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verlassen hatte, ohne aber geheilt zu sein. Wenn sie auf einem Streckstuhl im Garten lag, hockte er sich zu ihren Füßen auf die Erde. Er hatte viele Fragen auf dem Herzen. Iskuhi mußte von Zeitun erzählen. Kam aber Mama dazu, so brachen sie ihre Gespräche gleich Verschwörern ab. Wie sie ihn alle zu sich ziehen, dachte Juliette.

      Die Schule von Yoghonoluk war ein stattliches Haus. Als die größte des Musa-Dagh-Bezirkes umfaßte sie vier Klassen. Schatakhian war von Ter Haigasun mit ihrer Leitung betraut worden. Dieser Lehrer hatte auf eigene Faust der üblichen Volksschule noch eine Fortbildungsklasse angegliedert, in der er Französisch und Geschichte, Oskanian hingegen Literatur und Kalligraphie unterrichtete. Aber nicht genug damit, es bestand auch noch ein Abendkurs für Erwachsene. Hier ließ sogar ein weltumspannender Gelehrter wie Apotheker Krikor sein Licht leuchten. Er hielt Vorträge über Sterne, Blumen, Getier und Gestein, über alte Völker, Dichter und Weise. Nach seiner Art aber trennte er die Gegenstände nicht voneinander, sondern mischte sie phantastisch, ein erfindungsreicher Märchenerzähler der Wissenschaft. Seine Reden würzte er mit geheimnisvollen Worten und Zahlen, so daß ihn seine Zuhörer mit den angestrengten Augen des Nichtsverstehens anblinzelten. Es wirft aber immerhin ein helles Licht auf den Bildungsdrang dieses Volkes, daß sich bei dem Abendkurs sehr alte Menschen, Handwerker zumeist, die ein Stück der Welt gesehen hatten, auf den engen Schulbänken zusammenfanden, um noch am Feierabend des Lebens Neues zu hören und zu lernen. Hapeth Schatakhian nahm Stephan in die Fortbildungsklasse auf, die von dreißig Schülern im Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren bevölkert war. Der Lehrer zog Gabriel Bagradian zur Seite:

      »Ich verstehe Sie nicht ganz, Effendi. Was kann Ihr Sohn bei uns denn lernen? Wahrscheinlich weiß er von vielen Dingen mehr als ich, der ich zwar in der Schweiz eine Zeitlang studiert habe, jedoch seit Jahren wieder in dieser Einöde verkomme. Sehn Sie doch nur all diese Kinder an! Wie die Buschneger! Ich weiß nicht, ob das ein guter Einfluß sein wird ...«

      »Gerade diesem Einfluß, Hapeth Schatakhian, möchte ich den Jungen nicht entziehen«, erklärte Gabriel, und der Lehrer verwunderte sich über den Eigensinn des Vaters, der aus einem artigen Europäer unbedingt einen kleinen Orientalen machen wollte. Das Schulzimmer war voll von Kindern und Eltern, die diese Kinder einschreiben ließen. Eine alte Frau trat, einen kleinen Buben vor sich herschiebend, auf Schatakhian zu:

      »Hier hast du ihn, Lehrer! Schlag ihn nicht zu viel!«

      »Da haben Sie es nun selbst gehört«, wandte sich Schatakhian an Gabriel und seufzte über den Wust von Altertum, Aberglauben und Geistesdunkel, mit denen er den Kampf aufzunehmen hatte.

      Man verabredete, daß Stephan viermal wöchentlich die Schule zu besuchen habe, um sich hauptsächlich im Gebrauch der armenischen Sprache und Schrift zu üben. Sato wurde in die unterste Klasse gesteckt, wo es die meisten Mädchen gab, wenn sie auch viel jünger waren als die bedenkliche Waise von Zeitun. Schon nach dem zweiten Schulgang kam Stephan ganz erbittert nach Hause. Er lasse sich wegen seines dummen englischen Anzugs nicht länger auslachen. Er wolle genauso gekleidet sein wie die andern Burschen. Und er forderte äußerst hitzig, daß bei einem der dörflichen Schneidermeister für ihn der übliche Entari-Kittel mit dem Aghil-Gürtel sowie eine Schalwar-Pumphose in Arbeit gegeben würden. Wegen dieses Begehrens hob ein großer Streit mit Mama an, der tagelang unentschieden blieb.

      Zum Ersatz für die Übungsstunden mit Stephan bekam Samuel Awakian eine neue und ganz anders geartete Arbeit. Gabriel übergab ihm all die vielen losen Aufzeichnungen, die er in den letzten Wochen gesammelt hatte. Der Student sollte sie in verschiedenen Ausfertigungen zu einer großen statistischen Übersicht zusammenfassen. Was mit dieser Arbeit beabsichtigt war, erfuhr Awakian nicht. Vorerst galt es, die gesamte Bevölkerungszahl der Dörfer von Wakef-Spitzendorf im Süden bis Kebussije-Bienendorf im Norden nach bestimmten Gesichtspunkten festzustellen. Die Angaben, die Bagradian beim Gemeindeschreiber von Yoghonoluk und den sechs übrigen Ältesten eingezogen hatte, mußten geordnet und nachgeprüft werden. Awakian konnte Gabriel schon am nächsten Tag folgende genaue Liste übergeben:

