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atemlos horcht.

      »Und das hat in ihm gesteckt?!« ruft der Stadtmusikus von Finkenrode. »Teufel, wer hätte das gedacht, wenn er so oft die Tanzmusik über den Haufen warf, daß ich ihn erst durch einige Rippenstöße zur Besinnung bringen mußt’! Mutter, der Junge geht seinen Weg! Mutter, der Jung’ ist ein Segen und Stolz für uns!«

      »Er ist immer anders gewesen, als die andern!« sagt mit einer Träne im Auge die Frau, und die Nachbarn kommen, zum zweiten,, zum drittenmal wird der Brief vorgelesen. »Ist es denn möglich?« sagen die Nachbarn. »Was doch alles aus einem Menschen werden kann! Der kleine Günther unter den vornehmen Leuten! Wer hätte das gedacht?« Hast du die gefunden, zu denen du gehörst, Günther Wallinger?

      Es sind wieder manche Jahre vergangen; viel Merkwürdiges hat sich in Finkenrode zugetragen! Man hat das alte Brauhaus niedergerissen, und in einem Keller desselben ist der Topf mit den vielen alten Gold-und Silbermünzen aus der Zeit der alten Kaiser gefunden; der neue Brunnen ist gebaut, viele Leute sind gestorben, und ein neues Geschlecht wächst heran.

      »Wo bleibt der Junge?« sagt kopfschüttelnd der alte Wallinger, der nicht selbst mehr hinausziehen kann mit seiner lustigen Musikantenschar durch Wald und Felder. Die Mutter nickt mit dem zitternden Kopf: »Wo bleibt mein Kind? mein liebes Kind?« murmelt sie.

      Und wenn die Nachbarn kommen und fragen nach dem Günther, so sagt die Alte: »Er ist so weit weg – es wird ihm ja gut gehen!« Der Vater aber seufzt und murmelt undeutliche Worte und bläst finster die Rauchwolken aus seiner kurzen Pfeife vor sich hin. –

      Es treiben viele Kinder in den Gassen von Finkenrode ihre Spiele. Sie jagen sich um die Kirche, sie wühlen in dem Sande am Ufer des Flusses, sie waten in dem Hurlebach und bauen Mühlen und Schiffe. An einem stillen Herbstabend sitzt eine Schar von ihnen auf den Treppenstufen des Hauses des Stadtmusikanten Wallinger. Sie haben allerlei lustige Liedlein gesungen, als sie plötzlich, einstimmig, einen ernsten, traurigen Choral beginnen. Diese feierliche Melodie in dem Munde der Kinder ruft sogleich eine Nachbarin vor die Tür, welche erschreckt den kleinen Sängern Stille gebietet und sie in ängstlicher Hast forttreibt. – Wenn die Kinder traurig einen Choral im Spiel vor einer Tür singen, so geht die Meinung, daß in der nächsten Zeit jemand in dem Hause stirbt. Vierzehn Tage nach diesem Ereignis begraben sie den alten Stadtmusikus Heinrich Wallinger und seine Hausfrau.

      Wer denkt nun noch an den verlorengegangenen Günther, und sehnt sich nach ihm, und hofft und wartet? Das Stadtgericht von Finkenrode, welches ihn durch die Zeitungen zitiert? Die arme Anna Ludewig, welcher er einst beim Abschied, bevor er hinauszog in die Welt, solch ein schönes Halsband von roten Korallen schenkte?

      Noch immer murmelt, jugendfrisch, der Hurlebach durch den Heimatswald, noch immer, in mancher schönen Sommernacht, spiegelt sich der Mond in dem Reckenspiegel. Günther, Günther, wo bist du geblieben?

      Das Stadtgericht zitiert den Verschollenen nicht mehr; sechs Jahre lang betrachtet Anna Ludewig traurig, allsonntäglich, ein vierblätterig Kleeblatt in ihrem Gesangbuch, welches der Verlorene einst fand auf einem Feldwege und es ihr schenkte, und traurig betrachtet sie das silberne Reiflein an ihrem Finger, das silberne Reiflein, welches er ihr einst gab. Manch wackerer Meisterssohn hätte das schöne, stille Mädchen gern heimgeführt; aber sie ist gestorben – an der Abzehrung, wie die Leute sagen. Sie verschied mit einem Lächeln auf den Lippen. »Nun find’ ich ihn wieder!« sagte sie, als sie die treuen Augen zum letzen Schlaf schloß ..

      Hast du gefunden, was du suchtest, Günther Wallinger; hast du gefunden, wonach du dich sehntest? –

      Auf der staubigen Landstraße durch die schwüle Hitze eines Julinachmittags zieht ein seltsames Männlein. Es hat nicht schwer zu tragen an seinem Gepäck; ein kleines Bündel und eine Geige in einem Wachstuchfutteral sind alles, was es bei sich führt. Wanderer, welche ihm begegnen, sehen ihm verwundert nach, und ein Landjäger, der zwei aufgegriffene liederliche Weiber nach der Stadt transportiert, hält sein Pferd an und scheint große Lust zu verspüren, die nähere Bekanntschaft des kleinen Mannes zu machen. Er läßt ihn jedoch ziehen, ohne ihn zu belästigen.

