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durchaus das Potenzial gehabt, als hundertprozentiges Pendlerreservat zu enden, doch dieses Schicksal ist der Stadt zum Glück erspart geblieben. Die Kommunalverwaltung hat dafür gesorgt, dass es für junge Unternehmen ausgesprochen attraktiv ist, sich hier niederzulassen. Ein gutes Beispiel ist die alte Schiffswerft der Stadt: Nach ihrer Schließung in den Neunzigerjahren wurde sie von der Gemeinde aufgekauft und in neue, attraktive Büroräume umgestaltet. Und bei Weitem nicht jeder kann sich im Sundværket, so der jetzige Name, einmieten. Ein eigener Planungsausschuss sortiert sehr gewissenhaft die Bewerber, und nur Firmen mit dem richtigen Profil bekommen den Zuschlag. Von Anfang an haben Werbeagenturen, Architekten, IT-Firmen und ein Radiosender in den frisch renovierten Räumen gearbeitet.

      Gleichzeitig begann die Gemeinde mit einem ambitionierten Wohnungsbauprojekt, das aus Eigentumswohnungen, Reihenhäusern auf genossenschaftlicher Basis und Wohnungen für Jugendliche bestand. Das neue Viertel, über das bereits beim Richtfest sämtliche überregionalen Zeitungen berichteten, wurde direkt am Sund errichtet. Der Erfolg war überwältigend, und im Kielwasser der neuen, trendigen Christianssundbürger, von denen viele aus den überteuerten Vierteln der Hauptstadt hierhergezogen sind, eröffneten Cafés, Modeboutiquen und Sushi-Bars am Kai und in den engen, gewundenen Straßen der Stadt. Den Mitgliedern der Gemeindeverwaltung steht vor Begeisterung bis heute der Mund offen.

      Aufgrund dieser vorausschauenden Politik ist Arbeitslosigkeit für die vierunddreißigtausend Bürger der Stadt auch längst kein so großes Problem wie in anderen alten Werftstädten. Natürlich handelt es sich bei den neuen Arbeitsplätzen in erster Linie um hoch spezialisierte Bürojobs, die den arbeitslosen Werftarbeitern nicht angeboten werden konnten, aber aus der Ferne betrachtet hat sich doch alles zur Zufriedenheit geregelt. Den meisten Bürgern von Christianssund ist es allerdings vollkommen egal, wer im Sundværket arbeitet und in dem neuen Viertel wohnt, um die Wahrheit zu sagen. Der größte Teil der Arbeitsplätze in der Stadt hat sich ja auch nicht verändert. Für die Lehrer an den Schulen, das Pflegepersonal im örtlichen Krankenhaus, für die Verkäuferinnen in den Geschäften an der Algade, das Personal im Finanzamt und die Beamten des Polizeipräsidiums, für sie alle ist Christianssund nichts Besonderes. Es ist lediglich der Ort, in dem man lebt und arbeitet. Einige Jugendliche zieht es nach der Schule in Richtung Kopenhagen, doch die meisten bleiben in ihrer Heimatstadt oder kehren irgendwann zurück, ohne sich weiter zu fragen, ob die Stadt nun wirklich der beste – oder der schlimmste – Ort auf der Welt ist.

      Ganz gleich wie vorausschauend und progressiv die Kommunalverwaltung auch sein mag, Christianssund ist und bleibt ein Provinzstädtchen. Natürlich sind die alten Familien tolerant und höflich gegenüber den jungen, und die Zugezogenen bedanken sich lächelnd für die freundliche Aufnahme. Man ist schließlich erwachsen. Aber tief in ihrem Inneren halten die Alten die Neuen für oberflächliche Wirrköpfe, die sich nicht allzu viel herausnehmen sollten; und die Neuen denken etwas überheblich, die Alten sollten glücklich sein, dass ihr eingeschränkter Horizont ein wenig erweitert wird.

      Die Familie Sommerdahl stand mit je einem Fuß in beiden Lagern. Dan Sommerdahl war in Christianssund geboren und aufgewachsen, allerdings hatte sich der größte Teil seiner Karriere in Kopenhagen abgespielt – dort hatte er auch viele Jahre gewohnt. Seine Frau Marianne stammte ursprünglich aus Randers und verfügte über das instinktive Gespür von Provinzlern dafür, was ein Zugezogener auf jeden Fall nicht tun und sagen sollte. Vielleicht lag es daran, dass Dan und Marianne im Lager der Alten sofort akzeptiert waren, als sie zum ersten Mal Eltern wurden und in Dans Geburtsort zogen. Sie kauften eines der begehrten Stadthäuser aus dem 19. Jahrhundert in der Gørtlergade, einer Seitengasse der Algade, der Hauptstraße von Christianssund. Fast zehn Jahre pendelte Dan zwischen dem Haus der Familie in der Gørtlergade und seiner Arbeit als Texter in einer Werbeagentur im Zentrum von Kopenhagen; ebenso wie Marianne, die als Ärztin lange Zeit alle möglichen Stellungen annehmen musste – in Aalborg, Esbjerg, sogar in Norwegen –, um sich als praktische Ärztin zu qualifizieren. Hätten sie nicht das enorme Glück gehabt, ein hervorragendes Au-pair-Mädchen zu finden, das Dans kinderliebe Mutter unterstützte, die zufällig in der Nähe wohnte, ihr Familienleben hätte niemals funktionieren können.

