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Hieb nicht so furchtbar gewesen wäre. Eine Zeitlang ließ sich Kilikian in seiner apathischen Art hin und her stoßen und es schien, daß er zur Abwehr seiner Verfolger nicht das geringste zu unternehmen gedenke, ja daß er kaum bemerke, was mit ihm vorging. Plötzlich aber riß er die Knochenfaust aus der Tasche und schmetterte sie einem seiner jüngsten Bedränger so schrecklich ins Gesicht, daß dieser mit einem verlorenen Auge und einem zerbrochenen Nasenbein blutüberströmt zusammenbrach. Dies war ein unglaublich blitzhaftes Geschehen. Eine halbe Sekunde lang straffte sich Kilikians lässige Gestalt, seine Augen schienen aufzuflammen, dann waren sie wieder stumpf wie vorher. Keiner konnte ihm ansehen, daß er der Gewalttäter gewesen sei. Anfangs wußten auch wirklich zu seinem Glück die meisten nicht, wie das Ganze gekommen war, und wichen zurück. Dann aber, als sie mit Empörungsschreien wieder auf ihn losfuhren, wäre es ihm übel ergangen, wenn nicht die Polizei der Stadtmulde aufgetaucht wäre und ihn verhaftet hätte.

      Am Morgen, während der Strafverhandlung in der Regierungsbaracke, gestand er ruhig, daß er den Hieb zuerst geführt und seine grausame Wirkung vorausgesehen habe. Er berief sich auch nicht weiter auf den Stand der Notwehr. Es schien, als sei er zu faul oder zu schlapp, um zu reden. Einen Menschen wie ihn mochten die Umstände, unter denen er leben oder sterben mußte, mit einer unaussprechlichen Wurstigkeit erfüllen, die kein andrer ermaß. Gabriel Bagradian hörte dem Gerichtstag schweigend zu. Er sprach kein Wort zur Anklage, kein Wort zur Verteidigung. Das Volk aber in seiner Gereiztheit verlangte eine Bestrafung. Nachdem er das Beweisverfahren geschlossen hatte, seufzte Ter Haigasun:

      »Was soll ich mit dir anfangen, Sarkis Kilikian? Man braucht dich ja nur anzusehen, um zu wissen, daß du in die Ordnung Gottes nicht hineinpaßt. Ich sollte die Ausstoßung über dich verhängen ...«

      Ter Haigasun verhängte die Ausstoßung nicht, sondern verurteilte den Russen zu fünf Tagen Gefängnis in Fesseln, durch drei Fasttage verschärft. Die Strafe war weit härter, als sie erscheinen mag. Sarkis Kilikian stürzte wegen einer Rauferei, bei der er der Bedrängte gewesen, vom Range eines wichtigen Kampfführers wiederum in die Unterwelt des Verbrechers hinab. Es war eine grausame Entehrung. Doch er gab durch keine Miene zu verstehen, ob solch ein Ding wie Ehre in ihm noch verwundbar sei. Nach Schluß des Verfahrens wurde er an Händen und Beinen mit Stricken gefesselt und in den Kotter gesperrt, der den dritten Raum der Regierungsbaracke bildete. Nun sah Kilikian so aus, wie er schon einigemal während seines unergründlichen Lebens ausgesehen hatte, in dem die Strafe oft keiner und oft einer undeutlichen Schuld auf dem Fuße gefolgt war. Er nahm auch diese Strafe mit seinen ungerührten Augen hin als eine wohlbekannte und unentrinnbare Gegebenheit seines raffinierten Schicksals. Das Gefängnis aber unterschied sich von allen anderen derartigen Anstalten seiner erfahrungsreichen Laufbahn schon dadurch, daß er es mit einem erhabenen Geiste wie Apotheker Krikor teilen mußte. Rechts und links zwei kleine Bretterzellen, die einander aufs Haar glichen. Die eine war ein schmachvoller Kotter, die andre aber das ganze Universum.

      Gabriel Bagradian spürte in allen Gliedern die Nähe eines unerforschlichen Ereignisses, das vielleicht den entscheidenden Sieg von vorgestern in Frage stellen konnte. Er hatte deshalb mit größtem Nachdruck darauf bestanden, daß die Boten noch heute in die Welt gesendet würden. Es mußte schnell etwas geschehen. Und war es auch ein zweckloses Beginnen, so entstand doch Erwartung und Spannung dadurch. Die Freiwilligen versammelten sich, wie der Führerrat es angeordnet hatte, auf dem Altarplatz. Alles war auf den Beinen, denn die Wahl dieser Boten, die ihr Leben froh zum Opfer brachten, ging das ganze Volk an.

