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      Sie schauerte zusammen. Ihr Mund öffnete sich, doch sie mußte ihre Stimme erst lange suchen wie etwas Verlorenes:

      »Das Schiff geht am Sechsundzwanzigsten ... Heute ist der Dreiundzwanzigste ... Ich habe noch drei Tage Zeit ...«

      »Nun ja« – er beruhigte sie mit zarter Nachsicht –, »du hast noch drei Tage Zeit ... Ich nehme dir keinen Tag fort ... Wenn es die andern dort nicht tun ...«

      »Ah, Gonzague, mir ist ganz merkwürdig zumute, ganz unverständlich ...«

      Sie verstummte mitten im Satz. Es erschien ihr aussichtslos, ihren Zustand zu schildern, der ihr selbst völlig unbekannt war. Wie irgend etwas Weiches, sehr Verletzliches, das mit seinem frierendsten Teil aus der schützenden Hülse gezogen ist. Ihre Glieder hatten ein kaltes Eigenleben, das mit dem Gesamtbewußtsein selbst nur mehr ganz mangelhaft zusammenhing. Als ob sie die Arme und Beine mit einem schmerzlichen Bedauern hätte ablegen und in einen Kasten sperren können. In früheren Zeiten, in ihrer vernunftvollen und lichten Welt, wäre Juliette nicht untätig geblieben. Irgend etwas fehlt mir, hätte sie sich gesagt und wahrscheinlich zum Fieberthermometer gegriffen. Jetzt grübelte sie darüber nach, wie es komme, daß ihr schrecklicher Zustand doch wieder auch recht behaglich und wunschlos sei. Dabei wiederholte sie noch zweimal:

      »Unverständlich ...«

      Gonzague zog sie mit lächelndem Ernst dichter an sich:

      »Arme Juliette, ich verstehe dich genau ... Du hast zuerst in fünfzehn Jahren und nun in vierundzwanzig Tagen dich selbst verloren. Jetzt kannst du weder die falsche noch die richtige Juliette in dir finden. Siehst du, ich gehöre nirgends hin, ich bin kein Armenier, kein Franzose, kein Grieche, kein Amerikaner, sondern wirklich und wahrhaftig nichts und daher frei. Mit mir wirst du es sehr leicht haben. Der Schnitt aber bleibt dir nicht erspart ...«

      Sie sah ihn gänzlich verständnislos an. Jetzt erreichte das Gewehrfeuer dort drüben den Höhepunkt seiner Erregung. Es war unmöglich, länger ruhig sitzen zu bleiben. Gonzague half Julietten auf. Sie schwankte wie betäubt. Er schien unruhig zu werden:

      »Wir müssen bedenken, was zu tun ist, Juliette. Das dort klingt nicht besonders vertrauenerweckend. Was hast du vor?«

      Sie machte eine unvollständige Handbewegung, wie um sich die Ohren zuzuhalten:

      »Ich bin müde ... und möchte mich hinlegen ...«

      »Das ist ausgeschlossen, Juliette! Hör nur! Es kann jeden Augenblick ein Unglück geschehen. Ich bin dafür, daß wir diesen Platz hier verlassen und die Sache weiter unten abwarten ...«

      Sie schüttelte eigensinnig den Kopf:

      »Nein, ich will lieber in mein Zelt zurückgehen!«

      Er nahm sie um die Hüfte und versuchte sie leise mit sich zu ziehen.

      »Sei nicht böse, Juliette! Aber es ist unbedingt notwendig, jetzt alles klar zu überlegen. In der nächsten halben Stunde kann das türkische Militär in der Stadtmulde sein. Und Gabriel Bagradian? Weißt du, ob er noch lebt?«

      Das Krachen und Heulen ringsum schien Gonzagues Befürchtungen zu bekräftigen. Juliette aber erwachte jäh aus der Verworrenheit zu ihrer alten Energie und Willenskraft:

      »Ich will Stephan sehn, ich will Stephan bei mir haben«, rief sie mit fast zorniger Überschwenglichkeit. Der Name ihres Kindes zerriß die Nebelschleier der grauenhaften Irrealität, die sie von allen Seiten umlagerte. Die Mutterschaft wurde plötzlich zu einem festen Haus mit undurchdringlichen Mauern, das sich gegen die ganze Welt absperren ließ. Sie packte Gonzague an beiden Armen und stieß ihn ungeduldig von sich:

      »Holen Sie sofort Stephan hierher, hören Sie, ich bitte Sie, verlieren Sie keine Zeit, finden Sie ihn! Ich warte, ich warte ...«

      Einen Augenblick lang bedachte sich Maris. Dann unterdrückte er ritterlich jeden Widerspruch und neigte den Kopf:

      »Gut, Juliette, wenn du es wünschest! Ich werde alles tun, um den Jungen so schnell wie möglich aufzutreiben, und dich nicht lange warten lassen.«

      Gonzague Maris kam tatsächlich schon nach einer halben Stunde mit dem völlig verwilderten und verschwitzten Stephan zurück, der ihm nur widerwillig folgte. Juliette stürzte sich auf den Knaben, preßte ihn an sich, während ein trockner Weinkrampf sie erschütterte. Der Knabe war so müde, daß er, als sie sich alle niederließen, sofort einschlief.

