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      Sechstes Kapitel

       Die große Versammlung

       Inhaltsverzeichnis

      Seit dem Tage, an dem sich Djelal Bey, der ehrwürdige Wali von Aleppo, geweigert hatte, die Verschickungsbefehle der Regierung in seinem Wirkungsbereich zu vollstrecken, seit jenem Frühlingstage kam es in der Armenierpolitik Envers und Talaats zu keinem hemmenden Zwischenfall und peinlichen Anstand mehr. Nach einer bestimmten, wohlbedachten Ordnung liefen bei den Statthaltern des Reiches die Avisi des Ministeriums ein, denen dann die allfälligen Durchführungsbefehle zur gegebenen Zeit folgten. Das bürokratische Schaltwerk arbeitete ausnahmsweise mit erstaunlicher Pünktlichkeit, so daß es für ein Beamtenherz diesbezüglich eine Lust zu leben war. Die Walis der einzelnen Provinzen riefen, bereits nach Einlangen der Avisi, die Mutessarifs der Sandschaks, in die ihr Vilajet zerfiel, zu einer dringenden Konferenz zu sich. Dieser Konferenz wurden außerdem noch die militärischen Spitzen des Gebietes beigezogen. Seine Exzellenz, der Wali soundso Pascha, erklärte bei der Sitzung etwa folgendes: »Die Herren haben zur Vollstreckung der Maßregel einen Spielraum von vierzehn Tagen. Bis dahin muß der letzte Trupp der exilierten Bevölkerung die Grenzen des Vilajets tot oder lebendig hinter sich haben. Ich werde Sie für den durchgreifenden und aufschublosen Vollzug schon deshalb verantwortlich machen, weil ich selbst dem Herrn Minister des Innern dafür hafte.«

      Der Konferenz wurde sodann ein von der Statthalterei ausgearbeiteter Plan zur Begutachtung vorgelegt, der die Reihenfolge der Verschickungen einteilte. Die Mutessarifs brachten ihre Einwände und Verbesserungen an, der General traf seine Verfügungen über die begleitenden Truppen und Gendarmen. Ungefähr nach einer Stunde konnte man sich dann ins Bad oder ins Café begeben, wenn nicht gerade beim Wali ein Festmahl stattfand. Die Mutessarifs kehrten in ihre Residenzen zurück. Und nun wiederholte sich das Spiel. Sie beriefen nämlich ihrerseits eine Konferenz ein, zu der nunmehr die Kaimakams der einzelnen Kasahs erscheinen mußten, in die der Sandschak zerfiel. Wiederum wurde der militärische Kommandant zugezogen, der natürlich kein General mehr war. Man prüfte nun den Plan des Wali und arbeitete ihn in Ansehung der örtlichen Bedingungen genauer aus. Die Sandschak-Sitzung dauerte daher schon länger als die vornehme erste. Die Herren begaben sich zwar nachher ebenfalls ins Café oder ins Bad, doch sie schimpften bereits in ruppigem Türkisch über das armenische Gesindel, das mitten im Kriege solche Mühsal verursache. Nun kam die Reihe an die Kaimakams. Auch sie riefen in den Kreisstädten die Müdirs, ihre Bezirkshauptleute, zusammen; doch diese Sitzungen wurden nicht mehr feierlich »Konferenz« genannt. Die Müdirs waren fast durchweg jüngere Männer, wenn man von einigen wenigen Graubärten absah, die schon an der zivildienstlichen Majorsecke hängengeblieben waren. Der jeweilige Kaimakam sagte ihnen dasselbe, was der Wali dem Mutessarif und der Mutessarif dem Kaimakam gesagt hatte, nur freilich in einem weniger gewählten Ton:

      »Ihr habt soundso viel Tage Zeit. Bis dahin muß die letzte dieser unreinen Schweineherden die Grenzen unserer Kasah verlassen haben. Die Sache hat zu klappen. Ich mache euch dafür verantwortlich. Bei wem sie nicht klappt, der kommt in Untersuchung. Ich habe keine Lust, mich wegen andrer Leute pensionieren zu lassen.«

      Abgesehen von den wirklich Betroffenen, lag auf diesen Müdirs die ärgste Last der tragischen Maßnahme. Die Nahijehs, die Bezirke, die sie verwalteten, umfaßten große Gebiete, Eisenbahnen gab es so gut wie keine, Telegrafenlinien nur wenige, und Wagenfahrten waren auf den grausamen Straßen und Saumwegen zumeist eine Folterstrafe. Es blieb also nicht viel anderes übrig, als Tag und Nacht im Sattel zu sitzen, damit man jedes Dorf und jeden Flecken, in dem die Armenier lebten, rechtzeitig auf die Beine bringen konnte. Rechtzeitig? Manchmal war diese rechte Zeit die Mitternacht vor dem Auszugsmorgen. Der Wali, der Mutessarif, der Kaimakam hatten leicht befehlen und verantwortlich machen. In den Städten war es ja ein Kinderspiel. Wenn man aber siebenundneunzig Flecken, Dörfer, Weiler und Gehöfte unter sich hatte, dann sah die Sache schon ganz anders aus. Mancher Müdir, der weder hexen konnte, noch allzu buchstabeneifrig war, entschloß sich daher, dieses und jenes unbedeutende abgelegene Dorf einfach nicht zu berücksichtigen. Viele der Müdirs handelten aus gutherziger Faulheit so, welche ja einer der wichtigsten Antriebe menschlicher Wirksamkeit ist. Andre wiederum verbanden die milde Bequemlichkeit mit pfiffigen Nebengedanken. Solche »Nicht-Berücksichtigungen« konnten sich in der Folge gut bezahlt machen, denn der armenische kleine Mann und selbst der Bauer ist nicht unvermögend. Gefährlich waren dergleichen Ausnahmen nur dort, wo es einen ständigen Gendarmerieposten gab. Die Saptiehs wollten ihr eigenes Geschäft machen, und welches Geschäft wäre einträglicher als die legale Plünderung, bei der die Behörde beide Augen zudrückt? Zwar verfiel das Gut der Verstoßenen verordnungsgemäß dem Staatssäckel. Dieser aber wußte genau, daß er nicht Machtmittel genug besaß, um seinen ehrenwerten Anspruch durchzusetzen, und daß es für ihn vorteilhaft war, die muntere Arbeitsfreude der ausübenden Organe wachzuhalten.

