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gegen das sündige Glück. Aus vielen Gründen mißtraute sie dem so durchsichtig undurchsichtigen Gonzague, nicht zuletzt, weil er um drei Jahre jünger war als sie. In Paris hätte sich wohl eine traditionelle Form für alles gefunden, hier jedoch in den phantastischen Revieren des Damlajik lastete das Bewußtsein der Verworfenheit schwer auf ihr. Dies aber war nur ein kleiner Teil der Verwicklungen. Einige Minuten lang war sie völlig bereit, heute nacht mit Gonzague den Berg zu verlassen und in der Spiritusfabrik das Dampfschiff zu erwarten. In der nächsten Zeitspanne aber kam ihr dieser Gedanke lächerlich undurchführbar vor. Es gehörte mutigste Entschlossenheit dazu, sich einem Abenteurer rückhaltlos anzuvertrauen, selbst wenn man dadurch dem Tode entging. War es nicht ratsamer, sein Schicksal auf dem Musa Dagh untätig abzuwarten, als in Beirut plötzlich verlassen zu werden? Der Gedanke an die nächtliche Kletterei, an die gefahrvolle Durchquerung der mohammedanischen Orontes-Ebene, an die Seefahrt unter Spiritusfässern, an die Bedrohung durch Torpedoboote, der Gedanke an all diese Gefahren und Strapazen vermischte sich mit einer angesichts der Verhältnisse lächerlichen Stilempfindung: Das paßt nicht zu mir. Was war dies alles aber gegen die Pein Stephans wegen? Sie wich ihrem Kinde jetzt aus. Sie überwachte nicht mehr seine Ernährung und Sauberkeit. Selbst am Abend kam sie nicht mehr, o heilige Muttergewohnheit, an sein Bett im Scheichzelt, um nachzusehen, ob er sich ordentlich zur Ruhe lege. All diese Versäumnisse summierten sich zu einem Schuldgefühl, das Stephan gegenüber am schwersten auf ihrem Herzen lastete. Und von all diesen Lasten beladen, war sie zu Gabriel gekommen, um offen zu sein und Abschied zu nehmen.

      Beide schauten einander an, Mann und Frau. Der Mann sah ein Gesicht, übernächtig und gealtert, wie es ihm schien. Er glaubte an den Schläfen einen weißlichen Schimmer zu entdecken. Um so weniger aber konnte er sich die fiebernden Augen erklären und den größer gewordenen Mund mit den geschwollenen und zersprungenen Lippen. Sie geht an diesem Leben zugrunde, dachte er, anders war es nicht zu erwarten. Und wenn ihn noch vor kurzem das leise Bedürfnis angewandelt hatte, zu Juliette von Iskuhi zu sprechen, jetzt gab er es auf: Wozu? Wie viele Tage haben wir denn noch vor uns?

      Die Frau sah ein sehr zerfurchtes Gesicht, alle Formen und Züge fremd zusammengeschoben und von jenem runden Stoppelbart umrahmt, den sie so gar nicht leiden konnte. Immer wieder, wenn sie dieses Gesicht sah, mußte sie sich fragen: Wie, dieser wüste orientalische Bandenchef ist Gabriel Bagradian? Dann aber war seine Stimme doch Gabriels Stimme. Und schon um dieser alten Stimme willen hätte sie nicht wahr sein können. In ihren Ohren rauschte es: Ich werde bleiben, ich werde gehn. Ihr Geist aber stöhnte: Wäre nur alles schon zu Ende!

      Das Gespräch glitt von der gefährlichen Bahn ab. Gabriel schilderte ihr die günstigen Aussichten der nächsten Tage. Man werde mit höchster Wahrscheinlichkeit eine längere Ruhepause genießen dürfen. Er wies noch einmal mit Nachdruck auf Doktor Altounis seelenverstehenden Rat hin: Im Bette liegenbleiben und lesen, lesen, lesen! Eine Rauchwolke des großen Brandes verzog sich träge vor ihren Augen. Sie mußten den scharfen, aber würzigen Holzqualm durchqueren. Gabriel blieb stehen:

      »Wie man das Harz riecht! ... Der Brand ist aus vielen Gründen ein Glück. Auch wegen dieses Rauches. Er wirkt desinfizierend. Im Epidemiewäldchen liegen leider schon zwanzig Leute, die dieser verfluchte Deserteur aus Aleppo angesteckt hat ...«

      Er konnte von nichts anderem mehr sprechen als von öffentlichen Angelegenheiten. Nichts spürte der Gleichgültige von dem, was sie in ihrem Schweigen ihm zugetragen hatte. Ich werde gehn, ich werde gehn, dröhnte es mit Muschelrauschen wieder in ihrem Gehör. Als sie aber mitten in der Rauchwolke waren, verfärbte sich Juliette und wankte, so daß er sie auffangen mußte. Sein Griff, so tausendfach bekannt, durchfuhr sie quälend. Sie wandte ihr Gesicht krampfhaft ab:

      »Gabriel, verzeih, aber ich glaube, ich werde krank ... oder ich bin es schon ...«

      Gonzague Maris wartete bereits auf dem vereinbarten Platz der Riviera. Er rauchte umsichtig und gesammelt seine halbe Zigarette zu Ende. Da er äußerst sparsam war, besaß er noch zweiundzwanzig Zigaretten. Die Tabakreste warf er nicht fort, sondern hob sie für die Pfeife auf. Wie die meisten Menschen, die aus engen Verhältnissen, aus billigsten Internaten herkommen und trotz eleganter Bedürfnisse niemals mehr als zwei Anzüge auf einmal besessen haben, ging er mit allen Werten fanatisch sorgfältig um und nützte seine Habe bis zum letzten Faden, Bissen und Tropfen aus.

