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ans Licht der Welt geholfen hatte, ein persönlich teilnehmendes Wort zu sagen. Alle Worte, gute und böse, erschienen ihm längst als leer und unangebracht.

      Gabriel wollte den Alten ein Stückchen begleiten, um frische Luft zu schöpfen. Am Zeltvorhang wich er jedoch zurück. Wären die Türken jetzt vor allen Stellungen aufgetaucht, er hätte sich kaum überwunden, das Dunkel zu verlassen. Er legte sich auf den Diwan, der Juliettens Bett gegenüberstand. Ihm schien es, als sei er bis zu dieser Stunde im Leben noch niemals müde gewesen. Die drei blutigen Schlachten, die vielen durchwachten Nächte, das ewige Hin und Her zwischen Stellungen und Beobachtungspunkten, jeder einzelne dieser ungeheuren Tage des Musa Dagh hängte sich an ihn wie ein elbischer Wicht mit plattem Erdgesicht, der von Sekunde zu Sekunde schwerer wurde. Es gab eine Müdigkeit, die selbst zu müde war, das Bittere des eigenen Schicksals zu kosten. Ein geduckter unguter Schlaf öffnete seine Höhle. Gabriel erkannte Iskuhis Gegenwart, als er noch tief im Hintergrund dieser Höhle verwühlt war. Mit großer Mühe riß er sich los und fuhr auf:

      »Hier darfst du nicht sein, Iskuhi! Keinen Augenblick! Wir werden uns jetzt nicht mehr sehn ...«

      Ihre Augen waren groß und böse:

      »Und wenn du krank wirst, soll ich nicht krank werden?«

      »Denk doch an Howsannah und das Kind!«

      Sie ging zum Bett und legte ihre Handflächen auf Juliettens Schultern. In dieser Stellung wandte sie sich nach Gabriel um:

      »So, jetzt kann ich nicht mehr in unser Zelt zurückgehn, jetzt kann ich nicht mehr Howsannah und das Kind berühren ...«

      Er versuchte sie fortzuziehen:

      »Was wird Aram Tomasian dazu sagen? Nein, ich kann es vor ihm nicht verantworten, Iskuhi! Geh, um deines Bruders willen, Iskuhi, geh!«

      Sie beugte sich tief über das Gesicht der Bewußtlosen, die jetzt immer unruhiger wurde:

      »Warum schickst du mich fort? Wenn es geschehen soll, so ist es jetzt geschehn. Mein Bruder? Das ist mir alles nicht mehr wichtig.«

      Er trat leise und unsicher hinter sie:

      »Du hättest das nicht tun sollen, Iskuhi.«

      Über ihr Gesicht zuckte es fast wie leidenschaftlicher Spott:

      »Ich? Was bin ich? Du bist der Führer. Wenn du krank wirst, ist alles verloren.«

      Mit ihrem Taschentuch reinigte sie den Mund der Kranken:

      »Als wir aus Zeitun kamen, war Juliette so gütig, so wunderbar zu mir. Ich habe jetzt eine Pflicht zu erfüllen, so gut ich es kann. Verstehst du das nicht?«

      Er versenkte seine Lippen in ihr Haar. Sie aber umfing ihn mit aller Kraft:

      »Bald ist doch alles vorbei! Und ich will dich haben. Ich will bei dir gewesen sein!«

      Es war der erste offene Ausbruch von Iskuhis Liebe. Sie hielten einander fest, als läge eine Tote neben ihnen, die nichts mehr spürt. Doch Juliette war nicht tot. Ihr Atem röchelte. Manchmal entrang sich ein kleiner, jammernder Laut ihrer verengten und geschwollenen Kehle, als suche sie jemanden, der ihr immer wieder entweiche. Da ließ Iskuhi Gabriel los, doch wie mit weinenden Händen. Dann sprachen sie nur mehr einsilbige Sachlichkeiten, um der Bewußtlosen willen.

      Während der Nacht kam Juliette für eine Weile zu sich. Sie begann wirr zu reden und versuchte, sich aufzustemmen. Wie weit war der Weg, den sie zurückzulegen hatte. Doch gelangte sie nur bis in ihre Wohnung in der Avenue Kleber und nicht bis auf den Damlajik:

      »Suzanne ... Was ist denn los? ... Bin ich krank? ... Ich bin krank ... Ich kann nicht aufstehn ... So helfen Sie mir doch ...«

      Sie verlangte einen Dienst. Gabriel und Iskuhi halfen der Kranken, die sich noch immer in ihrem Pariser Schlafzimmer befand. Vom Schüttelfrost hin und her geworfen, lallte Juliette:

      »So ... Ich glaube, jetzt werde ich schlafen ... Es ist wieder einmal meine Angina, Suzanne ... Nichts Arges, hoffentlich ... Wenn mein Mann nach Hause kommt, wecken ...«

      Die gemurmelte Nennung des einstigen Bagradian, der in der Welt dieser Kranken ein gesichertes Leben führte, wirkte auf den wirklichen Bagradian erschütternd. Er tauchte wieder ein Tuch ins Wasser und erneuerte die Kompresse um Juliettens Hals. Dann deckte er sie mit großer Sorgfalt zu und flüsterte: »Ja, schlafe, schlaf nur, Juliette!«

      Sie sagte etwas Unverständliches. Es klang wie müder Dank und wie das kindliche Versprechen, gehorsam schlafen zu wollen. Gabriel und Iskuhi saßen schweigend, dicht aneinandergedrückt und Hand in Hand auf dem Diwan. Er aber ließ kein Auge von der Kranken. Sonderbarste Lebensverwicklung! Der Betrogene diente – sie mit einer anderen betrügend – der Betrügerin. Juliette schien nun wirklich zu schlafen.

