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genau, daß er heute keinen souveränen Tag hatte. Die Einfälle und Entschlüsse sprangen nicht leicht wie sonst aus seinem Geist. Er hätte – dieser Vorwurf brannte – die Verluste vermeiden können. Zu spät gab er Tschausch Nurhan den Rückzugsbefehl. Doch war er klug genug, diesen auf der Felsseite durchführen zu lassen. Den Türken war es gelungen, in einem hohen Baum einen Beobachtersitz aufzuschlagen, von dem aus sie ein Stück des Grabens übersahen und die Feuerwirkung der Geschütze korrigieren konnten. Die Steinbarrikaden zur Rechten hingegen waren ihrem Blick entzogen. Im Bewußtsein des Unglücks vom vierten August fürchteten sie die erbarmungslosen Steilwände des Musa Dagh und wagten kein Umfassungsmanöver mehr. Die Verteidiger verließen einzelweise den Graben und drückten sich tiefgeduckt an den Blöcken und Vorsprüngen des Labyrinths vorbei, bis sie die Reservestellung erreichten, die ihrerseits auch wieder über einem Bodeneinschnitt lag. Der zweite Graben war heute nicht besetzt, da es Gabriel nicht gewagt hatte, auch nur eine einzige Zehnerschaft von den Verteidigungspunkten des Bergrandes abzuziehen. Er war fest überzeugt davon, daß die Türken auch noch an einer dritten Stelle einen Überfall versuchen würden. Eis in den Adern, wußte er, daß, wenn dieser Reservegraben hier verlorenging, dem phantasievollsten Martertod von fünftausend Menschen, den je die Welt erlebt, nichts mehr im Wege stand. Der türkische Beobachtungsoffizier schien von der Rückzugsbewegung nichts gemerkt zu haben. Die Granaten fielen jetzt im Zeitabstand von je einer Minute auf den ersten Graben. Da sich dort nichts mehr rührte, hielt ihn der Bimbaschi für sturmreif. Eine endlose Pause verging, dann brach im Waldesdickicht der Gegenhöhe ein wüstes Trommeln und Trompeten aus. Die Schwarmlinien wurden von brüllenden Offizieren und Chargen vorgetrieben. Dieses Brüllen vermischte sich mit dem nicht ganz furchtlosen Sturmgeschrei der Mannschaft. Es waren fast durchwegs frischeingerückte Jungsoldaten, die nach einigen Wochen flüchtiger Ausbildung von ihren anatolischen Holzpflügen weg das erstemal ins Feuer kamen. Als diese Rekruten aber merkten, daß ihr Sturmlauf widerstandslos vonstatten ging, blähte sich ihr Mut auf, und der wildeste Rausch, den die Masse kennt, kam über sie. Sie rasten die struppige, hindernisübersäte Lehne empor und besetzten mit knatterndem Jubel den großen Verteidigungsgraben. Der Oberst erkannte, daß die Sache gut im Zuge war und daß man den Siegesdrang der jungen Mannschaft ja nicht dürfe erkalten lassen. Er ließ daher die Stellung von den nachrückenden Saptiehs besetzen und hetzte die trunkenen Sturmlinien in dichten Reihen vorwärts. Das Haubitzfeuer vorverlegen zu lassen, wagte er freilich nicht, um sich und die Seinigen nicht zu gefährden.

      Nicht nur Gabriel Bagradian, auch jeder Armeniersohn in dem zweiten Graben wußte, was auf dem Spiele stand. Leben, Geist und Körper jeglichen Mannes war schwarze Nacht, in der nur ein unerträglich scharfer Brennpunkt glühte: der Visierblick aufs Ziel. Hier gab es keine Führer und keine Führung mehr, sondern lediglich das versteinernde Bewußtsein: Hinter mir das offene Lager, die Frauen, die Kinder, mein Volk! – und so war es. Sie warteten in gewohnter Weise, bis keine Kugel mehr fehlen konnte. Auch Gabriel und Aram Tomasian schossen das erstemal mit unbewegtem Blick auf ihre Opfer, wie im Traum versunken. Das nächste geschah über ihren und Nurhans Willen hinweg, das heißt, ihr Wille war in dem der Gesamtheit völlig gelöst. Nachdem sie die fünf Patronen der Magazine verschossen hatten, luden sie nicht mehr von neuem. Wie auf einen einzigen scharfen Befehl schwangen sich die Armeniersöhne aus dem Graben. Es war alles so ganz anders als damals am vierten August. Kein einziger Blutschrei drang zwischen den fest aufeinandergepreßten Lippen hervor. Stumm und schwer warfen sich vierhundert Männer jeden Alters bis zu fünfzig Jahren auf die entsetzte Türkenjugend, die sofort aus ihrem Rausch erwachte. Ein finster wogender Nahkampf, Mann gegen Mann. Was halfen da die langen Bajonette auf den Mausergewehren. Bald bedeckten sie den Grund der Bodenwelle. Die knochigen Armenierfäuste suchten unabwendbar die Gurgeln der Todfeinde, und ihre starken Zähne verbissen sich raubtierhaft und besinnungslos in die Türkenkehlen, um das Blut der Rache zu trinken. Schritt für Schritt wich die Linie der Kompanie zurück. Die Saptiehs aber, die der alte Bimbaschi – der nicht mehr seine rosigen, sondern die violetten Wangen eines Schlaggerührten hatte – in den Kampf werfen wollte, ließen ihn im Stich. Ihr Offizier erklärte, die Gendarmerie sei eine Ordnungs- und keine Kampftruppe und daher zu Sturmangriffen auf einen bewaffneten Feind nicht verpflichtet. Auch unterstehe sie den bürgerlichen Pflichten und nicht der militärischen Macht. Der seiner Natur nach so milde Bimbaschi drohte in besinnungsloser Wut, er werde den Offizier mit all seinen Saptiehs samt und sonders erschießen lassen. Wer trage denn die Schuld an dem ganzen Armenierdreck? Die Beamten und das feige, stinkende Saptiehpack, das gegen hilflose Frauen und Kinder mutig sei und sonst nur rauben, morden, stehlen und vergewaltigen könne. All seine Wut half dem Alten nichts. Die beleidigten Saptiehs verließen den Graben und zogen sich auf die Gegenhöhe zurück. Und doch, niemand kann wissen, wie das würgende Ringen geendet hätte, wäre in dieser Stunde nicht Hilfe gekommen.

