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Die deutschen und georgischen Autorinnen und Autoren konnten sich voneinander und von dem, was das Ziel ihrer Reise zu bieten hatte, überraschen lassen, sodass ihre Reiseerfahrung ein differenzierteres Bild Georgiens und der georgischen Gesellschaft hat entstehen lassen. Gleichzeitig zeugt dieser Band in seiner eigenen Dynamik einmal mehr davon, wie kreativ und lebendig die heutige Kulturszene Georgiens ist.

      Das Feld der Literatur- und Übersetzungsförderung nimmt in der Arbeit des Goethe-Instituts einen besonderen Stellenwert ein – an dieser Stelle möchte ich deshalb den mitwirkenden Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Georgien sowie den Partnern des Projekts, dem Georgian National Book Center, der Frankfurter Verlagsanstalt und meinen Kolleginnen und Kollegen vom Goethe-Institut Georgien herzlich für ihre Beiträge, ihren Einsatz und ihre Unterstützung bei der Realisierung dieses Sammelbands danken. Ich bin überzeugt davon, dass uns mit diesem Zeugnis eines deutsch-georgischen Kulturaustauschs gerade in dem Jahr, in dem Georgien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse ist, ein besonderes Geschenk gemacht wurde, dessen Eindrücke wir noch lange mit uns tragen werden.

      Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre mit spannenden und berührenden Einblicken in die Kultur Georgiens.

      Johannes Ebert

      Generalsekretär des Goethe-Instituts

       VORWORT

      VON NINO HARATISCHWILI

      Vor vielen Jahren lief ich mit einer Freundin aus Deutschland durch die Tbilisser Altstadt. Es war das erste Mal, dass mich jemand aus Deutschland in meiner Heimatstadt besuchte, die Grenzen waren noch nicht so lange offen und die Nachwirkungen der Nachperestroika-Zeit noch deutlich zu spüren, andererseits lag aber auch eine gewisse Aufbruchsstimmung in der Luft, der Wille zum Neuanfang. Ich selbst hatte mich an das westliche Leben noch nicht ganz gewöhnt, war zwischen Heimweh und den Herausforderungen der Integration hin- und hergerissen, auf einer intensiven Suche nach dem richtigen Ort, den richtigen Worten, nach der richtigen Sprache, um die Geschichten zu erzählen, die mir erzählenswert schienen und für die ich noch keine Heimat gefunden hatte.

      Vor der gemeinsamen Reise war ich aufgeregt gewesen, ich fragte mich unentwegt, wie meine Freundin, mit der ich bereits etliche Reisen unternommen hatte, mich in diesem für sie fremden Kontext sehen würde. Was würde sie entdecken, was würde sie begreifen? Ich fühlte mich wie jemand, der gerade dabei ist, ein Geheimnis preiszugeben.

      Und während der Reise machte ich eine absurde Feststellung: Ich wollte unbedingt, dass sie alles um sich herum aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete, ich wollte, dass sie durch meine Augen blickte und alles als das erkannte, was ich darin sah.

      Ich, die ich mich unablässig mit Freunden über unser Land stritt und mich immerzu kritisch mit ihm auseinandersetzte, wollte auf einmal, dass sie das Land, die Stadt, die Menschen, die mir teuer waren, von der besten Seite kennenlernte. Ich begriff selbst nicht recht, woher dieser dringende Wunsch kam und warum es mir auf einmal so viel bedeutete, dass sie alles, was mir wichtig war und von dem ich glaubte, dass es mich geprägt hatte, in einem versöhnlichen und verständnisvollen Licht sah. Vielleicht war ich einfach ermüdet von den schier endlosen Diskussionen und Erklärungsversuchen, zu denen ich mich in Deutschland gezwungen sah, sobald die Sprache auf Georgien kam. Ich wollte keine Exotisierung und keine Verklärung, ich wollte aber auch nicht jemanden an meiner Seite wissen, der stets nur Zeichen der Verwahrlosung und des Ruins in der fremden Kultur sucht, um sich am Ende in einer Art rechthaberischen Überlegenheit bestätigt zu finden. Trotzdem war mir diese Sehnsucht nach einer milden, liebevollen Sichtweise fremd.

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      Wir liefen durch die Straßen und ich fand mich plötzlich in einer fremden Stadt wieder. Denn ich versuchte unentwegt mir vorzustellen, was sie sah, ich versuchte mir ihren in dem Fall fremden Blick auszuleihen.

