Скачать книгу

herunterzuziehen. Plötzlich spürte er, dass er seit Betreten des Raums nicht ein einziges Mal geatmet hatte. Er schnappte mit einem Keuchen nach Luft, das lauter klang, als er es beabsichtigt hatte.

      »Ist sie es?«, erkundigte sich Flemming.

      »Ja.« Dan ging neben der toten Frau in die Hocke und berührte vorsichtig ihre Wange, bevor Flemming ihn aufhalten konnte. Sie fühlte sich kühl an, aber nicht eiskalt, und sie wirkte noch immer weich. Er hatte geglaubt, eine Leiche sei kalt und steif. Aber das war sie möglicherweise erst nach einigen Stunden. Er blickte zu Flemming auf. »Das ist sie. Lilliana.«

      »Und wie heißt sie weiter?«

      »Keine Ahnung.« Dan schüttelte den Kopf und erhob sich. »Ich verstehe bloß nicht … Wo ist Benjamin?«

      Flemming sah ihn fragend an.

      »Der, von dem ich dir erzählt habe. Benjamin ist Lillianas Kollege. Sie arbeiten immer zusammen. Wenn einer von ihnen krank ist, kommt ein Ersatz. Sie sind immer zu zweit.« Er ging zur Spüle und griff nach dem Wasserhahn, doch diesmal gelang es Flemming, ihn zu stoppen.

      »Nichts anfassen, Dan. Auch nicht die Toilette oder den Abfluss. Das muss alles erst überprüft werden.« Er ließ Dans Arm los. »Benjamins Nachnamen kennst du vermutlich auch nicht?«

      Dan schüttelte den Kopf. Er kannte die Putzkolonne nur als zwei Schatten, die jeden Abend um neun auftauchten. Eigentlich war er sogar ein wenig stolz darauf, dass er immerhin ihre Vornamen kannte. Den meisten anderen in der Firma hatte er damit sicher etwas voraus. »Die Reinigungsfirma wird dir weiterhelfen können«, sagte er. »Sie heißen Schrubberkompanie, ich glaube, die Telefonnummer liegt draußen am Empfang.«

      »Kannst du sie holen?«

      Dan war erleichtert, dass er Lillianas malträtierte Leiche verlassen durfte. Er ging zum Empfang und setzte sich auf Pernilles Platz hinter dem hohen Tresen. Er kannte ihren Zugangscode zum Computer nicht, hoffte aber, dass sie die Nummer irgendwo ausgedruckt hatte. Bingo! Gleich beim ersten Versuch hatte er Glück. Das kleine schwarze Brett an der Innenseite des Empfangstresens hing voller Merkzettel, alle sorgfältig um ein Illustriertenfoto von George Clooney drapiert. Auf dem obersten Zettel stand deutlich lesbar die Telefonnummer der Reinigungsfirma mit dem so bemüht witzigen Namen. Dan brachte Flemming den Zettel. »Ich gehe jetzt nach Hause«, sagte er.

      »Du siehst auch müde aus.« Flemming reichte den Zettel mit der Telefonnummer an Frank Janssen weiter. »Ich rufe dich morgen früh an, Dan.«

      »Also, Badminton werde ich morgen bestimmt nicht mit dir spielen können.«

      »Ich habe auch nicht unbedingt an Badminton gedacht.« Flemming legte eine Hand auf Dans Schulter. »Ich brauche ein paar Informationen über die Menschen, die hier arbeiten, und wäre froh, wenn du mir dabei helfen könntest.«

      Dienstag

      Luffe war nicht mehr der Jüngste, aber wenn er mit ihm in den Wald ging, benahm er sich wie ein Welpe. Mit der Schnauze am Boden schoss er hin und her, wobei der lange Schwanz wie ein wild gewordenes Metronom an seinem inzwischen recht fülligen Hinterteil wackelte. Im Moment rannte er den steilsten Hügel der Gegend hinauf, und Dan hastete, so schnell er konnte, hinterher. Als sie oben waren, blieb Dan einen Augenblick stehen, um die Aussicht zu genießen. Von hier aus konnte man das gesamte Zentrum von Christianssund übersehen: den Fjord, der blauschwarz unter einem silbergrauen Novemberhimmel glitzerte; die Marina im westlichen Teil des Hafens, in der die meisten Boote an Land lagen und mit Persenningen in den unterschiedlichsten Farben abgedeckt waren; das Rathaus mit dem charakteristischen Turm; die Fußgängerzone, die sich schnurgerade dahinzog; den alten Stadtkern mit seinen schmalen, verwinkelten Gassen und bunten Häusern. Von hier aus konnte Dan auch sein eigenes Haus sehen. Das neue Schieferdach und die frisch gestrichenen hellgelben Mauern strahlten Kreditwürdigkeit aus, selbst aus dieser Entfernung. Auf dem Dachrücken saß eine Möwe. Ein plötzlicher Windstoß brachte ihn einen Moment aus dem Gleichgewicht, und sofort trat er ein paar Meter vom Rand des Abhangs zurück. Er litt fürchterlich an Höhenangst, von der nur seine engsten Vertrauten wussten. Gegenüber seinen Kollegen und Kunden hätte er nie zugegeben, dass er schon bei einem Film mit einer Verbrecherjagd, zum Beispiel über die Dächer von New York, die Augen schließen musste, weil ihm so schwindlig wurde.

