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im Raum arbeitslos sein, mitten in den normalerweise schönsten Wochen des Jahres, im Advent. Seine Zunge klebte am Gaumen fest. Er konnte den schalen Geschmack im Mund nicht loswerden. Sein Magen krampfte. Er blinzelte die Angst weg. Ein Rinnsal aus Schweiß lief seinen Rücken hinab und benetzte seine Unterhose. Von allen Seiten redeten seine Mitarbeiter auf ihn ein. Ein Pfeifton erklang in seinem Ohr. Die Stimmen schwollen an, kesselten ihn ein, bretterten in wildem Staccato durch den Raum, zeitweise unterbrochen von einem Klagen oder Fluchen, und hallten in seinem Kopf wider.

      Tu etwas, tu etwas, tu etwas.

      Der Chor der Hilflosigkeit, der Chor der Hoffnungslosigkeit. Entgegengestreckte Hände und rotwangige Gesichter verschwammen vor seinen Augen, bevor er wild um sich schlug, sich schreiend vom Mob befreite und aus dem Raum lief.

      VIER WOCHEN SPÄTER

      1

      Sonntag, 11. Dezember

      Inmitten des Wohnzimmertisches steht auf einer weißen Mitteldecke mit Goldborte der Adventskranz. Früher habe ich jedes Jahr selbst einen gebastelt, seit drei Jahren kaufen wir die ganze Dekoration. Drei der roten Kerzen sind schon fast ganz heruntergebrannt. Ich weiß, es ist irrational, meine Angst sicher unbegründet und das Bauchgrimmen vermutlich nur auf eine Magenverstimmung zurückzuführen. Oder doch nicht? Ich schiele auf die Uhr. Ob sie falsch eingestellt ist? Vielleicht ist die Batterie leer. Hat Leo vergessen, sie auszuwechseln? Fragen kann ich ihn nicht, er ist schon vor zwei Stunden gegangen. Normalerweise muss ich danach nicht lange warten, bis mein Mann Friedrich nach Hause kommt. Aber in den letzten Wochen hat sich alles verändert. Er kommt nicht mehr nach Hause, jedenfalls nicht zu der Zeit, die ich gewöhnt bin und nach der sich auch Leo richtet. Friedrich war auch heute den ganzen Tag unterwegs. Am Sonntag! Unmöglich. Seit einer Stunde sitze ich ungemütlich in meinen eigenen Exkrementen. Ich kann es nicht spüren, aber riechen. Es wird ewig dauern, meinen Hintern zu waschen, wenn das Zeug eingetrocknet ist. Friedrich wird fluchen, schimpfen und es auf Leo schieben, der mich seinerseits aber sauber und duftend hinterlassen hat.

      Mühsam schiebe ich den Zeigefinger auf den Knopf der Armlehne und fahre in die Küche. Trotz des Gestanks, der von meiner Hose ausgeht, grummelt mein Magen. Violetta hat ein Date, Lisa ist mit ihrer Skaterbande zusammen, und Toby schläft. Seit Tagen plagt ihn das Fieber. Seit seiner Geburt leidet er an einer Immunschwäche, deshalb geht er in eine spezielle Privatschule mit Kleingruppen. Trotzdem steckt er sich oft an. Heute hat sich Leo vorwiegend um ihn gekümmert, nachdem er mich versorgt hat – neuer Katheter, neuer Urinsack und frische Wäsche. Alles für die Katz. Auf die Toilette gehen kann ich nicht alleine. Jemand muss mich ausziehen und auf die Brille heben. Schön wollte ich heute sein und habe Leo extra gebeten, mir keine Windel anzulegen, weil heute der 15. Hochzeitstag ist. Mittlerweile bin ich mir sicher, dass Friedrich ihn vergessen hat. Wie so vieles in letzter Zeit. Seltsam zerstreut und abwesend wirkt er, wenn er mit mir zusammen ist. In seinen Blicken suche ich Liebe, fühle aber nur Mitleid und Trauer. Er sieht mich an wie ein zerbrochenes Spielzeug, das einmal sein Lieblingsteil war, aber jetzt nicht mehr uneingeschränkt verwendet werden kann. Man stellt es also ins Regal und versucht, es so wenig wie möglich zu berühren.

      Ich hebe meinen Arm, es dauert eine gefühlte Ewigkeit, ehe ich an der Kante der Arbeitsplatte bin und meinen Unterarm vorschieben kann, damit meine Finger sich in den Sack mit den Chips krallen können. Umständlich lege ich die Tüte auf meinem Schoß ab und fahre zurück in das Wohnzimmer, wo leise Klaviermusik aus den Boxen klingt. Die CD läuft zum vierten Mal durch. Ich hebe den Sack, eingeklemmt zwischen meinen zwei verkrampften Händen, und schütte mir Chips in den Mund. Einige fallen auf den Teppich. Brösel stieben nach allen Seiten, zufrieden kaue ich. Bevor ich schlucken will, durchfährt es mich. Eine Spastik lässt meinen ganzen Körper krampfhaft zusammenknicken, immer und immer wieder. Die Chips im Mund kleben am Gaumen und drücken gegen meine Gaumenmandel. Ich würge. Mist. Weder schlucken noch erbrechen ist mir möglich. Meine Augen tränen, mein Körper bebt. Rutsche verzweifelt aus dem Rollstuhl, winde mich wie ein Wurm auf dem Teppich und versuche, mich auf den Bauch zu rollen, um die Brösel auszuhusten. Meine Stirn schlägt auf dem Boden auf, das Gesicht versinkt im Teppich, meine Arme tanzen unkoordiniert in der Luft, meine Beine zucken vor und zurück.

