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betreffend, wurde mit Beifall aufgenommen und in allen Einzelheiten durchgesprochen. Der Führerrat erteilte ihm den Auftrag, die Erschließung dieser Hilfsquellen zu organisieren. Als nächster Redner berichtete Bedros Hekim über die Gesundheitslage. Von den einundvierzig Verwundeten der letzten Schlacht befänden sich Gott sei Dank bis auf vier Hochfiebernde alle außer Lebensgefahr. Achtundzwanzig von ihnen habe er in Familienpflege bereits entlassen können. Diese würden insgesamt und in kurzer Zeit in ihre Kampfeinteilung zurückkehren können. Mit weit größerer Besorgnis jedoch als der Zustand der Verwundeten erfüllte den Arzt die neue merkwürdige Krankheit, die der junge Deserteur aus Aleppo eingeschleppt hatte. Dieser selbst ringe seit gestern nacht mit dem Tode und dürfte zu dieser Stunde schon verschieden sein. Doch nicht genug damit, auch an andern Insassen des Lazaretts hätten sich inzwischen bedenkliche Zeichen der Ansteckung gezeigt, Erstickungsanfälle, hohes Fieber, Erbrechen. Es handle sich demnach um eine epidemische Krankheit, von der, wie sich Altouni erinnerte, die Aleppiner Zeitungen in den letzten Monaten mehrmals geschrieben hätten. Eine um sich greifende Epidemie aber bedeute für das enge Lager eine ebenso große Gefahr wie die Türken. Deshalb habe er schon heute in aller Frühe für die strengste Trennung der Ansteckungsverdächtigen von den übrigen Kranken gesorgt. Zwischen den beiden Kuppeln liege, wie jeder weiß, fernab von der Stadtmulde ein kleiner schattiger Buchenwald mit einem Wasserlauf. Diesen Wald, der vom Verkehr der Zehnerschaften und Lagerleute fast niemals berührt werde, habe er zum Infektionsspital bestimmt. Der Führerrat möge nun seinerseits aus den unbrauchbarsten Leuten des Lagers eine Wärtergruppe bilden, die mit dem übrigen Volke ebenfalls nicht in Berührung kommen dürfe. Bedros Hekim nannte Kework, den Tänzer mit der Sonnenblume, als ein Prachtbeispiel für diese Wärterschaft. Dann wandte er sich an Gabriel Bagradian:

      »Mein Freund! Ich bitte dich dringend, Juliette Hanum zu ersuchen, sie möge nicht mehr zur Krankenpflege kommen. Ich verliere in ihr eine sehr gütige Helferin. Aber ihre Gesundheit ist mir offen gesagt wertvoller als ihre Hilfe. Auch ohne die Ansteckungsgefahr bin ich um deine Frau besorgt, mein Sohn. Wir andern hier sind harte Leute und kaum eine Meile von unserer Heimat entfernt. Deine Frau aber hat sich, seitdem wir auf dem Damlajik leben, sehr verändert. Ganz sonderbare Antworten gibt sie manchmal. Nicht nur körperlich scheint sie zu leiden. Sie ist diesem Leben nicht gewachsen. Wie wäre das anders auch möglich!? Kümmere dich mehr um sie, das rat ich dir! Am besten, sie bleibt den ganzen Tag im Bett liegen und liest Romane, die sie weit weg von uns führen. Unser Krikor ist ja glücklicherweise der Mann, einer ganzen Stadt von Madames mit französischen Büchern über das Elend hinwegzuhelfen.«

      Bei Altounis Mahnung schrak Gabriel schuldbewußt zusammen. Es fiel ihm schwer auf die Seele, daß er seit zwei Tagen kaum ein Wort mit Juliette gesprochen hatte.

      Lehrer Hapeth Schatakhian, der nun das Wort erhielt, führte lebhafte Klage über die Verwilderung der Jugend. Der Schulbetrieb könne nicht mehr aufrechterhalten werden. Seitdem Stephan Bagradian und Haik die Haubitzen erobert hätten, fühlten sich die Buben als vollgültige Krieger und begegneten den Erwachsenen mit Frechheit und Unabhängigkeitsdrang. Die Muchtars bestätigten die Klage des Lehrers. »Wo sind die Zeiten«, jammerte der von Bitias, »da sich die Jugend mit alten Männern nicht durch Worte, sondern nur durch unterwürfige Zeichen verständigen durfte?«

      Ter Haigasun aber, der jetzt dem Jugendproblem nicht die nötige Wichtigkeit beizumessen schien, stellte an Gabriel Bagradian unvermittelt die Frage:

      »Wie ist der wahre Stand unserer Verteidigung, Gabriel Bagradian? Wie lange werden wir uns im äußersten Falle gegen die Türken halten können?«

      »Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten, Ter Haigasun«, erklärte Gabriel, »die Verteidigung hängt immer vom Angriff ab.«

      Ter Haigasun schlug seinen scheuen und doch entschlossenen Priesterblick voll zu dem Gefragten auf:

      »Sagen Sie uns Ihre Meinung aufrichtig, so wie sie wirklich ist, Gabriel Bagradian!«

      »Ich habe keinen Grund, den Führerrat, was meine Meinung betrifft, schonend zu behandeln, Ter Haigasun. Ich bin fest davon überzeugt, da es mit uns verzweifelt steht ...«