      Doch diese Phase war glücklicherweise vorbei. Vor sieben, acht Jahren war Dan Kreativdirektor der Werbeagentur Kurt & Ko geworden, die ihre Räume im Sundværket hatte; und Marianne hatte sich erst kürzlich in das Ärztehaus von Christianssund eingekauft, dem größten und modernsten Praxiskomplex der Stadt. Abgesehen von Marianne gab es dort drei weitere Allgemeinmediziner sowie einen Gynäkologen, einen Hals-Nasen-Ohren-Arzt und eine Psychiaterin als Partner. Das Ärztehaus lag am Rathausmarkt, einem Platz, der allein wegen seiner Lage als Knotenpunkt zwischen Hafen und Fußgängerzone es verdiente, das Herz der Stadt genannt zu werden. Nicht dass irgendjemand außerhalb der örtlichen Händlergemeinschaft auf die Idee gekommen wäre, diesen Ausdruck ernsthaft zu verwenden, aber dennoch … Am Rathausmarkt lag – abgesehen natürlich vom Rathaus – auch das Polizeipräsidium sowie der älteste Gasthof von Christianssund, das Hotel Marina.

      Mit ein wenig Wissen über die Lebensumstände von Kernfamilien überrascht es nicht besonders, dass diese neue und glückliche Situation mit Arbeitsplätzen am Ort und der daraus gewonnenen zusätzlichen Freizeit sich zu einer Zeit ergab, als die Sommerdahlkinder ihre Eltern im Alltag nicht mehr brauchten. Rasmus, der Sohn, ist zu Beginn dieser Geschichte gerade einundzwanzig Jahre alt geworden: ein dünner, blonder Filmenthusiast mit dem schüttersten Spitzbart der Welt. Erst kürzlich hat er eine eigene Wohnung im Kopenhagener Stadtteil Nørrebro bezogen. Und die siebzehnjährige Tochter Laura geht derzeit auf ein Internat irgendwo in Westseeland.

      Die erwachsenen Sommerdahls konnten es also zum ersten Mal seit vielen Jahren ein wenig ruhiger angehen lassen. Beide hatten sie die richtig gut bezahlten Jobs, für die sie ihr ganzes Leben geschuftet hatten; sie mussten kein schlechtes Gewissen mehr haben, dass sie zu wenig Zeit für die Kinder hatten; das Haus war beinahe abbezahlt, ja sogar mit dem Hund kamen sie einfacher klar. Es handelte sich, das sei in Parenthese angemerkt, um einen gelben Labrador namens Luffe, der mit seinen elf Jahren inzwischen ein Alter erreicht hatte, in dem die Menge der Dummheiten doch erheblich begrenzt war – es sei denn, man zählte die stetig wachsende Häufigkeit von Darmwinden mit dazu.

      Dan und Marianne hätten also glücklich sein können. Das Problem jedoch war, sie waren es nicht. Vor allem Dan nicht. Zusammengekrümmt unter seiner Bettdecke, hatte er vor nicht allzu langer Zeit einen ganzen Monat mit einer heftigen stressbedingten Depression im Bett verbracht. Dank Mariannes Kollegin, der Psychiaterin aus dem Ärztehaus, war er auf einem guten Weg der Besserung. Dan war inzwischen wieder in der Lage, sich an einem Gespräch mit mehreren Teilnehmern gleichzeitig zu beteiligen, längere Spaziergänge mit Luffe zu unternehmen und sich nicht allzu anspruchsvolle Fernsehsendungen anzusehen. Er hatte auch wieder angefangen zu joggen, und es schien, als würde allein die Bewegung der Depression entgegenwirken.

      Alle gingen davon aus, dass Dan Sommerdahl in ein paar Wochen wieder an seinem italienischen Designerschreibtisch und in seinem Büro mit Blick über den Fjord von Christianssund und auf die alte Eisenbahnbrücke sitzen würde. Man rechnete fest damit, dass er seinen kometenhaften Aufstieg auf der Karriereleiter fortsetzen, seinen schwarzen Audi A6 durch ein noch protzigeres Auto ersetzen und noch mehr Preise und Auszeichnungen bekommen würde, die sich als hässlicher Kristallkram auf seinem Regal sammelten. Dan war sich da nicht so sicher.

      Der Weg zum Titel des Direktors war gewunden und von Glück und Zufällen geprägt gewesen – angefangen hatte es mit einem blendenden Abitur, obwohl seine Mutter ihm nie ganz verziehen hatte, dass er nicht »etwas« daraus machte. Also etwas Richtiges, wie zum Beispiel ein Medizinstudium, eine Karriere in der Politik oder so etwas. Nach einem ganz kurzen Flirt mit dem Gedanken, auf die Polizeischule zu gehen, wo sein bester Freund Flemming untergekommen war, nachdem er seine Wehrpflicht abgeleistet hatte, entschied sich der einundzwanzigjährige Dan für ein Praktikum als Texter bei einer großen Kopenhagener Werbeagentur; und seine Intelligenz, gekoppelt mit einem geradezu unheimlichen und genialen Talent für Einzeiler, hatte ihn in den folgenden Jahren ganz nach oben gebracht, von Agentur zu Agentur. Er hatte seinen Job geliebt: Er liebte das Wissen um sein Können, er liebte die Überstunden, er liebte den ungezwungenen Umgangston, er liebte die coolen jungen Frauen, die in einem sanften Strom durch die Branche zogen – bisweilen auch mit kleinen Abstechern auf

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