütterchens und steckte ihr gefaltete Geldscheine zu. Ihren gemurmelten Dank konnte er nicht mehr verstehen. Er war in Gedanken. Er musste eine Entscheidung treffen.

      Das letzte Mal, als er eine Entscheidung traf, hatte sich sein Leben zum Schlechten gewendet. Sein Vater, ein harter Mann mit ehernen Prinzipien, hatte seinen Sohn frühzeitig auf eine Karriere im Militär vorbereitet. Die Atmosphäre im Elternhaus des Jungen war kalt und distanziert gewesen. Der Vater hielt nichts von dem, was er ,Verzärtelung‘ nannte und erst viel später, als der Junge zum Mann geworden war, dämmerte es ihm, dass ihn sein Vater dafür verantwortlich gemacht hatte, dass die Mutter die Familie verließ, nachdem sie den Knaben auf die Welt gebracht hatte. Die Militärakademie hatte ihn geschliffen und geprägt, hatte ihn Verantwortung und Entbehrung, Ehre und Pflichterfüllung gelehrt. Viele seiner Kameraden gliederten sich in die Ränge der Armee ein, aber der junge Ostrowski zeigte mehr Ehrgeiz. Als der Militär-Nachrichtendienst GRU auf ihn aufmerksam wurde, zögerte der Kadett keinen Augenblick. Er absolvierte das harte Training der Kommandoeinheit für unkonventionelle Kriegsführung und Terrorismusbekämpfung, Speznas, klaglos und glaubte mit Hingabe an den Wahlspruch: ,In Euren ruhmreichen Taten liegt die Größe des Vaterlandes‘. So wurde der junge Ostrowski Teil der Hauptverwaltung für Aufklärung und ein Rad im ,Alles sehenden Auge‘. Schon bald machte er in der Verwaltungsebene Europa von sich reden.

      Ostrowski entschloss sich, noch einige Stationen mit der Filjowskaja Linie der U-Bahn zu fahren. Eine Touristentraube blockierte die Treppe und bestaunte die Pracht des U-Bahn-Schachtes, der eher an ein italienisches Opernhaus als eine U-Bahn-Linie erinnerte. Die Luft war abgestanden und schmeckte auf der Zunge nach Rauch und dem Abrieb von Bremsbelägen.

      Bis zum Sommer 1991 verfolgte Ostrowski einen geradlinigen Karriereplan. Er reiste viel, tat sein Möglichstes für sein Land und brachte Ordnung in sein Privatleben. Mit Anna war eine Frau an seiner Seite, die der Musik und den Künsten zugetan war. Sie hatte sich im Musikstudium dem Fagott als Hauptinstrument gewidmet und zusätzlich Kunstgeschichte an der Lomonossow-Universität belegt. Es störte sie nicht, dass sie als Lehrerin ein dürftiges Gehalt bezog. Es störte sie auch nicht, dass sie mit ihrem Mann, einem jungen Offizier des GRU, ein ehemaliges Gartenhaus im Chystye Prudy Seendistrikt Moskaus beziehen musste, weil die Appartements in den Satellitenvorstädten ihre finanziellen Möglichkeiten überschritten. Das junge Paar richtete sich ein, isolierte die Wände und heizte mit dem alten Kohleofen. Nach und nach modernisierten sie ihr Heim. Sie hielten aneinander und an ihren Idealen fest. Das genügte. Es genügte den meisten. Nur der Wunsch nach einem Kind blieb unerfüllt.

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