      Gabriel Bagradian hatte ohne Zweifel bewiesen, daß er, der Schöngeist, echte militärische Führerbegabung besaß, vom tödlichen Zwang an die Oberfläche geholt. Dem Fehler, den er jetzt beging, waren angesehene Generale oft erlegen, indem sie sich durch die Vorliebe für gewisse wohlstudierte Kampfabschnitte in ihren Entschlüssen leiten ließen. Und so ließ sich denn Gabriel auch durch die Vorliebe für das Hauptwerk seines großen Verteidigungsplanes, den Nordabschnitt, dazu verleiten, den zahlreichen Botschaften Tschausch Nurhans, die zuletzt in Hilferufe ausarteten, endlich doch nachzugeben. Da die Türken ihre Angriffe weder aus der Steineichenschlucht noch auch bei den anderen Einfallspunkten des Bergrandes wiederholten, da ringsum das Gewehrfeuer schwieg, um sich mit ungeahnter Wucht im Norden zu sammeln, so erschien es mehr als wahrscheinlich, daß der Feind mit seiner ganzen Übermacht einen Durchbruchsversuch in der Sattelstellung wagen werde. Aus diesem Grunde zog Bagradian die über die lange Randfront verteilten Zehnerschaften der fliegenden Garde zusammen und führte sie nach Norden, wo sie, des türkischen Sturmes gewärtig, den zweiten Graben und die Felsbarrikaden bezogen. Gabriel erwartete das Vorbrechen des Feindes in jedem Augenblick, da das Feuer von Minute zu Minute an Heftigkeit zunahm und der Abend immer näher rückte. (Da niemand andrer als er die Haubitzen richten und bedienen konnte, mußten sie außer Gefecht bleiben.)

      Sarkis Kilikian hatte sich während des Tages als Abschnittskommandant über der Steineichenschlucht hervorragend gehalten und fünf Angriffe abgeschlagen. Eine Zeitlang hatte es den Anschein, als ob die türkischen Schwarmlinien, aller Verluste ungeachtet, den Durchbruch nirgendwo anders als hier oben erzwingen wollten, da es sich ja um die Schlüsselstellung handelte, die mitten ins Volkslager führte. Weil Gabriel Bagradian der Ausdauer des Russen in den ersten Kampfstunden nicht völlig traute, hatte er sich zumeist in der Nähe des Steineichenschlucht-Abschnittes aufgehalten und mehrmals, den Türken in die Flanke fallend, mit seinen Zehnerschaften eingegriffen. Die Aufgabe Sarkis Kilikians war alles eher als leicht. Der Hauptgraben dehnte sich nur über ein ziemlich kurzes Bodenstück. Die Gräben der Seitensicherung lagen nicht sehr günstig und waren überdies je einige hundert Schritt weit von den Nachbarabschnitten entfernt, ohne daß diese Lücken, wie zwischen den meisten anderen Einfallspunkten, durch Steilhänge, Felswände oder dicken Knüppelwuchs ungängig blieben. Der Russe gebot über eine verhältnismäßig kleine Besatzung von acht Zehnerschaften, die außerdem, der Bodenbeschaffenheit entsprechend, ziemlich auseinandergezogen stand. Dennoch war er ohne bedeutende Verluste über den Tag hinweggekommen, obwohl immerhin zwei Tote und sechs Verwundete zu beklagen waren. Etwas von Kilikians Wesen, seiner totenhaften Ruhe und Gleichgültigkeit, war auf die Besatzung übergegangen. Sooft die Türken zum Angriff ansetzten, schossen die Leute mit solcher, man kann es nicht anders nennen, gelangweilten Sicherheit, als seien sie im Tode und im Leben gleicherweise zu Hause und es bekümmere sie nicht sehr, welchen von diesen zwei Aufenthaltsorten sie künftig bewohnen würden. Während Kilikian sein Gewehr im Anschlag hielt, ließ er keine der guten Zigaretten verlöschen, von denen ihm Bagradian eine Schachtel zum Geschenk gemacht hatte. Jetzt, nach so vielen blutigen Stunden, lehnte er seine dürre Gestalt gegen die Grabenwand und starrte auf das mit Baumstrünken und Stämmen, mit Sträuchern und Latschen übersäte Vorfeld, das sich in scharfer Neigung bis zum Ausstieg der eigentlichen Steineichenschlucht senkte, die der Feind dicht besetzt hielt. Gabriel Bagradian hatte hier selbstverständlich in den ersten Tagen schon den Bergrand abholzen lassen. Kilikians jugendlicher Totenkopf saß regungslos zwischen den Schultern. In seinen Augen mit dem stumpfen Achatglanz kam die große Kunst zum Ausdruck, das Leben bis auf ein Minimum an Tätigkeit abstellen zu können. In der erbeuteten Uniform sah der Russe mit seinen abfallenden Schultern und seiner mädchenschmalen Taille, die er durch einen festangezogenen Gürtel eigens betonte, wie ein äußerst eleganter Offizier aus. Er sprach mit den Nachbarmännern

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