      Hinter ihm bellte Luffe kurz und ungeduldig, und Dan riss sich los. Zusammen joggten sie das letzte Stück bis zum Audi. Als Dan hinterm Steuer saß, klingelte sein Handy.

      »Hast du Zeit für mich?« Es war Flemming Torp.

      »Ich bin in zehn Minuten wieder zu Hause.«

      Kleine Pause. »Okay. Ich muss unter meinen Leuten nur noch ein paar Aufgaben verteilen, dann komme ich. Bis gleich!«

      Dan ließ den Wagen an und genoss wie gewöhnlich einige Sekunden das Schnurren des Motors, bevor er den Gang einlegte. Der Audi klang immer so, als wäre es die einfachste Sache der Welt, zu funktionieren; als ob der Wagen wüsste, dass er noch mehr Kraft in der Hinterhand hatte, als ob er flüsternd um größere Herausforderungen bettelte. Es war dieses Gefühl von Überschuss, das Dan an seinem hochglanzpolierten, tiefschwarzen Firmenwagen besonders liebte. Marianne würde er dieses Gefühl niemals erklären können. Sie behauptete hartnäckig, ein Auto sei etwas, um jemanden von A nach B zu transportieren – möglichst ohne allzu viele Werkstattaufenthalte. Der Audi war, egal wie lächerlich es sich auch anhören mochte, einer der wesentlichsten Gründe, warum er bei Kurt & Ko noch nicht gekündigt hatte. Der Gedanke, in dem grässlich vernünftigen, blaumetallic lackierten Ford Focus – noch dazu ein Scheißkombi – herumfahren zu müssen, war kaum zu ertragen. Vielleicht könnte er der Agentur den Audi abkaufen? Er verwarf den Gedanken, bevor er ganz in sein Bewusstsein gedrungen war. Das Auto, in dem er sich so wohlfühlte, eine Audi-A6-Limousine 2.8FSI V6, war nicht älter als ein Jahr und hatte als Neuwagen knapp siebenhunderttausend Kronen gekostet. Gebraucht bekam er ihn vielleicht für fünfhundertfünfzigtausend, wenn Kurt gute Laune hatte. Dream on. Dan verschob die Entscheidung einmal mehr.

      Als er kurz darauf in seiner Küche stand und die Post durchsah, leerte Luffe in Rekordzeit eine Riesenschale Wasser und stellte sich dann wartend an die Tür zum Wohnzimmer, wo das Sofa lockte. Aber heute musste Dan ihn enttäuschen. »Geh ruhig rein und penn, alter Junge«, sagte er und klopfte Luffe auf die Flanke. »Ich muss ein bisschen Kaffee kochen.« Mit einem traurigen Blick in den dunkelbraunen Augen drehte der alte Hund sich um und trottete allein zum Sofa, auf dem er sich zusammenrollte und mit einem tiefen Seufzen einschlief. Dan lächelte, dankbar, dass ihn noch niemand dabei erwischt hatte, wie er mit seinem Hund sprach.

      Flemming kam eine halbe Stunde später. Er sah blass aus, war unrasiert, und seine Brille hätte dringend einmal geputzt werden müssen.

      »Hast du überhaupt geschlafen?«, fragte Dan und stellte die Thermoskanne mit Kaffee auf den Esstisch.

      »Ein paar Stunden.« Flemming zündete sich eine Zigarette an und holte sich selbst einen Aschenbecher aus dem Schrank über der Spüle. »Ist ein vertrackter Fall.«

      »Erzähl.«

      Flemming setzte sich. »Zuerst einmal – wir wissen immer noch nicht, wie das Opfer mit Nachnamen heißt. Woher Lilliana kam, wo sie gewohnt hat oder wie alt sie war. Niemand weiß etwas, auch nicht, ob sie verheiratet war, ein Kind hatte oder …«

      »He, halt mal!« Dan hob eine Hand. »Ein Kind?«

      »Giersing sagt, dass sie eine Schwangerschaft und eine ganz normale Geburt hinter sich hat. Es ist mehr als ein halbes Jahr her, näher kann er den Zeitpunkt nicht eingrenzen.«

      »Davon wusste ich gar nichts.« Dan starrte in die Luft. »Eigenartig. Aber was ist mit Benjamin? Habt ihr ihn aufgetrieben?«

      »Ja, er behauptet, dass er nichts weiß. Gestern Abend sei er bereits gegen zehn gegangen, weil er sich irgendeine Krankheit eingefangen hätte, irgendetwas mit dem Magen.«

      »Danke, keine Details bitte.« Dan schnitt eine Grimasse.

      »Wir haben die Inhaberin der Schrubberkompanie heute Morgen um acht erwischt. Sie heißt

Скачать книгу