      Einwohnerzahl der sieben Dörfer, nach Geschlecht und Alter zusammengerechnet:

      ???tabelle

      583 Säuglinge und Kinder unter 4 Jahren

       579 Mädchen zwischen 4 und 12 Jahren

       823 Knaben zwischen 4 und 14 Jahren

       2074 Frauen über 12 Jahren

       1550 Männer über 14 Jahren

      5609 Seelen

      In dieser Volkszählung war auch die Familie Bagradian mit ihren Hausleuten inbegriffen. Doch außer solchen summarischen wurden auch noch verfeinerte Listen angelegt, nach der Familienzahl der einzelnen Dörfer, nach Beruf und Beschäftigung, kurz nach allen bedeutsamen Gesichtspunkten. Doch nicht um das Menschliche allein handelte es sich. Gabriel hatte auch den Viehstand des Bezirkes zu erfassen versucht. Das war kein leichtes Stück Arbeit gewesen, das nur zum geringsten Teil gelungen war, denn darüber wußten nicht einmal die Muchtars genauen Bescheid. Eines stand fest. Großvieh, Rinder und Pferde, gab es überhaupt nicht. Jede bessere Familie hingegen besaß ein paar Ziegen und einen Esel oder ein Maultier zum Lastentragen und Reiten. Die größeren Schafherden der einzelnen Viehzüchter oder Gemeinden wurden nach Bergvolksitte auf die stillen Triften und Hutweiden getrieben, wo sie unter Aufsicht von Schäfern und Halterbuben von einer Schur zur andern verblieben. Die Stückzahl dieser Herden auch nur annähernd zu bestimmen, erwies sich als unmöglich. Der fleißige Awakian, dem jede Art von Arbeit willkommen war, lief betriebsam in den Dörfern umher und hatte in Bagradians Arbeitszimmer schon ein ganzes Katastralamt angelegt. Heimlich aber zuckte er die Achseln über dergleichen ausgeklügelte Geduldspiele, mit denen ein begüterter Mann eine höchst unsichere Wartezeit geschäftig auszufüllen suchte. Nichts erschien diesem verspielten Pedanten, der wahrscheinlich eine Schrift über das Volksleben am Musa Dagh im Kopfe trug, zu nebensächlich, um es nicht aufzuzeichnen. Er wollte wissen, wieviel Tonirs, das sind in die Erde gemauerte Backtröge, sich in den Dörfern befänden. Er forschte nach der Getreideernte und schien darüber bekümmert zu sein, daß die Bergbewohner den Mais und das rötliche syrische Korn von den Mohammedanern des Flachlandes bezogen. Daß weder in Yoghonoluk und Bitias noch anderswo eine armenische Mühle im Gang war, machte ihm offensichtlich nicht weniger Sorgen. Sogar an Apotheker Krikor wagte er sich heran und forschte nach dem Stand seiner Arzneimittel. Krikor, der einen Besuch seiner Bibliothek und nicht seiner Apotheke erwartet hatte, zeichnete mit einer enttäuschten Handbewegung den Kreis des Gewölbes nach. Auf zwei kleinen Brettreihen standen allerlei Töpfe und Tiegel, die mit fremdartigen Schriftzeichen bemalt waren. Das war alles, was an eine Apotheke erinnerte. Drei große Petroleumkannen im Winkel, ein Sack mit Salz, ein paar Ballen mit Tschibuktabak und ein Posten Besenbinderware deuteten auf den lebendigeren Teil des Geschäftsbetriebes hin. Krikor klopfte mit seinem knochigen Zeigefinger hoheitsvoll an eine der mystischen Vasen.

      »Alle Heilmittel gehn, wie schon Johannes Chrysostomus sagt, auf sieben Urstoffe zurück, auf Kalk, Schwefel, Salpeter, Jod, Mohn, Weidenharz und Lorbeersaft. In hundert Formen ist es immer dasselbe.« Er ließ den Tiegel zart zum Zeichen dessen erklingen, daß er diese offiziellen Urstoffe des Johannes Chrysostomus vorrätig habe. Nach einer solchen Belehrung in der zeitgenössischen Pharmazeutik forschte Gabriel nicht weiter. Zum Glück besaß er eine eigene umfängliche Hausapotheke. Wichtiger als dies alles war aber zweifellos die Geschichte mit den Waffen. Freund Tschausch Nurhan hatte darüber schon dunkle Andeutungen gemacht. Sobald aber Gabriel den verschiedenen Gemeindeältesten diese Frage auf den Kopf zu stellte, kniffen sie sofort aus. Eines Tages aber überfiel er den Muchtar Kebussjan von Yoghonoluk in seiner Wohnstube und hielt ihn fest:

      »Sei offen mit mir, Thomas Kebussjan! Wieviel und was für Gewehre besitzt ihr?«

      Der Muchtar begann fürchterlich zu schielen und mit seinem Glatzkopf zu wackeln:

      »Jesus Christus! Willst du uns ins Unglück stürzen, Effendi?«

      »Warum bin gerade ich eures Vertrauens nicht würdig?«

      »Meine Frau weiß es nicht, meine Söhne wissen es nicht, nicht einmal die Lehrer wissen es. Kein Mensch!«

      »Hat es mein Bruder Awetis gewußt?«

      »Deinem

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