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      »Keinen Augenblick habe ich geschlafen. Mir ist so vieles eingefallen. Das Diner bei Professor Lefevre, damals. Und mein erster Brief an dich.«

      Juliette hatte an Gabriel niemals auch nur die geringste Sentimentalität bemerkt. Um so mehr setzte er sie jetzt in Erstaunen. Schweigend blickte sie zu ihm hinüber. Die Kerze hinter seinem Rücken bewirkte, daß des Mannes Gesicht unsichtbar blieb und nur sein Oberkörper wie ein großer schwarzer Block sich abzeichnete. Gabriel aber sah – da nicht nur die Kerzenflamme, sondern das erste sternhafte Morgenzwielicht auf Juliette fiel – ein zartschimmernd helles Wesen sich gegenüber: »Vierzehn Jahre waren es im Oktober. Das größte Geschenk meines Lebens. Und doch, es war eine schwere Schuld. Ich hätte dich nicht losreißen, nicht in ein fremdes Verhängnis stürzen dürfen ...«

      Sie griff nach den Streichhölzern, um nun auch ihre Kerze anzuzünden. Er haschte nach ihrer Hand und verhinderte es. So traf sie seine Stimme wieder aus der gestaltlosen Schwärze:

      »Es wäre das beste, du würdest dich retten ... Wir sollten uns scheiden lassen!«

      Sie schwieg lange. Es fiel ihr nicht ein, daß dieser tolle, ganz und gar unbegreifliche Antrag mit ernsten Dingen im Zusammenhang stehn könnte. Sie rückte näher zu ihm:

      »Hab ich dir weh getan, dich gekränkt, dich eifersüchtig gemacht? ...«

      »Nie bist du gütiger zu mir gewesen als heute abend. Seit Jahren schon hab ich dich nicht so lieb gehabt ... Doch um so schrecklicher!«

      Er stützte sich höher auf, wodurch der dunkle Block seiner Gestalt noch fremder wurde:

      »Juliette, du mußt ernst nehmen, was ich sage. Ter Haigasun wird alles tun, um unsere Scheidung so schnell wie möglich durchzuführen. Und die türkische Behörde macht bei solchen Dingen keine Schwierigkeiten. Dann bist du frei, keine Armenierin mehr, und kannst dich lossagen von dem grauenhaften Volksschicksal, in das du durch meine Schuld geraten bist. Wir reisen nach Aleppo. Dort stellst du dich als Europäerin unter den Schutz eines Konsuls, des amerikanischen, des schweizerischen, gleichviel. Dann bist du in Sicherheit, was auch hier und dort geschehen mag. Stephan kommt mit dir. Ihr werdet ungehindert die Türkei verlassen dürfen. Mein Vermögen und meine Einkünfte werde ich natürlich auf euch überschreiben ...«

      Er hatte krampfhaft und schnell gesprochen, damit sie ihn nicht unterbreche. Juliettens Gesicht aber kam dem seinen ganz nahe:

      »Und diesen Wahnsinn meinst du wirklich ernst?«

      »Wenn alles vorüber ist und ich noch lebe, dann komm ich ja wieder zu euch.«

      »Und gestern haben wir doch in aller Ruhe besprochen, was geschehen soll, wenn du einberufen wirst ...«

      »Gestern? Gestern war alles falsch. Unterdessen aber hat sich die Welt verändert.«

      »Was hat sich verändert? Die Geschichte mit den Pässen? Wir werden neue bekommen. Und du selbst sagst doch, daß du in Antiochia nichts Schlimmes erfahren hast.«

      »Ich habe zwar manches Schlimme erfahren, aber darauf kommt es nicht an. Was sich tatsächlich verändert hat, ist vielleicht sehr wenig. Aber das kommt plötzlich wie ein Wüstensturm. Die Väter in mir, die namenlos gelitten haben, spüren es. Der ganze Lebensstoff spürt es. Nein, das kannst du nicht begreifen, Juliette. Wer niemals um seiner Rasse willen gehaßt worden ist, kann das nicht begreifen.«

      Juliette sprang aus dem Bett, setzte sich zu ihm, nahm seine Hände:

      »Du bist genau wie Stephan. Wenn der einen schweren Traum gehabt hat, erwacht er auch nur halb und ist eine Stunde lang verstört. Warum sollten denn gerade wir in Gefahr sein? Ich denke an deine türkischen Freunde, an diese reizenden feinen Menschen, die wir in Paris bei uns so oft zu Gast gehabt haben. Und das sollten auf einmal heimtückische Bestien geworden sein? Nein! Ihr Armenier habt den Türken immer unrecht getan.«