      Als die Kunde von dem Steinlawinen-Wunder und von der völligen Vernichtung der türkischen Südgruppe die Stadtmulde und die Zehnerschaften der freien Abschnitte erreicht hatte, wurde das ganze Volk von kampfdurstiger Raserei erfaßt. Ter Haigasun und der Führerrat konnten die Ordnung nicht mehr aufrechterhalten. In lästerlichem Übermut fühlten sich die Seelen der göttlichen Unterstützung sicher. Die Ordonnanzen berichteten inzwischen von dem Rückzug im Norden. Die Reserve griff zu ihren Krampen, Hacken und Äxten. Männer und Weiber schrien auf Ter Haigasun ein: Zum Nordsattel! Sie wollten es heute den Türkenhunden zeigen! Dem Priester blieb nichts andres übrig, als sich an die Spitze des hellen Haufens zu stellen. Auch die freien Zehnerschaften strömten gegen Norden. Die regellose Übermacht, die von allen Seiten mit Wahnsinnsheulen einbrach, entschied die Schlacht binnen weniger Minuten. Die Türken wurden bis über den eroberten Graben hinaus in ihre Ausgangsstellung zurückgeschleudert. Bagradian rief Ter Haigasun zu, er möge die Reserve sogleich ins Lager zurückführen. Wenn die Haubitzen jetzt ihr Feuer eröffneten, würde in dem dichten Menschenknäuel unabsehbares Unglück geschehen. Mit großer Mühe gelang es dem Priester, die entfesselte Horde wieder zurückzutreiben. Schweiß- und blutbedeckt begannen die Verteidiger indessen, die zerstörten Stellen des Hauptgrabens in fieberhafter Eile auszubessern. Gabriels gemarterte Nerven erwarteten in jedem Augenblick die erste Granate. Bis zur Dämmerung war es noch länger als eine Stunde.

      Die Granate, deren Heulen Bagradian ununterbrochen hörte, kam und kam nicht. Hingegen ereignete sich etwas ganz Unerwartetes. Ein langes Trompetensignal sprang auf. Hinter dem Waldrand der Gegenhöhe entstand lebhafte Bewegung, und sehr bald meldeten die Späher, daß sich die türkische Streitmacht im Eilschritt zurückziehe, und zwar auf dem kürzesten Wege ins Tal. Man konnte noch bei vollem Tageslicht beobachten, wie sich die Truppen auf dem Kirchplatz von Bitias lagerten und wie der Oberst mit seinem Stab in scharfem Trab über Yoghonoluk und die südlichen Dörfer gegen Suedja ritt. Es war ein Tag, siegreicher und vor allem gnadenreicher als der vierte August. Und doch herrschte am Abend kein Jubel, ja nicht einmal eine glühende Freude, weder in den Stellungen noch auch in der Stadtmulde.

      Man hatte die Toten heimgebracht. Nun lagen sie, unter ihren Decken verborgen, in einer Reihe auf dem ebenen Weideplatz, den Ter Haigasun wegen seiner besonders dicken Erdschicht zum Kirchhof bestimmt hatte. Seit dem Tage des Aufbruchs waren bisher nur drei alte Leute gestorben, deren frische Gräber rohe Kalkblöcke mit schwarz daraufgemalten Kreuzen kenntlich machten. Jetzt wurden auf einmal sechzehn neue Grabstellen notwendig, denn zu den Opfern des Haubitzenfeuers kamen acht Männer, die im Nahkampf gefallen, und fünf andere, die im Laufe der Stunden ihren Wunden erlegen waren. Zur Seite jedes Toten hockte seine Verwandtschaft. Doch kein lautes Wehgeschrei, sondern nur wimmerndes Klagen ertönte.

      Rings um den Lazarettschuppen lagen die Verwundeten mit ihren eingeschrumpften Gesichtern und versunkenen Frageaugen. Der Innenraum konnte nur einen kleinen Teil von ihnen fassen. Der alte Arzt hatte eine unabsehbare Arbeit zu leisten, der er sich weder mit seinen Kenntnissen noch mit seinen Kräften gewachsen fühlte. Ihn unterstützten außer Mairik Antaram noch Iskuhi, Gonzague und Juliette. Besonders Juliette arbeitete an diesem Tage mit einer geradezu wilden Hingabe, als wollte sie in dem Dienst an den Verwundeten ihren Mangel an Liebe für dieses Volk gutmachen. Sie hatte die wohlbestellte Hausapotheke herausgeschleppt, die vor der Abreise in den Orient von dem Pariser Hausarzt der Bagradians eigens zusammengestellt worden war. Ihre Lippen waren farblos. Manchmal schwankte sie, als würde sie gleich in Ohnmacht fallen. Dann suchte ihr Blick Gonzague. Sie sah ihn an, nicht wie einen Geliebten, sondern wie einen erbarmungslosen Mahner, der sie zwang,

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