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16:1.

      Rose fühlte sich von ihrer Küche eingeengt. Sie fühlte sich von ihrem Leben eingeengt. Ein bedrängendes Gefühl, das sich nicht abweisen lassen wollte. Alles in ihrem Leben war schäbig und abgegriffen. Es war, als seien die unmodernen Tapeten mit den einfallslosen Blumenmustern, die billigen Holzfurniere der Möbel und die abgetretenen Teppiche, die nicht zueinanderpassen wollten, Relikte einer vertanen Vergangenheit, die die Gegenwart eingeholt hatte.

      Rose sah sich um, als hätte sie die kleine Wohnung in London zum ersten Mal mit klarem Verstand gesehen. Sie wischte mit einer ärgerlichen Handbewegung über das fleckige Metall der Dunstabzugshaube. ,Edelstahl‘ hatte der Verkäufer des Küchenstudios in Knightsbridge damals geraunt und genießerisch mit der Zunge geschnalzt, als garantiere die Haube lebenslänglichen Genuss. Damals konnten normale Menschen wie Edgar und Rose Stadtviertel wie Knightsbridge betreten, ohne über Banker, Schauspieler und reiche Ausländer zu stolpern.

      Lange vorbei. Alles war lange vorbei. Auch Edgar war Vergangenheit und der Edelstahl hatte, wie zum Trotz, Flecken angesetzt, die durch nichts zu beseitigen waren.

      Rose rührte in dem Topf, der auf dem Herd stand. Dampfschwaden schlugen sich auf dem Fenster zum Innenhof nieder und milderten die Fleckenlandschaft auf der Abzugshaube. Risotto. Rose kochte ein Risotto, von dem sie nicht wusste, wer es essen würde. Kochen beruhigte Rose. Sie atmete tief ein und aus, wie sie es in dem Meditationskurs gelernt hatte.

      Früher hatte sich Edgar um ihre kleinen Ängste gekümmert aber Edgar war gegangen, als ihre beiden Töchter erwachsen geworden waren. Er hatte keine Erklärung angeboten und Rose hatte keine gefordert. Sie war müde. Das Leben hatte sie müde gemacht. Sie war eine alte Frau von 47 Jahren, die sich ihr Spiegelbild von einer welligen, fleckigen Dunstabzugshaube verzerren ließ, bis es grotesk zerlief und Rose ihren Blick abwenden musste.

      Es geschah ihr recht, dachte Rose. Alles war ihr entglitten. Edgar, Eileen und Monica. Sie hatte sich andere Namen für die Kinder ausgesucht, aber Edgar hatte sich durchgesetzt. Edgar hatte sich immer durchgesetzt und Rose hatte geschwiegen. Jetzt schauten sie drei gerahmte Fotos aus besseren Zeiten von der Kommode im Wohnzimmer an. Sie schienen sie ständig anzuschauen, wo immer Rose auch saß.

      Rose hatte Phasen, in denen sie zu viel trank und unsinnige Mengen Essen zubereitete. Sie hatte Phasen, in denen sie tagträumte und wieder ,Barbie‘ war, eine fast blonde Frau mit Erwartungen und einem Mann, den sie ,Ken‘ nennen durfte, wenn sie herumalberten. Später bezogen sie die Kinder in ihre harmlosen Albernheiten ein und beschlossen, ihr Leben ,glücklich‘ zu nennen. Die kleine Wohnung war Stückwerk, aber das störte nicht. Sie hatten Pläne. Gemeinsame Pläne. Nichts Großes. Vielleicht ein oder zwei Zimmer mehr und Teppiche, die zueinanderpassten. Dazu ein Urlaub auf dem Kontinent.

      Frankreich.

      Paris.

      Sehnsuchtsorte für glückliche Familien mit kleinem Budget.

      Dann hatte sich das Leben aufgemacht und war an ihr vorbeigehuscht, ohne dass sie es merkte.

      Jetzt kochte Rose ein Risotto mit Parmesan und Kräutern, das niemand haben wollte und starrte auf Fotos aus ihrer Vergangenheit. Alles war so plötzlich passiert.

      Rose schaltete den Herd aus und goss das Glas Weißwein, das sie unberührt gelassen hatte, in den Topf. Dampf wallte auf, als wolle er die bitteren Erinnerungen auslöschen. Rose kontrollierte noch einmal die Uhrzeit. Sie musste über sich selbst lächeln. Sie verhielt sich ordentlich wie immer. Am Nachmittag hatte sie sogar frische Bettwäsche aufgezogen und ihre Blusen gebügelt, bevor sie sie in den Schrank hängte. Man konnte nicht aus seiner Haut. Ein Satz, den sie von ihrem Pflegevater übernommen hatte.

      Prüfend ging Rose durch ihr kleines Reich. Diele, zwei Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und ein Bad, das seinen Namen nicht verdiente. Für Londoner Verhältnisse eine gute Wohnung, auch wenn der Stadtteil Brixton in Verruf geraten war. Rose hatte nie Probleme gehabt, weil sie sich nicht in die Angelegenheit anderer einmischte. So hatte sie es gelernt und so war es gut.