      »Ich tue ihnen nicht unrecht. Es gibt unter ihnen wunderbare Leute. Ich habe schließlich im Krieg auch das niedre Volk kennengelernt, in seiner Geduld und Güte. Sie sind nicht schuld und wir sind nicht schuld. Aber was hilft das?«

      Das Morgengrauen wuchs, und die Linie des Musa Dagh, der in das Schlafzimmer schaute, begann schärfer zu werden. Die Augen Gabriels hingen an dem Berg:

      »Ich habe darüber nachgedacht, wie sonderbar es doch ist, daß wir Awetis nachgereist sind und er sich mir immer wieder entzogen hat. Als wenn er mich durch seinen Tod hätte nach Yoghonoluk locken wollen ... Nein! Eigentlich hast du ja darauf bestanden, hierherzugehn.«

      Es wurde kalt. Juliettens nackte Füße froren. Friedfertig stimmte sie bei:

      »Siehst du? Es war mein Eigensinn. Das kann dich doch beruhigen.«

      Gabriels Gedanken aber hatten ein anderes Ziel:

      »Gestern habe ich einen Augenblick lang das felsenfeste Gefühl gehabt, daß eine höhere Macht mich leitet, daß Gott irgend etwas mit mir vorhat. Es war wirklich ein felsenfestes Gefühl, wenn es auch schnell vorübergegangen ist ... Das Leben, das ich geführt habe, war wohl nicht das rechte. Es ist so angenehm, sich einzubilden, man sei eine außergewöhnliche Persönlichkeit, ein hervorragendes Staubkorn, das an die Schwerkraft nicht gebunden ist und ohne Verpflichtung im Weltraum vagabundieren darf ... Da hat mich Gott durch Awetis und durch seinen Willen in das alte Land zurückgeführt ...«

      Er schwieg. Juliette aber forschte lange in seinen undeutlichen Zügen:

      »Ich sehe das erstemal an dir Angst.«

      Noch immer wandte er die Augen nicht von dem wachsenden Musa Dagh ab:

      »Angst? Wie vor etwas Übernatürlichem! Als Kind habe ich mir oft vorgestellt, daß ein kleines Sternchen am Himmel plötzlich größer wird, anschwillt, näher und näher kommt und die Erde zerdrückt ...«

      Er schüttelte sich, um seiner endlich Herr zu werden:

      »Juliette! Nicht um mich geht es. Es geht um dich und Stephan.«

      Da wurde sie endlich sehr böse:

      »Ich glaube an all deine Gefahren nicht. Wir leben im Jahre 1915. Ich habe in der Türkei wie überall in der Welt nur Freundlichkeit und Galanterie erlebt. Ich fürchte mich nicht vor den Menschen. Aber selbst wenn eine Gefahr droht, glaubst du wirklich, ich würde so feig und gemein sein, davonzulaufen und dich sitzenzulassen? ... Das täte ich nicht einmal dann, wenn ich dich nicht mehr gern hätte.«

      Er sagte nichts mehr und schloß die Augen. Juliette wollte sich schon leise erheben. Gabriel aber ließ den Kopf in ihren Schoß gleiten. Seine Stirne war kalt und naß. Jäh mit einem Schlag begannen die Vögel ihr morgenschrilles Durcheinander.

      Viertes Kapitel

       Das erste Ereignis

       Inhaltsverzeichnis

      Diese Anwandlung der Schwäche und Verzagtheit ging so schnell vorüber, wie sie gekommen war. Dennoch schien Gabriel seit dem Tage von Antiochia nicht mehr derselbe. Er, der sonst stundenlang in seinem Zimmer gearbeitet hatte, verbrachte jetzt meist nur die Nächte zu Hause. Dann aber war er sehr müde und schlief wie ein Toter, über das Drohende, das ihn in der letzten Sonntagsnacht so tief verstört hatte, sprach er kein Wort mehr. Auch Juliette vermied es, die Rede darauf zu bringen. Sie war überzeugt, daß nichts Bedenkliches dahintersteckte. In ihrer Ehe hatte sie schon drei- oder viermal krisenhafte Zeiten an Gabriel miterlebt. Wochen einer schweren und grundlosen Verstimmung, Tage eines brütenden Verstummens, das sich durch kein freundliches Mittel lösen und aufheitern ließ. Sie kannte das. In solchen Zeiten wuchs die Wand zwischen ihnen auf, das Fremde, das Unüberwindliche, und sie war dann über ihren kindlichen Mut erschrocken, der sie verleitet hatte, ihr Leben an dieses schwere Blut zu ketten. Freilich, in Paris war es für Juliette anders gewesen. Die eigene Welt, in der Gabriel der Fremde war, stand als Übermacht hinter ihr. Hier aber in Yoghonoluk hatte sich ihre Lage verkehrt, und es ist sehr begreiflich, warum sich Juliette bemühte, bei aller Ironie ihr

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