      Im selben Moment höre ich die Tür krachend ins Schloss fallen. Nur wenige Sekunden dauert es, bis Friedrich ins Wohnzimmer stapft und sofort die Situation erfasst.

      »Scheiße!«, kommentiert er meinen spastischen Anfall. Wie recht er hat. Den Mund voller Chipsbrei blinzle ich zur Antwort. Er schüttelt den Kopf, drückt meine Wangen mit geübtem Griff ein, fährt mit seiner anderen Hand zwischen meine Zähne, löst den Batzen vom Gaumen und schält ihn regelrecht aus meinem Mund.

      »Scheiße«, sagt er noch einmal, rümpft die Nase und schnüffelt an meinem Hosenboden. »War Leo nicht da?«

      Klar war er da, will ich ihm ins Gesicht schreien. Aber du bist drei Stunden zu spät!

      »Hunger«, murmle ich stattdessen zwischen zwei Krampfanfällen. Ich sehe mich selbst, wie ich ihm eine Ohrfeige gebe und starre dabei auf meine verkrampften Finger. Lächerlich! Als könnte ich damit ausholen. Nicht mal eine Packung Chips kann ich ohne Hilfe essen. Im selben Moment bekomme ich einen unbändigen Hass auf Friedrich, der sich frei bewegen kann, der ein Leben hat, während ich das Leben eines Häftlings führe – gefangen im eigenen Körper. Ich möchte schreien, um mich schlagen, Friedrich beschimpfen, doch meine Litanei bleibt ungesagt, ungehört in meinem Kopf. Ich kann es nicht riskieren, Friedrich zu verärgern. Womöglich läuft er weg, und ich liege noch länger in meinem eigenen Dreck. Schnaufend setzt er mich in den Rollstuhl zurück.

      »Dann werden wir mal die Karosserie schamponieren, wachsen und ölen. Samt Unterbodenwäsche, gell?« Er tätschelt mir den Oberschenkel und grinst mich an. Soll das witzig sein? Ich weiß, dass Friedrich früher an der Tankstelle gearbeitet hat. Mein Humor ist normalerweise das Einzige, was mir über den Tag hilft, doch heute ist mir nicht zum Lachen zumute.

      Mittlerweile stehen wir im Badezimmer, das wir erst vor drei Jahren behindertengerecht umgebaut haben, genauso wie den Rest des Hauses. Obwohl wir Landesförderung dafür erhalten haben, mussten wir doch einen stattlichen Kredit aufnehmen. Schließlich ist auch das Reihenhaus noch nicht abbezahlt, und auf mein Spitzengehalt als Schönheitschirurgin müssen wir verzichten. Zu allem Überfluss wurde die Berufsunfähigkeitspension nicht bewilligt, da ich zu jung bin und es seit 2014 ein neues Gesetz gibt, nachdem diese Form der Rente gestrichen wurde. Es nutzt angeblich nicht einmal etwas, mit dem Kopf unterm Arm zu erscheinen, um die Bewilligung zu erhalten. Also absolviere ich brav eine Reha nach der anderen. Das Rehageld ist nur ein Sechstel dessen, was ich sonst ohne Zulagen verdient habe. Unsere Ausgaben haben wir vor Jahren mit dem Wissen geplant, dass ich toll verdiene. Friedrich ist ja nur Verkäufer. Mittlerweile Filialleiter, aber große Sprünge können wir keine machen, mit zwei Teenagern und einem Volksschulkind.

      Ungeduldig zerrt mein Mann an meiner Bluse. Schweigend befreit er meinen Körper vom mit Bröseln übersäten Stoff, öffnet die Hose, rümpft die Nase und schiebt die Jeans samt Unterhose über meine Schenkel. Nackt sitze ich vor ihm. Methodisch geht er vor, ohne mich wirklich zu sehen. Zitternd versuche ich meine Arme vor die Brüste zu heben, was mir nicht gelingen will. Dazu bewegen sie sich zu unkoordiniert. Sieh mich an, will ich ihm zurufen. Wortlos zieht er sich den Pulli aus, dreht die Dusche auf, achtet auf die richtige Wassertemperatur, bevor er mich auf den Duschstuhl hebt. Jedes Mal fühle ich diese Hilflosigkeit, diese Abhängigkeit, es schmerzt, meine Selbstständigkeit verloren zu haben. Der Waschlappen reibt über die Haut, ich höre das Geräusch, spüre jedoch nichts. Friedrich dreht das Wasser ab, fährt mich raus und rubbelt meine Haut mit einem Handtuch ab.

      Als er aus dem Badezimmer geht, blicke ich beschämt zu Boden. So hatte ich mir den Hochzeitstag nicht vorgestellt. Alles hat sich geändert, wohl auch, dass ich meine Erwartungen zurückschrauben muss, Stück für Stück. Mit einem Stapel Kleidung in der Hand betritt Friedrich erneut das Badezimmer. Keinen Ton bringe ich heraus, er vermeidet den Blickkontakt, während er den Katheter befestigt, einen neuen Sack ansteckt und mir eine Windel anzieht. Tu es nicht, will ich sagen, doch ich bleibe stumm. Er streift mir eine ausgeleierte Jogginghose über die Beine und zieht mir ein Sweatshirt

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