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Bitten, die ich nicht erfüllen kann ... Hier zum Beispiel dieser Brief ...«

      ( Er zieht einen schmutzigen Zettel aus der Tasche und zeigt ihn Johannes Lepsius.)

      »Ihn hat ein christlicher Geistlicher geschrieben, wie du einer bist. Er saß neben der unbegrabenen Leiche seiner Frau, die schon den dritten Tag dalag. Es war nicht auszuhalten ... Ein ganz kleiner Mann, von dem kaum mehr etwas übrig war. Harutiun Nokhudian heißt er und ist irgendwo an der syrischen Küste zu Hause. Seine Landsleute sind auf einen Berg geflohen. Ich habe ihm versprochen, diesen Brief den Seinigen zukommen zu lassen. Aber wie?«

      Johannes Lepsius ( spürt, durch die Erzählungen des Hauptmanns im Innersten erstarrt, den Muskelkrampf seiner gekreuzten Beine längst nicht mehr. Er liest auf dem hingehaltenen Zettel nur die großen armenischen Buchstaben der Anschrift: »An den Priester von Yoghonoluk Ter Haigasun«):

      »Auch diese Bitte wird nicht erfüllt werden wie alle andern.«

      Agha Rifaat Bereket ( hat seinen Bernsteinkranz verschwinden lassen. Die feine Gestalt des Alten von Antakje macht einige wiegende Bewegungen gegen den Scheich hin):

      »Diese Bitte kann erfüllt werden ... Ich will den Brief des Nokhudian seinen Landsleuten zustellen. In einigen Tagen schon werde ich an der syrischen Küste sein.«

      Der alte Scheich ( wendet sich mit einem kleinen Lächeln zu Lepsius):

      »Welch ein Beispiel für Gottes Walten! Zwei Brüder, die sich fremd sind, begegnen einander in dieser großen Stadt, damit der Wunsch eines Unglücklichen erfüllt werden kann ... Nun aber wirst auch du uns besser erkennen. Sieh meinen Freund, den Agha aus Antakje! Er ist kein Mann mehr im kräftigen Alter wie du, er trägt seine siebzig Jahre schon. Und doch reist er und arbeitet seit vielen Monaten für die Ermeni millet, er, ein guter Türke. Um ihretwillen hat er sogar den Sultan und den Scheikh ül Islam aufgesucht.«

      Agha Rifaat Bereket: »Der Leiter meines Herzens kennt meine Absichten. Leider aber sind die anderen sehr stark und wir sehr schwach.«

      Der alte Scheich: »Wir sind schwach, weil die Knechte Europas unserem Volk die Religion rauben. Es ist so, wie es der Türbedar mit bösen Worten gesagt hat. Nun weißt du die Wahrheit! Die Schwachen aber sind nicht feige. Ich kann nicht beurteilen, ob dir deine Wirksamkeit für die Armenier Gefahren bringt. Dem Agha und dem Hauptmann kann sie höchst gefährlich werden. Wenn ein Verräter oder Spitzel der Regierung sie angibt, verschwinden sie für immer im Gefängnis.«

      Johannes Lepsius ( beugt sich über die Hand Scheich Achmeds. Es wird aber kein Kuß daraus, da der Pastor seine Scham und Verschlossenheit nicht überwinden kann):

      »Ich segne diese Stunde und ich segne euren Bruder Nezimi, der mich hierhergeführt hat. Keine Hoffnung hatte ich mehr. Jetzt aber hoffe ich wieder, daß man trotz aller Transportlager einen Teil des Armenierstammes mit eurer Hilfe wird erhalten können.«

      Der alte Scheich: »Das steht allein bei Gott ... Verabrede dich mit dem Agha!«

      Johannes Lepsius: »Gibt es eine Möglichkeit, die Männer vom Musa Dagh zu retten?«

      Der Türbedar ( gerät wieder in Zorn, da dieses Mitgefühl mit Empörern für sein osmanisches Herz zu weit geht):

      »Der Prophet sagt: Wer zugunsten eines Verräters beim Richter einschreitet, ist selbst Verräter. Denn wissentlich oder unwissentlich fördert er die Unruhe.«

      Der alte Scheich ( die nüchterne Überlegenheit seines Wesens weicht zum erstenmal von ihm. Er starrt in die Ferne und seine Worte klingen unentwirrbar zweideutig):

      »Vielleicht sind die Verlorenen schon in Sicherheit und vielleicht sind die Sicheren schon verloren.«

      Ein Diener des Scheichs und der dicke Pförtner mit den milden Augen bringen Kaffee und Lokum, türkisches Zuckerwerk. Scheich Achmed reicht seinem Gast eigenhändig die Tasse. Ehe er sich verabschiedet, will Johannes Lepsius noch einmal das Gespräch auf die armenische Sache bringen. Es gelingt ihm aber nicht. Der alte Scheich lehnt jedes weitere Wort darüber kühl ab. Der Agha Rifaat Bereket hingegen verspricht dem Pastor, ihn noch an demselben Abend im Hotel aufzusuchen, da er schon sechsunddreißig Stunden später verreisen müsse.