      Während in den Selamliks, Cafés, Bädern, Versammlungsorten der Provinz die moderne Welt (das heißt alles, was Zeitungen las, einen bescheidenen Fremdwörterschatz besaß, anstatt Karagöz, dem alttürkischen Schattenspiel, in Smyrna oder Stambul ein paar französische Komödien gesehen hatte und ansonsten den Namen Bismarck und Sarah Bernhardt kannte), während also diese Gebildeten, dieser fortgeschrittene Mittelstand sich restlos hinter Envers Armenierpolitik stellte, verhielt es sich mit den einfachen türkischen Menschen, mochten es nun Bauern oder das niedere Stadtvolk sein, durchaus anders. Oft staunte der Müdir auf seinen Rundreisen, wenn in einem Dorfe, wohin er den Austreibungsbefehl gebracht hatte, sich Türken und Armenier zusammenscharten, um miteinander zu weinen. Und er verwunderte sich, wenn vor einem armenischen Hause die türkische Nachbarsfamilie schluchzend stand und den Tränenlos-Erstarrten, da sie ohne sich umzuschauen aus ihrer alten Tür traten, nicht nur ein »Allah möge euch barmherzig sein« zurief, sondern Wegzehrung und große Geschenke mit auf den Weg gab, eine Ziege, ja selbst ein Maultier. Und der Müdir konnte auch erleben, daß diese Nachbarsfamilie die Elenden mehrere Meilen weit begleitete. Und er konnte erleben, daß sich seine eigenen Volksgenossen vor seine Füße warfen und ihn anflehten:

      »Laß sie bei uns! Sie haben nicht den richtigen Glauben, aber sie sind gut. Sie sind unsere Brüder. Laß sie hier bei uns!«

      Doch was half das? Selbst der gutmütigste Müdir konnte nur in ein paar namenlosen Einöd-Dörfern eine Ausnahme machen und es heimlich dulden, daß sich ein Rest der verfluchten Rasse dort unter der Decke seiner Todesangst verkroch.

      Über die Dorfpfade aber stolperte es dahin, in die Karrenwege bog es ein, auf den Landstraßen stieß es zusammen, um nach Tagen endlich die große Chaussee zu erreichen, die über Aleppo nach Südosten und in die Wüste führt. Ein schleppender, millionenfüßiger Rhythmus, den die Erde noch nicht erlebt hatte. Mit wahrhaft strategischer Umsicht war der Aufmarsch dieser Armee entworfen und eingeleitet worden. Nur eines hatten die verborgenen Feldherren ganz und gar vergessen: den Verpflegungsnachschub. Die ersten Tage wurde wohl noch etwas Brot und Bulgur, gedörrter Weizen, gefaßt, aber da war der eigene Proviant noch nicht aufgezehrt. In diesen ersten Tagen hatte auch jeder Erwachsene das Recht, vom Onbaschi, dem Rechnungsunteroffizier des Transportes, die Auszahlung einer gesetzlichen Löhnung von zwölf Para, vierzig Groschen ungefähr, zu verlangen. Doch die meisten hüteten sich wohl, diese Forderung zu stellen, durch die sie sich nur den Haß eines Allmächtigen zugezogen hätten; und dann, für zwölf Para konnte man bei der herrschenden Teuerung im besten Fall einige Orangen oder ein Hühnerei kaufen. Mit jeder Stunde wurden die Gesichter hohler, der millionenfüßige Schritt taumelnder. Bald entrang sich kein anderer Laut mehr dem ziehenden Wesen als Stöhnen, Husten, Wimmern und manchmal ein wüster, krampfhafter Aufschrei. Mit der Zeit fielen immer mehr Glieder dieses Wesens ab, sanken hin, wurden in den Graben gestoßen und verreckten. Dann sausten die Knüppel der Saptiehs auf die Rückender zögernden Scharen. Wütend waren die Saptiehs. Auch sie mußten ein Hundeleben führen, ehe sie ihre Ausgetriebenen an der Grenze der Kasah dem benachbarten Gendarmeriekommando übergaben. Anfangs wurden noch Standeslisten geführt. Als aber dann die Krankheits- und Todesfälle überhandnahmen, als man immer mehr Halb- und Ganzgestorbene in den Straßengraben werfen mußte, vor allem Kinder, da erwies sich die Listenführung als höchst lästig und der Onbaschi ließ die überflüssige

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