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Jedenfalls war er glücklich, dass er Marianne nie in sein systematisches Fremdgehen eingeweiht hatte.

      Und dann kam der Traumjob in seiner Heimatstadt, die Chance für einen Neustart: eine der angesehensten Positionen in der Branche und gleichzeitig die Chance, ein ordentlicher Ehemann und Vater zu werden. Dan war siebenunddreißig Jahre alt, als er zum Kreativdirektor von Kurt & Ko ernannt wurde. Er übernahm die Verantwortung für eine Gruppe von mit allen Wassern gewaschenen Artdirectors und Textern, die meisten hatte er selbst eingestellt. Eigentlich hätte alles gut sein müssen, doch es gab ein Problem: Dan eignete sich nicht zum Chef. Er war ein souveräner Planer von Konzepten, ein blendender Texter und ein unübertroffener Sparringspartner für so ziemlich jeden nur denkbaren Kunden, der es sich leisten konnte, ihn zu bezahlen. Aber er verabscheute es zutiefst, darüber zu bestimmen, wie andere Menschen ihre Zeit zu verbringen hatten. Es irritierte ihn, wenn ein Mitarbeiter zu ihm kam und ihm erklärte, warum er heute ein wenig früher gehen müsse, und Dan bekam Migräne, wenn er nur daran dachte, dass die Reinzeichner morgen vielleicht nicht genügend zu tun haben könnten. Natürlich versuchte er, das zu ignorieren. Denn wer verdiente nicht gern ein bisschen mehr, führte einen noch tolleren Titel und bekam ein größeres Büro? In den ersten Jahren verdrängte Dan die unangenehmen Fakten und versuchte, seinen Chefposten zu genießen. Um die Wahrheit zu sagen: Er versuchte in dieser Zeit ernsthaft, seiner Rolle als Abteilungsleiter besser gerecht zu werden. Er besuchte Kurse, bekam einen Coach, mühte sich regelrecht damit ab, sich selbst zu hypnotisieren und davon zu überzeugen, dass es schon irgendwie gehen würde. Sein Körper und seine Psyche reagierten jedoch allmählich auf den Fehler seiner Beförderung. Man ist nicht automatisch ein guter Chef, nur weil man auf seinem Fachgebiet gut ist. Je höher man auf der Karriereleiter steigt, desto weiter entfernt man sich in der Regel von dem Handwerk, in dem man gut ist. In Dans Fall bedeutete das, dass er Aufgaben an Mitarbeiter delegieren musste, bei denen es sich um die Besten handelte, die er für Geld hatte kaufen können, die aber im Grunde niemals so gut sein würden wie er. So etwas lässt sich ungestraft ein Mal machen, vielleicht auch zwei oder drei Mal, als diese Praxis dann alltäglich wurde, fraß sich die Frustration in seinen Organismus und setzte sich wie eine Krebsgeschwulst fest.

      Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder musste Dan lernen, sich auf seine Mitarbeiter zu verlassen, mit ihren Lösungen zu leben, sich eine dickere Haut zuzulegen und seine fachliche Eitelkeit zu beherrschen. Oder er musste zu einem Kontrollfreak werden, der sich in alles einmischte und die Vorschläge seiner Mitarbeiter ständig überarbeitete – auch wenn es ihn sämtliche Freizeit kostete, die er so dringend benötigte. Dass Dan Sommerdahl sich für die zweite Möglichkeit entschied, versteht sich beinahe von selbst. So ist das, wenn man seinen Beruf liebt, aber ein schlechter Chef ist. Und mit diesem Entschluss befand sich Dan auf dem sicheren Weg zum Zusammenbruch. Die ersten Symptome ignorierte er, obwohl es lästig war, jeden Morgen mit Magenschmerzen zur Arbeit zu fahren. Im Laufe des Tages hielt er die Fassade aufrecht, lächelte und machte Witze, während er sich innerlich nur noch darauf freute, wieder zu Hause unter die Bettdecke kriechen zu können. Erst als ihm die erheblich zugenommene Gleichgültigkeit gegenüber seiner Arbeit auffiel, die er früher immer geliebt hatte, fingen die Alarmglocken allmählich zu schrillen an – aber noch immer weigerte er sich, dem Problem in die Augen zu sehen. Vielleicht würde ein neuer Kunde helfen, eine neue Aufgabe, ein paar neue Mitarbeiter. Er bündelte immer mehr Kompetenzen bei sich, nahm an Konferenzen in aller Welt teil, organisierte ambitionierte Werbekampagnen und wurde regelmäßiger Protagonist der Fernsehsendung »Zeig mir deinen Stil«, in der Experten versuchten, sich in ihrem Wissen über Konsum und Lebensart gegenseitig zu übertreffen.

      Dan hatte immer mehr zu tun, doch seine Lunte wurde kürzer und kürzer. Nicht ganz so wichtige Geschäftsverbindungen erlebten ihn stets lächelnd und gut gelaunt, bei seinen eigenen Mitarbeitern indes sank seine Popularität rasch. Und es gibt nichts Demotivierenderes als einen schlecht gelaunten, gereizten Chef. »Ich weiß, dass du keine Lust hast, aber du musst doch eine Meinung zu dieser Typografie haben, Dan«, murrte der Artdirector. »Wer hat bloß auf deinen Mars-Riegel gepisst, Sommerdahl?«, pflaumte ihn der Medienberater an, ohne dass sich auch nur der Ansatz eines Lächelns in seinen Augen zeigte. »Willst du nicht mal Urlaub machen, Boss?«, fragte der Grafiker ganz direkt und sprühte verärgert Reinigungsmittel auf seinen Bildschirm, um die Spuren von Dans ewig krittelndem Zeigefinger zu löschen.