      Doktor Nezimi Bey verläßt den Pastor beim Seraskeriat. Die beiden Männer haben den langen Weg fast schweigend zurückgelegt. Der Türke glaubt, der Pastor sei mit seinen Eindrücken so leidenschaftlich beschäftigt, daß er kein Wort findet Das stimmt auch, doch in anderem Sinn. Der Kopf dieses Besessenen ist zum Platzen voll von neuen Ideen. Er denkt nicht an die geheimnisvolle neue Welt, in der er einige Stunden verbracht hat, sondern nur an »Die Bresche ins Innere«, die sich durch einen wundersamen Zufall plötzlich aufgetan hat. Immer wieder drückt er Nezimi stumm die Hand zum Danke. Doch die Worte, die jener jetzt spricht, vernimmt er nur ungenau. Er möge, so fordert ihn der Türke auf, in den nächsten Tagen die kleinen Begebenheiten seines Lebens wohl beachten. Wen Scheich Achmed der Herzprobe gewürdigt habe, dem begegneten mitunter Ereignisse, die ihre Bedeutung hätten, wenn man sie zu erfassen verstünde. Allein geblieben, blickt Johannes Lepsius zu den Fenstern von Envers Hochsitz empor. Sie brennen in der Nachmittagssonne. Er wirft sich in eine Droschke: »Zum armenischen Patriarchat!« Alle Konfidenten der Welt sind ihm jetzt gleichgültig. Er bedrängt mit seinem Ungestüm den erloschenen Erzpriester. Der Gedanke des Monsignore Sawen lasse sich unglaublicherweise verwirklichen. Alttürkische Kreise helfen den Armeniern, ohne daß man es bisher gewußt habe. Die beste Klasse des Volkes sei in unauslöschlichem Haß gegen die atheistischen Führer entbrannt. Man müsse dieses Feuer für die eigene Sache benützen ... Monsignore Sawen greift sich mit beschwörender Geste an den Mund. Nicht so laut, bei Christi Barmherzigkeit! Der rasche Geist des Pastors entwickelt einen großzügigen Organisationsplan. Das Patriarchat soll sich heimlich mit den großen Derwisch-Orden in Verbindung setzen und so den Grund zu einem weitverzweigten Hilfswerk legen, das zum entscheidenden Rettungswerk anwachsen müsse. Durch einen starken Impuls würde die religiöse Schicht der Türken in ihrem Kampf gestärkt werden und ein mächtiger Widerstand gegen Enver und Talaat im Volke sich bilden. Monsignore Sawen ist weit weniger optimistisch als Johannes Lepsius. Ihm sind diese Dinge nicht unbekannt. Er flüstert mit kaum hörbarer Stimme. Nicht alle Derwisch-Orden glichen dem erwähnten. Die größten und einflußreichsten zumal, Mewlewi und Rufai, seien blinde Armenierhasser. Sie verfluchten zwar Enver, Talaat und alle andern Größen des Komitees, fänden aber die Ausrottung völlig in Ordnung. Johannes Lepsius läßt sich seine Zuversicht nicht rauben. Man müsse die Hände ergreifen, die sich bieten. Er schlägt dem Patriarchen eine verborgene Zusammenkunft mit Scheich Achmed vor, die Nezimi Bey vermitteln soll. Monsignore Sawen ist über all diese Kühnheiten so entsetzt, daß er froh zu sein scheint, als der temperamentvolle Pastor sein Zimmer verläßt.

      Lepsius entlohnt die Araba am jenseitigen Brückenende. Er will die kurze Strecke bis zum Tokatlyan zu Fuß gehen. Seit Monaten einer unausdenklichen Depression fühlt er sich jetzt so wundervoll erhoben, als dürfte er auf einen großen Erfolg zurückblicken. Dabei hat er gar nichts Wirkliches erreicht, sondern nur einen schwachen Lichtspalt erblickt. Er geht in Gedanken die Grande rue Pera immer weiter und an seinem Hotel vorbei. Ein herrlich kühler Abend ist herabgesunken. Der Himmel schimmert hellgrün über den Baumspitzen einer parkartigen Alleestraße. Das ist eine ausnehmend feine Stadtgegend. Gesandtschaftsviertel, denkt Lepsius, und kehrt langsam um. Sogar Bogenlampen gibt es hier, die zögernd aufstrahlen. Ein Auto kommt ihm in gemächlicher Fahrt entgegen. Das Innere des Wagens ist beleuchtet. Ein Offizier sitzt neben einem dicken Zivilisten, in lebhaftem Gespräch begriffen. Johannes Lepsius fühlt plötzlich den Geschmack eines leisen Schrecks auf der Zunge. Er hat Enver Pascha erkannt. Die blitzende Jugendgestalt, das frische Gesicht mit den langen Mädchenwimpern. Und der Nachbar mit dem schief gedrückten Fez und der weißen Weste ist ohne Zweifel Talaat Bey, wie man ihn auf vielen Bildern sehen kann. Nun ist er dem großen Feinde doch wieder begegnet. Im stillen hat er es sonderbarerweise immer gewünscht. Gebannt rührt er sich nicht von seinem Fleck und sieht dem Auto nach. Es hat sich noch keine hundert Meter entfernt, als zwei Schüsse kurz hintereinander fallen.

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