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Brust war mit kleinen roten Punkten besät, die sich über Nacht noch vermehrten. Bedros Altouni hatte seit langer Zeit wieder das entfremdete Handbuch vorgenommen. Aber die Hieroglyphen waren für ihn nicht leserlicher geworden. Jetzt wollte er die Französin zu Rate ziehen und zeigte auf den Kranken.

      »Sehen Sie diesen da an, meine Liebe! Was halten Sie davon?«

      Juliette war kein Wesen, das sich an Graus und Elend gewöhnen konnte. Jedesmal, wenn sie den Lazarettraum betrat, hatte sie mit dem Erbrechen zu kämpfen. Sie gab sich Mühe, sie griff überall zu, dennoch wurde der Abscheu und Ekel immer heftiger anstatt gelinder. In dieser Sekunde aber kam eine ganz unverständliche Exaltation über sie. Es war ihr, als müsse sie hier auf der Stelle ihren Verrat sühnen. Der grindige, übelriechende Mensch, der zu ihren Füßen mit schaumbedecktem Mund bewußtlos im Fieber zuckte, war Gabriel und Stephan in einer Person. Juliette kniete hin und näherte – als falle sie selbst langsam in Ohnmacht – ihren Kopf mit den geschlossenen Augen der eingefallenen Brust des Kranken.

      Erst Gonzagues Stimme fuhr ihr ins Herz und weckte sie:

      »Was tun Sie da, Juliette? Das ist doch Unsinn ...«

      Daraufhin schien auch der alte Arzt Madame Bagradians wegen Gewissensbisse zu bekommen:

      »Es wäre vielleicht wirklich besser für Sie, wenn Sie sich jetzt weniger fleißig bei uns aufhielten ...«

      Gonzague zwinkerte ihr heimlich zu. Gehorsam folgte sie ihm. Auch in bezug auf Gonzague war für Juliette die Zeit ganz und gar durcheinandergerüttelt. Wann war es geschehen? In welcher Vergangenheit? Seit wann folgte sie ihm wehrlos, wenn er sie rief? Wie schwer und dick war der Verrat und das Schweigen schon geworden! Gonzague aber hatte sich nicht verändert. Dieselbe dichte Aufmerksamkeit seiner Blicke und Gedanken, die keine unbewachte Fuge frei ließ. Das Lagerleben hatte seiner Erscheinung noch immer nichts angehabt, sein Scheitel blieb zu jeder Stunde tadellos gezogen, sein Rock peinlich sauber gebürstet, sein Körper rein, seine Haut hell, sein Atem appetitlich. Liebte sie ihn? Es war etwas viel Schrecklicheres! Unglückliche Liebe ahnt immer einen Weg, wenn auch nur im Traum. Dies hier war weglos. Gonzague schien oft noch weniger vorhanden zu sein als Gabriel. Anfangs etwas Angenehmes, etwas Heimisch-Trautes, etwas in der Welt Verirrtes, das Mitgefühl erweckte, hatte er sich in eine grausame Unentrinnbarkeit verwandelt, gegen die es keine Hilfe gab. Wenn er sie berührte, empfand sie, was sie nie empfunden hatte. Doch mit dieser Empfindung wuchs auch der Selbsthaß der Verräterin. Schon waren manche baumumhegte und umbuschte Einöden auf der Meeresseite zu mitwissenden Orten geworden. Mit dem letzten Aufgebot ihres Stolzes spürte Juliette: Ich, hier auf der Erde, ich ...? Gonzague aber verstand es immer wieder, alles Häßliche auszuschalten. Vielleicht war er ein Genie der Einseitigkeit, wie es Spieler, Sammler, Jäger sind, die ebenfalls nur eine einzige Neigung und Begabung übermäßig ausgebildet haben. Mit diesen Leuten teilte er auch die zielstrebige und unerschöpfliche Geduld. Sie hatte Gonzague auf den Damlajik geführt und ihn mit sicherer Bescheidenheit seinen Tag erwarten lassen. Sein gesammeltes Wesen erweckte in Juliette ein Gegenwesen der Zerfahrenheit und Willenslähmung. Oft kam über sie eine wuchernde Geistesabwesenheit. Mit widerwärtig pelzigen Blättern rankte in ihr ein inneres Geschehen, das allgemach dem Licht jeden Zutritt verwehren wollte. Sie saßen auf einem der Ruheplätze, die sie untereinander »die Riviera« nannten. Gonzague teilte seine Zigarette in zwei Hälften und zündete die eine umständlich an:

      »Ich habe nur noch fünfzig Stück ...« Und als ob er dem sorgenvollen Gedanken wegen des ausgehenden Tabaks, damit eine beruhigende Wendung geben wollte: »Nun, wir werden bald nicht mehr hier sitzen ...«

      Sie sah ihn entgeistert an. Seine Stimme blieb lässig:

      »Ich meine, wir werden beide davongehen, du und ich! Es wird Zeit.«

      Sie schien ihn noch immer nicht zu verstehen. Da setzte er ihr seinen Plan mit der trockensten Genauigkeit auseinander. Nur die ersten zwei Stunden seien ein bißchen beschwerlich. Eine kleine Bergpartie, weiter nichts. Man müsse ein Stück auf dem Felsgrat nach Süden klettern, um rechts von dem kleinen Dorf Habaste die Orontesebene und die Straße nach Suedja zu erreichen. Er habe die gestrige Nacht dazu benützt, diesen Weg zu rekognoszieren, und sei ungeschoren, ohne einem Menschen zu begegnen, in das Geviert der Spiritusfabrik und in die Wohnung des Direktors gelangt, der, wie Juliette ja wisse, ein Grieche und eine einflußreiche Persönlichkeit sei. Er staunte, wie einfach und natürlich sich der ganze Plan erweise:

      »Der Direktor stellt sich uns vollkommen zur Verfügung. Am sechsundzwanzigsten August geht der kleine Küstendampfer der Fabrik mit einer Warenladung nach Beirût ab. Nach zwei kleinen Zwischenlandungen in Latakijeh und Tripoli soll er fahrplanmäßig am neunundzwanzigsten in Beirût eintreffen. Der Dampfer fährt unter amerikanischer Flagge. Es handelt sich ja auch um eine amerikanische Fabrikgesellschaft. Der Direktor behauptet, daß nicht die geringste Gefahr vorhanden sei, da die Zypernflotte in diesen Tagen wieder ausläuft. Du wirst eine eigene Kabine haben, Juliette. Wenn wir in Beirût sind, hast du das Spiel gewonnen. Alles Weitere ist eine Geldfrage. Und Geld besitzt du ja ...«

      Ihre Augen wurden ganz schwarz:

      »Und Gabriel und Stephan ...?«

      Gonzague blies angelegentlich eine Aschenflocke von seinem Anzug:

      »Gabriel und Stephan? Sie sind weithin erkennbar Armenier. Ich habe den Direktor auch ihretwegen gefragt. Er lehnt es ab, für einen Armenier irgend etwas zu tun. Da er mit der türkischen Regierung sehr gut steht, darf er sich in dieser Sache nicht exponieren. Er hat mir das genau erklärt. Gabriel Bagradian und Stephan kann leider nicht geholfen werden ...«

      Juliette rückte von seiner Seite ab:

      »Und ich soll mir helfen lassen ... Von dir ...«

      Gonzague schüttelte leicht den Kopf, als könne er die übertriebenen Skrupel der Frau nicht nachfühlen:

      »Er selbst wollte dich doch fortschicken, bitte, erinnere dich nur, Juliette. Und zwar mit mir!«

      Sie krampfte die Fäuste an ihre Schläfen:

      »Ja, er wollte mich und Stephan fortschicken ... Und ich habe ihm das angetan ... Und ich belüge ihn ...«

      »Du sollst ihn ja gar nicht belügen, Juliette. Ich bin der letzte, der das von dir verlangt. Im Gegenteil! Du sollst ihm die ganze Wahrheit sagen. Am besten noch heute.«

      Juliette sprang auf. Ihre Züge waren rot und gedunsen:

      »Was? Ich soll ihn ermorden? Das Schicksal von fünftausend Menschen liegt auf ihm. Und in dieser Zeit soll ich ihn ermorden?«

      »Diese großen Worte verdrehen alles«, sagte Gonzague sehr ernst und blieb sitzen: »Man bringt zumeist fremde Leute um. Das erleben wir täglich. Manchmal aber müssen wir uns auch zwischen unserem eigenen Leben und dem unserer sogenannten Nächsten entscheiden ... Ist Gabriel Bagradian überhaupt noch dein Nächster? Und wirst du ihn wirklich damit ermorden, daß du dich rettest, Juliette?«

      Seine ruhigen Worte und seine so selbstgewissen Augen zogen sie wieder an seine Seite. Gonzague ergriff Juliettens Hand und entwickelte mit klarer Lehrhaftigkeit seine Philosophie. Jeder besitzt ein einmaliges und einziges Leben. Verpflichtungen hat er nur gegen dieses Leben zu erfüllen, sonst gegen niemanden und nichts. Woraus aber besteht das Leben, seiner wahren Natur nach? Aus einer langen Kette von Wünschen und Begierden. Mögen diese oft auch nur eingebildet sein, wichtig allein ist, daß sie stark sind. Man muß dem Leben seine Wünsche und Begierden rücksichtslos erfüllen, dies ist sein einziger Sinn. Deshalb nimmt man Gefahren auf sich und setzt sich sogar dem Tode aus, da es ja außerhalb des Strebens nach Befriedigung unserer Wünsche gar kein Leben gibt. Gonzague führte sich selbst als Beispiel für diese einzig logische und aufrichtige Verhaltensweise an. Er habe nicht einen Augenblick gezögert, um seiner Liebe willen Gefahren und eine sehr unbehagliche Existenz auf sich zu nehmen. Dann zog er den verächtlichen Schluß:

      »Alles aber, was du für Schonung, Liebe und Aufopferung hältst, Juliette, ist nichts als bequeme Angst.«

      Ihr Kopf fiel schwer gegen seine Schulter. Rauschend wuchs wieder einmal die quälende Geistesabwesenheit in ihr auf:

      »Du

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