      Ja, er brauchte Urlaub. Aber Ferien waren das Letzte, was er sich erlauben konnte. Wenn er sich nicht um all diese unglaublich langweiligen Aufgaben kümmerte, würden seine geistig zurückgebliebenen Mitarbeiter sie ja selbst übernehmen müssen, und dazu waren sie einfach nicht in der Lage. Niemand kam ohne Dan zurecht, meinte Dan. Und je schwerer es ihm fiel, seiner Arbeit nachzukommen, desto überzeugter war er, Opfer eines bösartigen Komplotts seiner Mitarbeiter zu sein, die bewusst gegen ihn zu arbeiten versuchten.

      Er fing an, ein Leben zu führen, in dem es nur noch Platz für das Allernotwendigste gab. Im Büro hielt er sich aufrecht, aber sobald er nach Hause kam, ging er ins Bett oder legte sich mit der Fernbedienung in der Hand aufs Bett. Er schlief immer länger, zehn Stunden, elf Stunden, zwölf Stunden am Tag, trotzdem war er nicht weniger müde. Im Gegenteil. Schließlich hatte er außerhalb der Arbeitszeit keinerlei Kraft mehr für irgendwelche Aktivitäten. Er hatte kaum noch Kontakt zu seiner Frau, seinen Kindern oder seiner Mutter.

      Es musste übel ausgehen, und so kam es auch. Eines Tages Ende September wachte Dan morgens auf, und sowie er die Augen aufgeschlagen hatte, wusste er, dass er nicht in der Lage sein würde, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen. Tatsächlich konnte er überhaupt nicht gehen. Er hätte seine Beine niemals aus dem Bett schwingen können, nachdem er noch nicht einmal den Kopf heben konnte und das Kopfkissen offensichtlich in seinem Nacken festklebte. Also blieb er einfach liegen. Als Marianne eine halbe Stunde später den Kopf zur Schlafzimmertür hineinsteckte und fragte, ob er nicht bald aufstehen wolle, kamen ihm plötzlich die Tränen. Er konnte nichts sagen, er starrte einfach nur an die Decke, während ihm die Tränen in die Augenwinkel, über beide Wangen und weiter auf die Bettdecke liefen.

      Marianne reagierte so kühl und professionell, als hätte sie Wache in der Notaufnahme der Psychiatrie. Sie fühlte seinen Puls, setzte sich einen Moment zu ihm und hielt seine Hand; als ihr klar wurde, dass sein Tränenfluss nicht zu stoppen war und sie keinen vernünftigen Kontakt zu ihm bekam, holte sie ihre Arzttasche und nahm eine Spritze, eine Kanüle und einen winzigen Flakon mit einer klaren Flüssigkeit heraus. Als sie die Spritze aufgezogen hatte, hielt sie sie senkrecht und schnipste zweimal hart mit dem Fingernagel daran, damit die Luftblasen aufstiegen. Dann drückte sie ein wenig auf den Stempel, bis ein paar Tropfen herausspritzten. Daraufhin schob sie ihren Mann auf die Seite, zog seine Boxershorts herunter und setzte die Spritze in seine rechte Hinterbacke. Sie verließ das Zimmer, rief in der Agentur an und teilte mit, dass er mindestens ein paar Wochen krank sein würde. Danach telefonierte sie mit dem Ärztehaus und gab Bescheid, dass sie erst nachmittags kommen konnte. Die Helferin sollte versuchen, jene Patienten, die einen dringenden Termin hatten, auf die anderen Ärzte im Haus zu verteilen.

      Zurück im Schlafzimmer, legte sie sich neben ihren Mann, hielt seine Hand und redete leise auf ihn ein, bis das Beruhigungsmittel wirkte. Als die Tränen versiegt waren, half sie ihm, auf die Toilette zu gehen, dann begleitete sie ihn zurück ins Bett. An diesem Vormittag lagen sie nebeneinander, ohne viel zu sagen. Nach ein paar Stunden war Dan in einen tiefen Schlaf gefallen, und Marianne lief das kurze Stück über die Gørtlergade, bog links in die Algade und kam zum Rathausmarkt mit dem schönen niedrigen Eckgebäude, in dem sich ihre Praxis befand. Bevor sie sich um ihre Patienten kümmerte, hinterließ sie am Empfang des Ärztehauses eine Nachricht für eine ihrer Partnerinnen, die Psychiaterin Kirsten Loft. Sie wusste, dass eine Spezialistin hinzugezogen werden musste.

      Sieben Wochen nach Dans Zusammenbruch saßen sie eines Abends Mitte November mit ihrem besten Freund zusammen, dem Kriminalkommissar Flemming Torp. Sie tranken Irish Coffee, der offene Kamin strahlte Hitzewellen aus. Flemming hatte gerade die Scheidung hinter sich, und nur zu dritt zu sein, war ungewohnt und eigenartig – nach all den Jahren, in denen sie zu viert gewesen waren: im Urlaub, bei Weihnachtsfeiern, beim Badminton. Ihre Kinder waren zusammen aufgewachsen, und seit über zwanzig Jahren hatten sie mindestens einen Abend in der Woche gemeinsam verbracht. Die Lücke, die Flemmings Frau Karin hinterlassen hatte, war noch längst nicht

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