      Die Stunde war da. Gonzague Maris hatte sich entschlossen, nicht mehr länger zu warten. Ein Ruck! Vorbei ist vorbei. Und doch, er schlüpfte nicht so leicht aus diesen seltsamsten Wochen seines Lebens, wie er sich's vorgenommen hatte. Mit Verwunderung erkannte er, daß ihn ein ausgesprochenes Leidensgefühl zurückhielt. War seine Liebe zu Juliette größer, als er wußte? War es ein Schuldbewußtsein, das seine Freiheit trübte? In den letzten Tagen hatte sich die Frau so wirr und unbegreiflich benommen und durch ihre Qual sein Mitleiden und den Wunsch, sie zu beschützen, immer wieder aufgerührt. Und dann, das Ende war so schändlich. Wenn er des gräßlichen Augenblickes gedachte, preßte er die Zähne aufeinander, und sein beherrschtes Gesicht verzerrte sich. Mußte er sich wie ein windiger Lump diesem Ende, diesem abscheulichen Abbruch beugen? Mehr als einmal hatte er sein Versteck verlassen und war bis in die Nähe des Dreizeltplatzes gekommen, um mit Gabriel Bagradian zu sprechen und um Juliette zu kämpfen. Jedesmal aber war er wieder zurückgekehrt, nicht aus Feigheit, sondern aus einem neuartig unüberwindlichen Befangenheitsgefühl: Hier gehöre ich nicht mehr her. Seit jenem Augenblick nämlich hatte sich zwischen Gonzague und der Welt des Damlajik ein unsichtbarer, aber gewaltiger Hinderniswall aufgebaut. Es war für ihn kaum mehr möglich, den Luftraum, der die armenischen Wohnstätten umlagerte, zu durchdringen. Juliette aber lebte jetzt jenseits dieses Walles. Das armenische Schicksal hatte sich stärker erwiesen als sie. Dazu kam die feinverklausulierte Warnung Apotheker Krikors, seines Hausvaters. Dieser hatte mit keinem Wort das Peinliche berührt, sondern nur vom amerikanischen Paß Gonzagues gesprochen und die Meinung kundgetan, daß jeder irdische Aufenthalt einmal zu Ende gehe und daß es das schöne Vorrecht der Jugend sei, leichten Blutes immer wieder Abschied nehmen zu können. Das Leben werde erst trübe, wenn es nur einen einzigen Abschied mehr enthalte. Maris hatte die praktische Philosophie des Alten mit gebührender Achtung entgegengenommen und doch aus einer zartsinnigen Nebenbemerkung herausgespürt, daß jede weitere Stunde auf dem Musa Dagh für ihn mit mancherlei Gefahren verbunden sei. Und dies Bewußtsein der lauernden Gefährdung wurde mit den fortschreitenden Minuten immer stärker. Der abnehmende Halbmond stand schon hoch über seinem Scheitel. Er hatte eine ganze Stunde über die verabredete Zeit gewartet. Juliette war verloren. Er ging noch einmal einige Schritte in die Richtung des Lagers. Dann kehrte er entschlossen um. Vielleicht war es besser so. Langsam und mit zögernder Gründlichkeit zog er seine Handschuhe an. Ein überlegener Beobachter hätte diese elegante Geste inmitten einer weglosen nächtlich asiatischen Bergwüstenei vielleicht als grotesk empfunden. Gonzague zog aber seine Handschuhe nur an, um sich bei der Kletterei nicht zu verletzen. Dann schnallte er sich den schmalen Lederkoffer auf den Rücken. Wie es seine Gewohnheit war, wenn er aus dem Hause ging, zog er seinen Taschenkamm hervor und brachte sein Haar in Ordnung. Das Bewußtsein, nichts vergessen zu haben, kein Stücklein seines Ichs unbemerkt zurückzulassen, kurz ein frisches und wohltuendes All-right-Gefühl erfüllte ihn trotz allem. Langsam schlenderte er zwischen Rhododendron, Myrten und wilden Magnolien in den Mond hinein, als dehne sich vor ihm nicht die Wildnis, sondern eine reizend gebahnte Promenade. Ihm fiel ein Wort ein, das er zu Juliette über sich gesprochen hatte: »Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis, weil ich eine sehr schlechte Erinnerung habe.« Und wirklich, bei jedem Schritt nach Süden wurde seine Erinnerung blasser, sein Herz freier. Schon schritt er rascher aus, neugierig der Zukunft zugewandt, die durch seine Pässe und sein Naturell gesichert war. Wie Schneegrate und -felder, von unnatürlich schwarzen Schatten durchhöhlt, strahlten die kreidigen Felsen

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