      Als Juliette sich mit merkwürdig strauchelnden Schritten näherte, sprang er auf wie immer. Seine galante Form der Geliebten gegenüber hatte sich durch den Besitz nicht verändert. Auch die helle Aufmerksamkeit seiner Augen unter den schräg gegeneinandergestellten Brauen war die gleiche geblieben, wenn auch ein Schimmer unbestechlicher Kritik sie verschärfte. Er erkannte ihre Niederlage sogleich:

      »Du hast wieder nicht gesprochen.«

      Sie ließ sich neben ihm nieder, ohne zu antworten. Was war nur mit ihren Augen geschehen? Auch in der nächsten Nähe schaukelte alles wie in einem lautlosen Sturm hin und her oder war in Regenschleier gehüllt. Wenn aber der Nebel zerriß, wuchsen Palmen aus dem Meer. Kamele mit gekränkt erhobenen Häuptern zogen hintereinander über die Wellen. Nie noch war die Brandung tief unten so laut und so nahe gewesen. Man verstand sein eigenes Wort nicht. Und Gonzagues Stimme kam aus weiter Ferne:

      »Das hilft alles nichts, Juliette! Du hast viele Tage Zeit gehabt. Der Dampfer wird nicht auf uns warten, und der Direktor hilft uns ein zweites Mal nicht. In dieser Nacht müssen wir fort. Nimm doch endlich Vernunft an!«

      Sie preßte die Fäuste gegen die Brust und neigte sich vor, als müsse sie einen krampfartigen Schmerz bezwingen:

      »Warum redest du so kalt mit mir, Gonzague? Warum siehst du mich überhaupt nicht an? Sieh mich doch an!«

      Er tat das Gegenteil und sah weit hinaus, um sie seine Unzufriedenheit fühlen zu lassen:

      »Ich habe immer von dir geglaubt, daß du eine willensstarke und mutige Frau bist und nicht sentimental ...«

      »Ich? Ich bin nicht mehr, was ich war. Ich bin schon tot. Laß mich hier! Geh allein!«

      Sie hatte seinen Protest erwartet. Er aber blieb stumm. Dieses Schweigen, mit dem sie so leicht aufgegeben wurde, konnte Juliette nicht länger ertragen. Sehr kleinlaut flüsterte sie:

      »Ich werde mit dir gehen ... Heute nacht ...«

      Jetzt erst legte er mit leichter Zärtlichkeit seine Hand auf ihr Knie:

      »Du mußt dich jetzt zusammennehmen, Juliette, und dein Schuldgefühl und alle andern Hindernisse überwinden. Mit einem Schnitt, das ist am besten. Wir wollen klar sein und uns nichts vormachen. Es geht nicht anders. Gabriel Bagradian muß in irgendeiner Form unterrichtet werden. Ich sage gar nicht, daß du große Konfessionen machen sollst. Die Gelegenheit ist da und kommt nicht wieder. Das erklärt alles. Du darfst nicht einfach verschwinden. Ganz abgesehen davon, daß es eine unmögliche Gemeinheit wäre, wie willst du denn leben, hast du es dir schon überlegt?«

      Und mit der sicheren Ruhe seiner Stimme und seines Wesens suchte er sie zu überzeugen, daß Gabriel Bagradian alle jene Verfügungen treffen werde, die im Bereich seiner Möglichkeiten lägen, um ihr Leben für die nächste Zeit sicherzustellen. Aus seinen Worten tönte kein Hauch von Spekulation oder Roheit, obgleich er den Untergang Gabriels und vielleicht auch Stephans als unabwendbaren Posten in Rechnung stellte. (Was Juliettens Sohn anbetraf, so war er übrigens bereit, wenn sie es nicht anders wollte, auch diese Last auf sich zu nehmen, die freilich die Bedingungen der Flucht wesentlich erschwerte.) Am Ende seines Zuspruchs wurde er ungeduldig, denn wie oft schon hatte er dasselbe sagen müssen, und die letzten Stunden der Gelegenheit gingen dahin. Wäre Juliette zu einem geordneten Denken fähig gewesen, sie hätte seinen scharfen, umsichtigen Begründungen recht geben müssen. Aber das ging schon seit mehreren Tagen so, daß sich irgendein gehörtes und gedachtes Wort in ihrem Gehirn lästig festsetzte und nicht auszurotten war. Jetzt hörte sie: »Wie willst du denn leben?« Die Laute »leben« begannen blechern unaufhörlich in ihrem Kopf zu kreisen, wie wenn auf einer abgespielten Grammophonplatte die Nadel in einer Rille hängenbleibt und dieselbe Stelle bis zum Rasendwerden immer wiederholt. Unbegreifliche Schauer stiegen aus dem Boden auf, als säße sie am Rand eines Sumpfes. Dann wurde sie selbst zu einer Maschine und wiederholte:

      »Wie

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