      Gabriel kam von einer kurzen Visitierung der Zehnerschaften. Eingedenk der gefährlichen Erschlaffung und Streitsucht, die sich auszubreiten drohte, hatte er für diesen Nachmittag bereits wieder Gefechtsexerzieren anbefohlen. Durch die zweihundert erbeuteten Mausergewehre war nun das ganze erste Treffen vollgültig bewaffnet. In die Lücken, die der schwere Kampf gerissen hatte, wurden die besten Männer der Reserve eingeteilt. Schon hörte man die stotternde Trompete Tschausch Nurhan Elleons, der mit der Ausbildung dieser Neulinge soeben begann. Iskuhi war Gabriel auf halbem Wege entgegengekommen. Seit jener ersten jähen Seelendurchdringung suchte sie mit kindhafter Offenheit seine Nähe. Jetzt gingen sie das Stück bis zum Altarplatz fast schweigend nebeneinander. Wenn sie neben ihm war, dann erfüllte ihn immer jene seltsam ruhige Sicherheit. Er hatte immer das Gefühl, die junge Iskuhi sei die vertrauteste Bekanntschaft seines Lebens, die in holder Wärme weit über die Grenzen bewußter Erinnerung hinausreichte. Auch auf den Versammlungsort wich sie nicht von seiner Seite, obgleich sie die einzige Frau war, die ohne jeden Grund bei der ratschlagenden Gruppe der Führer stand. Hatte sie keine Furcht, daß ihr Benehmen auffallen, daß ihr Bruder Aram Verdacht fassen könnte? War es der Freimut eines ungewöhnlichen Wesens, das, von seinem ersten Gefühl ergriffen, alles bedenkenswerte Drum und Dran zu einem leeren Traum zerrinnen sieht?

      Etwa zwanzig junge Leute warteten als Freiwillige auf die Entscheidung des Führerrats. Fünf Halbwüchsige waren darunter. Man hatte die ältesten der Jugendkohorte zur Meldung zugelassen. Mit Schreck und Zorn im Herzen bemerkte Gabriel neben Haik auch seinen Sohn Stephan. Nach einer kurzen Rücksprache mit den andern Volkshäuptern traf Ter Haigasun die Auswahl. Ihm oblag ja alles, was mit dem Urteil über Menschen, über Fähigkeiten und Kräfte zusammenhing. Was die Schwimmer betrifft, so war der Entscheid eine Selbstverständlichkeit, die niemand in Zweifel zog. In Wakef, jener südlichsten Ortschaft des armenischen Sprengels, die am Rande der Orontesebene und damit schon an der Küste lag, gab es zwei berühmte Schwimmer und Taucher, einen neunzehn- und einen zwanzigjährigen Jüngling. Ter Haigasun überreichte ihnen die Ledergürtel mit dem eingenähten Hilferuf an den Kommandanten irgendeines englischen, amerikanischen, französischen, russischen, italienischen Kriegsschiffes. Sie sollten nach Sonnenuntergang vom Nordsattel aufbrechen, nachdem sie von den Ihrigen Abschied genommen hätten.

      Die Frage des Aleppoläufers brauchte zu ihrer Lösung schon einige Minuten länger. Man war übereingekommen, daß es besser sei, nur einen einzigen Menschen dieser gefahrüberladenen Aufgabe auszusetzen. Pastor Aram Tomasian meinte klärlich, daß ein erwachsener Armenier weit weniger Möglichkeiten habe, die Hauptstadt des Wilajets lebendig zu erreichen, als ein Knabe, der sich schon durch seine Kleidung von den muselmanischen Knaben kaum unterscheide und auch sonst überall leichter durchzuschlüpfen verstehe. Diese vernünftige Begründung wurde anerkannt und allgemein fiel sogleich ein einziger Name: »Haik«. Dieser düster entschlossene Bursche mit steinharten Gliedern und märchenhafter Gelenkigkeit war der Richtige, er oder keiner. Auch besaß unter den Bauern des ganzen Lagers niemand diese blinde Vertrautheit mit der Erde, diese Rundaugen eines großen Vogels, diese Nase eines Dachses, dieses Gehör einer Ratte und diese Schmiegsamkeit einer Otter. Wenn einem der todesgefährliche Aleppolauf gelang, so nur Haik.

      Als aber Ter Haigasun die Wahl Haiks von der ersten Altarstufe herab verkündete, kam es zu einem ungebührlichen Auftritt mit Stephan. Gabriels Gesicht verzerrte sich vor Ärger, als er seinen Sohn sah, der frech vor die Front der Freiwilligen trat und sich vor ihm aufpflanzte. Noch niemals war ihm die unangenehme Frühreife, die innere und äußere Verwahrlosung seines Ebenbildes so klar geworden wie jetzt. Wie ein wütender Neger bleckte Stephan die Zähne:

      »Warum denn nur Haik? Ich will auch nach Aleppo ...«

      Gabriel Bagradian machte, ohne ein Wort zu sagen, eine scharf abschneidende Handbewegung, die Schweigen gebot. Der Unbändige jedoch begehrte jetzt so laut auf, daß man das Überschnappen seiner mutierenden Stimme auf dem ganzen Platz hören konnte:

      »Warum Haik und nicht ich, Papa?! Ich werde nach Aleppo gehn!«

      Eine derartige Sohnesauflehnung war unter Armeniern etwas ganz und gar Unerhörtes und konnte nicht einmal durch die außerordentlichen Umstände und den heldenmütigen Ehrgeiz entschuldigt werden. Ter Haigasun hob mit ungeduldigem Ausdruck den Kopf:

      »Weisen Sie Ihren Sohn zurecht, Gabriel Bagradian!«

      Pastor Aram Tomasian, von Zeiten her den Umgang mit schwieriger Jugend gewohnt, suchte Stephan zu beruhigen:

      »Der Führerrat hat den Befehl gegeben, daß nur einer nach Aleppo geht. Du als großer und kluger Mensch mußt es ja wissen, was für uns alle ein Befehl des Führerrates bedeutet. Widerspruchslosen Gehorsam! Nicht wahr?«

      Der Eroberer der türkischen Haubitzen ließ sich jedoch

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