      Jetzt tritt die Straße in den Wald ein, und der kleine alte Mann sieht still und wirft einen wirren Blick zurück auf den mühsamen Weg, den er gekommen ist. Er trocknet den Schweiß von der Stirn; dann vertieft er sich, aufatmend, in den kühlen Schatten des Waldes. Die Heimchen ziepen in der Sommerhitze in den Gräben, die Käfer summen über dem Weg – horch, eine Glocke in weiter Ferne. Der Alte hält wieder still, – er lauscht und streicht mit der Hand über die Stirn. Noch immer die Glocke! Die Abendglocke von Sankt Marienstuhl!

      Die Wipfel der Bäume glühn in den letzten Strahlen der sinkenden Sonne – dunklere Schatten steigen auf aus den Tälern und nisten sich in dem Gebüsch phantastisch ein. Zu den Füßen des Wanderers, über ihm, um ihn kämpfen fliehend die roten Lichtblitze des scheidenden Tages mit den dunkeln Geistern, welche die Nacht vorausschickt, ehe sie vollständig Besitz nimmt von der einen Hälfte der arbeit-und leidenmüden Welt. Die Vögel schweigen, kein Lüftchen regt sich; nur das welke Laub rauscht unter den unsichern Fußtritten des kleinen Mannes. Wie feierlich, ergreifend der ferne Glockenklang auf dem einsamen, verwachsenen, kühlen, dämmerigen Waldpfade das Herz durchzittert!… War’s ein Reh, das da eben, einem hellen Schatten gleich, über den Weg glitt? Weiter! Weiter! Dunkler und dunkler wird der Wald! Längst hat die Glocke von Sankt Marienstuhl ausgezittert – der Alte sieht sich zweifelnd um – jeder Pfad ist verloren; aber eine Nachtigall beginnt ihren klagenden Sang über ihm.

      Die ganze Nacht hindurch hören die Köhler vom Neckenspiegel her ein wunderbares Klingen, wie sie es nie gehört haben. Ist das Wort gefunden, der Zauber gelöst? Ist das verborgene Geheimnis offenbar worden in der Mondnacht vor Maria Heimsuchung? –

      »In Waldnacht schlafen die Vögel,

       In Waldnacht schläft das Reh,

       Im Wald, im nächtlichen Walde

       Steigt die Jungfrau aus dem See!«

      Die Köhler lauschen zitternd und staunend und wagen kaum einander zuzuflüstern; die Klänge aber verstummen erst gegen Morgen. Als die Waldleute sich vorsichtig dem stillen Wasser nähern, liegt es, wie gewöhnlich zu dieser Zeit, in einen dichten weißen Nebel gehüllt da – nichts ist zu hören und zu sehen – es ist alles geblieben, wie es war!

      Als die Sonne die Messingkreuze auf der Martinskirche zu Finkenrode vergoldet und die kleine Stadt erwacht, da erhält sie die Nachricht, daß ein verschollener Bürger heimgekehrt ist, – wahnsinnig, bettelarm. Es wohnt ein greiser Torwärter und Steuereinnehmer am Tor zu Finkenrode, der fordert dem einziehenden, alten, scheuen Musikanten den Paß ab. Das Männlein sieht den Frager blödsinnig an; dann sagt es: »Kennt Ihr mich nicht? Ich bin ja des Stadtmusikus Wallingers Sohn – laßt mich gehen, der Vater wird ärgerlich und zankt, wenn ich nicht zu rechter Zelt heimkomme!«

      Vor langen, langen Jahren hat der Einnehmer mit dem, der jetzt wieder vor ihm sieht, gespielt; er hat bei dem Vater desselben die Flöte blasen gelernt und kennt die Geschichte des Hauses gut genug. Die Hände schlägt er über dem Kopfe zusammen:

      »Bist du Günther, des alten Wallingers Sohn?!

      Der Geiger nickt: »Jawohl! Jawohl! Laßt mich gehen, die Mutter wartet auf mich!«

      Da sitzt der Einnehmer auf der steinernen Bank neben dem Schlagbaum vor seinem Häuschen und starrt wirr und blind dem Davoneilenden nach:

      »Was war das? Was war das?«

      Ach, es war das alte Märchen von dem, der in dem Zauberberg gewesen ist, wo hundert Wochen ein Tag sind, wo sich das blonde Haar ln Schnee verwandelt hat, wenn der unselig Gefangene wieder hervortritt in die Welt der Wirklichkeit, die er nicht mehr begreifen kann; wie der Welt für ihn das Verständnis verloren ist. Der Herr Bürgermeister läßt den Heimgekehrten vorführen, um ihn auszufragen. Ach, er bringt nicht viel aus ihm heraus und läßt ihn anfangs einsperren. Als sich aber die Unschädlichkeit des Armen gezeigt hat, läßt man ihn seines Weges geben – den jungen und alten Kindern ein Spott – den wahnsinnigen Musikanten Günther Wallinger, der auszog aus Finkenrode, das Ideal zu suchen …

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