      Nach kurzem Nachdenken begründete er diese Überzeugung in einigen Sätzen. Man habe bisher zwei schwere Angriffe blutig abgeschlagen. Gerade aber in der vernichtenden Kraft dieser Erfolge liege das Verhängnis. Ohne Zweifel sei die türkische Regierung bis zur Raserei erbittert. Wenn sich die Kunde dieses Mißerfolges im Reich verbreite, dann habe die militärische Autorität die schwerste Einbuße erlitten. Das ottomanische Militär dürfe diese furchtbare Belehrung nicht auf dieselbe leichtfertige Weise beantworten wie bisher. Wer weiß, ob nicht der Armeekommandant Dschemal Pascha selbst den Krieg gegen den Damlajik bereits in die Hand genommen habe? Er, Bagradian, sei fast geneigt, dies zu befürchten. Jedenfalls werde der dritte Angriff sich mit den vorhergehenden nicht im entferntesten vergleichen lassen. Wahrscheinlich hätten die Türken schon außer mächtigen Infanteriegruppen auch Gebirgsartillerie und Maschinengewehrkompanien zusammengezogen, um den Damlajik unter Trommelfeuer zu nehmen. Demgegenüber könne die Verteidigung einige kleine Vorteile ins Treffen führen. Die Befestigungen seien nach den Erfahrungen vom vierzehnten August in den letzten Tagen wiederum verstärkt und verbessert worden. Der Besitz der Haubitzen biete keineswegs bloß einen moralischen Vorteil. Mehr als alles andere aber bedeute die Kampfgewöhnung der Zehnerschaften auf dem Damlajik ein wirkliches Übergewicht über den Feind: »Aus diesem Grunde ist es vielleicht nicht ganz und gar unmöglich, daß wir mit Gottes Hilfe noch einen Angriff abschlagen ...«

      Gabriel Bagradian stellte nunmehr einen überaus wichtigen Antrag. So unsinnig auch jeder Traum der Rettung scheine, der Führerrat dürfe sich nicht ergeben in das unabwendbare Schicksal fügen und träge zuwarten. Nein, nichts, aber auch gar nichts dürfe unversucht bleiben. Das Meer freilich sehe so fürchterlich leer aus, als sei die Schiffahrt bis heute noch nicht erfunden. Und doch, Gott weiß es, vielleicht liege dennoch, gegen alle Wahrscheinlichkeit und Erhoffbarkeit, ein Torpedoboot der Alliierten vor der Reede von Alexandrette:

      »Es ist unsere Pflicht, diese Möglichkeit anzunehmen. Es ist unsere Pflicht, sie nicht ungenützt vorübergehen zu lassen. Und wie steht es mit dem amerikanischen Generalkonsul in Aleppo, Mr. Jackson? Weiß er von den Christenkämpfen und der Not auf dem Musa Dagh? Es ist unsere Pflicht, ihn aufzuklären und von der amerikanischen Regierung Schutz zu fordern.«

      Gabriel setzte seinen neuen Plan auseinander. Zwei Gruppen von Boten sollten entsandt werden, die eine nach Alexandrette, die andere nach Aleppo; nach Alexandrette die besten Schwimmer, nach Aleppo die besten Läufer. Die Aufgabe der Schwimmer sei insofern leichter, als die Bucht von Alexandrette nur fünfunddreißig englische Meilen nordwärts liege und der Weg über ausgestorbene Bergeshöhen genommen werden könne. Der eigentliche Zweck des Unternehmens allerdings – das Kriegsschiff in der Bucht schwimmend zu erreichen – erfordere die höchste Entschlossenheit und Körperkraft. Diese Willensleistung bleibe den Aleppoläufern wohl erspart, dafür aber hätten sie eine Wegstrecke von fünfundachtzig Meilen vor sich, die nur bei Nacht, ohne Benützung der großen Straße, jenseits aller menschlichen Wohnstätten, und dennoch unter ständiger Todesgefahr, zurückgelegt werden könne. Gelänge es aber diesen Kurieren, das Haus von Mr. Jackson zu erreichen, so wären sie so gut wie gerettet.

      Dieser Plan Gabriel Bagradians, der ja der frevelhaftesten Hoffnung eine Chance gab und damit dem Todesbewußtsein entgegenwirkte, wurde in leidenschaftlicher Zwischenrede durchgesprochen. Man setzte die Zahl der Schwimmer mit zwei fest. Als Bote für Aleppo mochte sogar ein einziger junger Mensch genügen. Es hatte keinen Sinn, Menschenleben überflüssig in Gefahr zu bringen. Zwei Leute halten sich unauffälliger verborgen als drei, und einer schlüpft leichter an Zöllnern und Saptiehs vorüber als zwei. Auf den Vorschlag Ter Haigasuns sollte die Auswahl der Schwimmer und Läufer auf Grund freiwilliger Meldung erfolgen. Die Läufer (ob einer, ob zwei, stand jetzt noch nicht fest) hatten einen Brief an den amerikanischen Generalkonsul mitzunehmen, die Schwimmer desgleichen einen Brief an den mutmaßlichen Schiffskommandanten. Damit aber im Falle einer Verhaftung die Briefe den Türken nicht in die Hand fielen, sollten sie in das aufgeschnittene Leder der Leibgürtel eingenäht werden. – Ter Haigasun bestimmte Tag, Stunde und Form der freiwilligen Meldung. Er diktierte dem kleinen Gemeindeschreiber einen Aufruf an die Bevölkerung der Stadtmulde, diese Meldung betreffend.

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