      Die gepackten Segeltuchtaschen standen bei der Ausgangstür. Gerade einmal zwei Taschen, die nach Urlaub und Fernweh aussahen. Mehr war aus Roses Leben nicht herauszuholen. Zwei Taschen und der Volvo, der noch immer zuverlässig fuhr, obwohl er längst seine besten Zeiten hinter sich hatte.

      Der Geruch nach würzigem Risotto hing schwer in den Räumen, als Rose die Zeitschaltuhren prüfte. Es war wichtig, dass kein Fehler passierte. Fehler gehörten zu der alten Rose, die alles Edgar überließ und schon einmal die Schulzeiten der Töchter vertauschte. Die neue Rose war eine ganz andere. Niemand konnte das wissen. Noch steckte die neue Rose in dem gleichen unförmigen Overall der Reinigungsfirma, die die Transportmaschinen in Stansted säuberte. Das Logo mit dem geschwungenen roten Pfeil auf der weißen Erdkugel war aufdringlich und passte zu der eintönigen Arbeit, die im Akkord erledigt werden musste. Einen gesamten Frachtraum fegen und, wenn erforderlich, feucht wischen in nicht einmal einer halben Stunde. Nur die Kollegen im Personenbeförderungsbereich hatten noch engere Vorgaben.

      Rose mochte ihre Arbeit. Sie mochte die weiten und hohen Flächen, den Hall und das Gefühl, sicher aufgehoben zu sein, wie in einem Mutterschoß. Manchmal summte sie ein Lied. Ein Lied für die Frachtmaschine, ein Lied für World Cargo, ihren Arbeitgeber und ein Lied für Rose, die sich in solchen Augenblicken seltsam lebendig vorkam.

      Rose befestigte den Sicherheitsausweis an einem der Träger des Overalls. Das Bild auf der eingeschweißten Plastikkarte zeigte eine Rose, die unsicher lächelte, als wüsste sie nicht, wer sie in Wirklichkeit war. Sorgsam beendete sie ihre Vorbereitungen. Die nächtlichen Geräusche drangen von der Straße herauf in das Appartement. Wie immer schien der Lärm nachts zuzunehmen. Rose schaute sich um und nickte.

      Wenig später trat sie hinaus in den rötlichen Schein der Straßenlaternen. Noch zwei Stunden bis zum Beginn ihrer Schicht. Der graue Volvo reihte sich in den Verkehr ein, der fast nur aus Taxen zu bestehen schien. Findige Unternehmer hatten Brixton nach den Rassenkrawallen als neues In-Viertel entdeckt und begannen mit Diskotheken und Clubs junge Leute anzuziehen. Bald würden Boutiquen und Künstler folgen und nach ihnen kämen die Immobilienspekulanten.

      Rose warf einen Seitenblick auf die Karte auf dem Beifahrersitz. Sie war die ungewohnte Strecke mehrfach in Gedanken durchgegangen und hatte sich das verlassene Gebäude auf Google Street View angesehen.

      ,Sei wie immer‘, hatte die Stimme am Telefon gesagt.

      Rose hatte das unförmige Satellitentelefon auf dem Kaminsims platziert und eine Schmuckdose darüber gestülpt. Streng nach Anweisung hatte sie von Zeit zu Zeit die Frequenzen justiert und die Akkus getauscht. Sie hatte es vermieden, das Telefon mehr als nötig zu berühren und behandelte es wie ein fremdartiges Wesen. Gerne hätte sie ihm die Schuld an ihrem verpfuschten Leben gegeben. Niemals hatte es Lebenszeichen von sich gegeben. Bis jetzt.

      Es war eine überraschend weiche Stimme gewesen, eine Stimme, die nicht nach Befehlsgewalt klang, sondern eine gebildete, beinahe zögerliche Note hatte. Wahrscheinlich ein alter Mann hatte sich Rose gedacht, den Gedanken aber nicht weiterverfolgt, weil sie sich zu äußerster Disziplin zwang. Auch diese Stimme gehörte zur Vergangenheit und Rose hatte nicht mehr damit gerechnet, sie jemals zu hören.

      ,Leg nicht auf‘, hatte die Stimme gemahnt.

      Der Mann hatte die Verwirrung von Rose bemerkt, als er sie mit dem anderen Namen ansprach, so als sei Rose niemals jemand anderer gewesen, so als sei die Identität der letzten Jahrzehnte nur eine Wucherung, die man ohne Gefahr wegschneiden könne.

      Rose hatte nicht aufgelegt. Allerdings war es mehr ihr Instinkt als ihr Verstand gewesen, der ihr befahl nicht mit einem knappen ,falsch verbunden‘ die Leitung zu unterbrechen. Stattdessen hatte Rose atemlos gelauscht, als eine Stimme eine Stelle aus Gogols ,Die toten Seelen‘ vortrug. Es war eine alte Aufnahme. Rose wusste nur zu gut, wann diese Aufnahme erfolgt war. Sie sah das alte Tonbandgerät vor sich. Sie sah, wie sich die Spulen drehten und ihre eigene Stimme, die sie immer wegen ihrer Farblosigkeit gehasst hatte, ihre Lieblingsstelle vortrug. Sie konnte das

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