      Was würde ich wahrnehmen, was würde mir auffallen, was würde mir missfallen, worüber würde ich mich aufregen, wenn ich zum ersten Mal hier wäre? Und es gelang mir tatsächlich, alles Vertraute in ein neues Licht zu rücken. Ich identifizierte mich so sehr mit dem Blick des Fremden, bis mein eigener auf einmal gänzlich verschwand. Gleich beim ersten Spaziergang durch das Sololaki-Viertel entdeckte ich etwas, das mir seitdem nicht mehr aus dem Kopf geht und das für mich mittlerweile zu einer Art Sinnbild geworden ist für meine Wanderung zwischen zwei Welten, zwei Sprachen, zwei Kulturen, sich irgendwo in einem Spalt befindend, der mal übermäßig breit und mal unsichtbar schmal wird. Wir erkundeten die typischen Höfe jenes Stadtteils, die bunten Pawlatschen mit den hölzernen Laubengängen und den schiefen, verschnörkelten Balkonen, mit den spielenden Kindern und der flatternden Wäsche, eingehüllt in diverse Essensgerüche und lautes Stimmenwirrwarr.

      In der Mitte eines solchen Innenhofs blieb meine Freundin stehen und fixierte etwas mit ihrem Blick. Dann zückte sie die Kamera und begann zu fotografieren. Von ihrem Gesicht konnte ich Begeisterung ablesen. Ich wusste nicht genau, was sie so in Verzückung versetzt hatte, denn ich sah dort nichts Besonderes. Ich suchte mit den Augen nach einem möglichen Motiv, das sie fasziniert haben könnte, aber erfolglos. Irgendwann steckte sie die Kamera zurück in die Tasche und blieb mit einem seligen Gesichtsausdruck vor mir stehen. Ich wollte sofort wissen, was sie da fotografiert hatte, und dann streckte sie ihren Finger aus und lachte. Erst da erkannte ich den Grund ihrer Begeisterung: Dort war ein Holzstuhl ohne Sitzfläche, der an einer der Hauswände befestigt war. Unter ihm lag ein Ball. Ich verstand immer noch nicht so ganz, was an diesem improvisierten Gegenstand so besonders sein sollte. Die Irritation stand mir ins Gesicht geschrieben, und sie erklärte: »Das ist doch zauberhaft! Auf den Gedanken würde in Deutschland keiner kommen. Das ist so erfinderisch! Sie nutzen den Stuhl als Basketballkorb!«

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      Ich wusste zwar, dass der Stuhl zu diesem Zweck diente, aber mir war die Besonderheit dieser Tatsache keineswegs klar. Für mich war das normal und selbstverständlich – gerade als Kind der Neunzigerjahre, ein Jahrzehnt voller Entbehrungen und geprägt von existenziellen sozialen und ökonomischen Umbrüchen –, dass man improvisieren musste, wo die äußeren Mittel nicht vorhanden waren oder versagten. Aber erst durch ihren Blick, durch die Außenperspektive, gelang es mir, die Besonderheit jenes Gegenstandes und somit seinen Wert zu schätzen.

      Denn für die Bewohner jenes Hofes war es vielmehr ein Notbehelf: Die Kinder hätten viel lieber einen nigelnagelneuen Basketballkorb gehabt, sie hätten ganz sicher keine Einwände gegen jegliche kapitalistische Konsumgüter erhoben, im Gegenteil – sie hätten große Freude daran. Aber darum ging es nicht. In dem Moment begriff ich etwas, das, so simpel es auch erscheinen mag, für mich einer existenziellen Erkenntnis gleichkam: Die gleichen Dinge, die gleichen Gegenstände, gar die gleichen Verhaltensweisen haben je nach Kontext eine vollkommen verschiedene Bedeutung. Nichts ist absolut und demnach immer eine Frage der Perspektive. Geschehnisse, Erfahrungen, Ereignisse – all das formt sich ausschließlich durch unseren Blick darauf.

      Das Vertraute und das Normale kann unter bestimmten Umständen zu etwas Außergewöhnlichem werden. Etwas, von dem man annimmt, es sei so, kann im nächsten Augenblick etwas ganz anderes sein, wenn man bereit ist, den eigenen Fokus zu verschieben.

      In dieser einen Woche, in der wir durch die Tbilisser Straßen schlenderten, setzte ich mich unentwegt mit meiner Freundin auseinander und doch ging es dabei um mich. Um Dinge, die ich vorher nicht hinterfragt hatte, Dinge, die ich einfach so hingenommen, Meinungen und Ansichten, die ich in irgendeiner Form für »gegeben« gehalten hatte.

      Ich stritt und diskutierte mit ihr über die westliche Sehnsucht nach dem Zerfall, die Begeisterung der Europäer über die vermeintlich »ostalgischen« Gegenstände und Möbel, das Leben, das sich so viele alte Menschen gezwungen sahen zum Verkauf anzubieten und das von den westlichen Besuchern so hingebungsvoll gekauft wurde. Ich verliebte mich aber auch in den georgischen Gesang neu – so spontan entfacht und zu einem rauschhaften Fest auf einer Restaurantterrasse ausartend –, weil ich ihn in dem Augenblick durch ihre Ohren hörte, die Emotionen spürte, die die Musik in ihr auslöste.

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