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an ihm mit geschlossenen Augen vorübergezogen. Wie aber stand es in Wirklichkeit um ihn? Was war der gnädige Dank des Schicksals dafür, daß er dem alten Wohltäter sein Versprechen gehalten hatte? Es ist überflüssig, darauf eine Antwort zu geben. Wer das Kreuz des Ideals auf sich nimmt, hat nichts andres zu erwarten. Vielleicht entschädigte den Alten das Bewußtsein der lebelang »hochgehaltenen Leuchte«. Doch gerade für diese nicht minder dekorative als ermüdende Tätigkeit hatte er sein allerbitterstes Lachen vorrätig. He, ich bitte euch, seht euch nur dieses Volk an! Wie wenig hat es gelernt in den vierzig Jahren, die ich in Yoghonoluk praktizierte? Den Argwohn gegen den »fränkischen Hekim« verliert es nie, mögen die Leute auch einem ins Gesicht so aufgeklärt tun, wie sie wollen. Gewiß, meine Mühe hat schon Früchte getragen. Die Sterblichkeit ist bei uns vielleicht geringer als in der Nachbarschaft, und gar in der muselmanischen. Und doch, nichts hat genügt, um Nunik samt allen anderen Gräberwachteln und Hausmagierinnen auszurotten. Wirft man sie bei Tag hinaus, so schleichen sie nachts, von den Angehörigen geholt, an die Krankenbetten zurück. Wie soll man da in diesem schmutzigen Meer des Aberglaubens die Fackel der Wissenschaft hochhalten oder, was noch weit schwerer ist, hygienische Reinlichkeit durchsetzen?

      Ähnliche Reden bekam man von dem diplomierten Bedros Altouni gar oft zu hören. Was aber noch weit bitterer an ihm nagte, das behielt er bei sich. In all den langen Jahren, da er auf seinem frommen Reitesel nicht nur in den Dörfern Visiten abstattete, sondern auch von den Moslems des ganzen Bezirkes häufig zu Rate gezogen wurde, hatte er die sonderbarsten Erfahrungen machen müssen. Sträubte sich auch sein ganzes wissensgläubiges Selbst dagegen, er mußte die zahlreichen Erfolge anerkennen, welche die schmutzigsten Gesundheitszauberer mit ihren ekelhaften Kuren, die aller Aseptik und Antiseptik ins Gesicht schlugen, immer wieder errangen. In achtzig von hundert Fällen lautete ihr Befund auf: »Böser Blick!« Die Gegenmittel bestanden aus Speichel, Schaf-Urin, verbranntem Pferdehaar, Vogelmist und noch appetitlicheren Arzneien. Und doch, mehr als einmal war es schon vorgekommen, daß ein von ihm aufgegebener Kranker, nachdem er einen Zettel mit Bibel- oder Koranversen verschlungen hatte, unheimlich schnell wieder genas. Altouni war nicht der Mann, an die Wunderkraft des verschluckten Zettels zu glauben und dadurch in Zweifelschwierigkeiten zu geraten. Aber was half es? Heilung war Heilung. Auch in den armenischen Dörfern verbreitete sich von Zeit zu Zeit die Kunde derartig glückhafter Therapie und dann geschah es, daß Altounis Fälle in hellen Scharen zu den arabischen Hekims der Umgebung ausrissen oder gar Nunik und ihre sauberen Schicksalsschwestern konsultierten. Nicht selten fanden sich unter den Abtrünnigen geeichte Aufklärer, selbsteigene Hochhalter der Leuchte, dieser oder jener Lehrer zum Beispiel, was den Gemütszustand des Arztes nicht gerade aufhellte.

      Lag hierin der eine Grund von Bedros Altounis Bitterkeit, so war der andre womöglich noch verschwiegener. Wissenschaft, Aufklärung, Fortschritt wohlan! Aber um Aufklärung und Fortschritt zu verbreiten, muß man selbst erst aufgeklärt werden und fortschreiten dürfen. Wer aber konnte im Schatten des Musa Dagh fortschreiten, ohne Kenntnis neuer Errungenschaften, ohne medizinische Bücher und Zeitschriften? Krikors rückwärtsgewandte Bibliothek wußte auf die verrücktesten Fragen Bescheid, in der Heilkunde versagte sie, obgleich oder gerade weil ihr Inhaber Apotheker war. Bedros Altouni besaß nicht mehr als ein »Handbuch der Medizin« in deutscher Ausgabe aus dem Verlagsjahr 1875. Dies war übrigens ein dickes Buch, in dem alles Nötige verzeichnet stand. Und doch hatte es damit ein kümmerliches Bewenden. Denn die unerbittliche Zeit war nicht nur über dem Vademecum dahingegangen, sondern auch nicht minder über Altounis Beherrschung der deutschen Sprache. Bedros Hekim jedoch glich nicht dem Apotheker. Blätterte dieser Auserwählte in den Bänden seiner Bücherei, deren Sprache er nicht mächtig war, so schlug die Flamme des Geistes dennoch auf ihn über und er vermochte wie die Sibylle aus verschlossenen Büchern zu weissagen, so daß selbst der mißtrauische, scheelsüchtige Oskanian Prophetie und Wissenschaft nicht unterschied. Bedros Altouni hingegen war ein dürftiger Rationalist, in dem die schöpferische Quelle nicht selbsttätig sprudelte. Deshalb schlug er sein stummgewordenes Handbuch gar nicht auf und benützte es nicht einmal mehr als Amulett und Fetisch. Alles, was er vor Jahrzehnten einmal theoretisch gelernt hatte, war zu einem unbeträchtlichen Etwas zusammengeschmolzen. Es gab für ihn daher nur zehn bis zwanzig benennbare Krankheiten. Obgleich er an menschlichen Leidensbildern unendlich viel gesehen hatte, stopfte er doch alles in die spärlichen Wissensfächer, über die er verfügte. Er hielt sich in der Tiefe seines armen Selbstgefühls für ebenso unbelehrt wie die Hekims, Kurpfuscher und Klageweiber ringsum, deren greuliche Kuren mit Hilfe einer geduldigen Natur verdammt oft gelangen. Gerade sein Mangel an Selbstgefühl war es, der ihn, ohne daß er's wußte, zum guten Arzte machte, denn jede Meisterschaft der Welt hat sowohl die Demut vor dem Unerreichbaren als auch das Unbehagen vor dem Erreichten zur Voraussetzung. Andrerseits entstammte derselben Ursache jener wütende Haß, der ihn, den enttäuschten Westler, beim Anblick Nuniks, Wartuks, Manuschaks stets in Harnisch brachte. Heute aber half ihm sein Zorn wenig. Die verjagten Kurpfuscherinnen hielten stand und musterten den alten Feind vom Rande des Dreizeltplatzes her mit höhnischen Augen.

      Howsannah Tomasian, die Pastorin, war die erste Frau des Volkes, die auf dem Damlajik in die Wehen kam. Selbst unten im Tale war die Geburt eines Kindes eine Art öffentliches Ereignis, zu dem die nähere Verwandtschaft und weitere Sippe Zutritt hatte, die Männer nicht ausgenommen. Um wieviel feierlicher und damit auch öffentlicher aber war dieses Ereignis hier oben, da in der ungeheuerlichsten Notlage, in der sich jemals ein Volksstamm befunden hatte, der erste Armeniersohn zur Welt kommen sollte. Selbst das strahlende Geschenk des Kriegsglücks, die beiden goldenen Haubitzen, verlor an Anziehungskraft. Die Menge, die am Vormittag zu den herrlichen Trophäen gepilgert war, drängte sich jetzt auf dem Dreizeltplatz, dieser vornehmsten Stätte des Elendlagers. Die Vorhänge wurden von dem Zelt der Gebärenden zurückgeschlagen und die arme Howsannah unerbittlich der Sonne ausgesetzt. Ihre Leiden gehörten ihr, doch sie gehörte nicht mehr sich selbst. Die Neugierigen gingen ein und aus. Bedros Altouni erkannte bald, daß er hier nicht an seinem Platze war, und räumte knurrend seiner Frau das Feld, die ja auch sonst den meisten Gebärenden in seiner Vertretung beistand. Er entfernte sich, ohne das tiefe Selam der Klageweiber zu beachten, zu den Verwundeten des Lazarettschuppens. Mairik Antaram blieb bei Howsannah. Sie drängte die Vordringlichen mit kräftigen Fäusten und Worten zurück. Entschlossen waltete sie ihres Amtes, das ihr seit Jahrzehnten vertraut war. Und doch, so alt Mairik Antaram auch geworden, sie konnte keiner Kreißenden beistehen, ohne daß ihr die beiden mißglückten Geburten ihrer eigenen Jugend einfielen. Iskuhi kühlte mit ihrer trotz des Gluttages eisigen Hand die Stirn der Schwägerin. Ihre Augen lagen mit ängstlichem Eifer auf Mairik Antaram, damit ihr ja keine Weisung entgehe. Mit ihrer ganzen Energie konnte es die Doktorsfrau nicht verhindern, daß die Menschen immer wieder mit Fragen, Ermunterungen, Ratschlägen in das Zelt eindrangen. Auch Gabriel erschien, um sich zu erkundigen. Iskuhi fiel es trotz des betäubenden Treibens auf, wie verfallen und blaß sein bärtiges Gesicht seit gestern war. Sie wunderte sich auch darüber, daß Juliette kaum eine halbe Stunde bei Howsannah blieb, da man doch so lange schon wie eine Familie miteinander hauste. Aram, der Gatte, tauchte alle zehn Minuten einmal auf, lief aber sogleich wieder davon. Er behauptete, daß er unabkömmlicher sei als je, damit nach dem gestrigen Siege und dem Abzug der Türken keine schlaffe Beruhigung unter den Diensthabenden einreiße. In Wahrheit aber jagten ihn Erregung und Sorge um sein Weib im Kreise umher. Der gute Vater Tomasian folgte seinem Sohne von fern auf den verschlungenen Irrwegen, damit der Pastor für seine Überreiztheit einen Blitzableiter habe. In freudiger Erwartung eines Stammhalters hatte der Baumeister seinen schwarzen Sonntagsrock angetan. Die goldene Uhrkette lag noch immer waagerecht auf seinem Bauch, der unter der mageren Fleischkost nicht gelitten hatte. Jeder Freund brachte irgendein Geschenk oder Hausmittel, Apotheker Krikor zum Beispiel ein Fläschchen mit Wacholderessenz eigener Erzeugung, um Herz und Nerven zu stärken. Doch dies war eine sehr harmlose Gabe, denkt man an das Hahnen-Ei. Als die Sache kein Ende nehmen wollte und die ergebnislosen Wehen sich immer von neuem wiederholten, erschien plötzlich eine alte Frau, die ein überlebensgroßes Ei in der Hand hielt und behauptete, dieses Ei habe bei Neumond ein Hahn gelegt. Wenn eine Schwergebärende dieses Naturprodukt roh und mit der Schale zu sich nehme, sei das Kind im Handumdrehen heraußen. Mairik Antaram, die mit den Leuten weit besser umzugehen verstand als ihr Gatte, dankte dem alten Weibe für das Ei-Ungeheuer, versprach sofortige Befolgung ihres Ratschlages und schob sie hinaus. Die Frauen des Volkes mißbilligten es, daß Howsannah Tomasian während ihrer Leiden

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