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durch die örtliche Fürstenherrschaft, von der sie doch abhängig waren. In Deutschland bestanden die Bürger als einheitliche Klasse noch gar nicht. In Kleinstaaten blieben ihre Möglichkeiten zur Entfaltung gering.

      Aber die Studenten erwarteten etwas, und zwar mit wesentlich größerer Ungeduld als die Bürger in Deutschland. Sie hofften, daß die gewaltigen Veränderungen in Frankreich nicht ohne Auswirkungen auf Deutschland bleiben würden, daß alles nur eine Frage der Zeit sein werde. In ihrer Hoffnung wurden sie bestärkt durch den Verlauf des ersten Koalitionskrieges, vor allem durch den ersten Sieg der Franzosen bei Valmy über die Preußen. Denn soviel verstanden die Stipendiaten des Herzogs schon von Politik, daß sie wußten: Gewännen die Österreicher und Preußen diesen Krieg, würden schlimme Zeiten bevorstehen. »Der Mißbrauch fürstlicher Gewalt wird schröcklich werden … bete(t) für die Franzosen, die Verfechter der menschlichen Rechte.«7 Und nun hatten die Franzosen gegenüber den Preußen zunächst gesiegt, auch wenn sie Preußen noch nicht besiegt hatten – und das sicherlich nicht so sehr durch Gebete als vielmehr durch kluge militärische Strategie.

      Doch für die Studenten war dieser erste Sieg Anlass zur Freude. Sie fanden sich in ihren Hoffnungen auf eine baldige Veränderung bestärkt. Ihr Glaube an die Franzosen, ihr Glaube an eine nicht ferne bessere Zukunft bekam neue Impulse, zumal sich in der Entwicklung der Französischen Revolution selbst eine neue Etappe abzuzeichnen begann: Die Herrschaft der Konstituante wurde abgelöst durch den Konvent, durch die Herrschaft der republikanischen Gironde-Bourgeoisie, die in weltbürgerlich-revolutionärem Idealismus glaubte, Frankreich die Rolle eines Erlösers aller feudal unterdrückten Völker aufdrängen zu müssen. Und das Resultat dieses missionarischen Strebens: der Zusammenschluß einer gewaltigen europäischen Koalition gegen die revolutionäre Nation. Aber das war zu Beginn dieser neuen Etappe nicht abzusehen, schon gar nicht von den Studenten im Tübinger Stift. Für die Studenten war die weitere Entwicklung der französischen Ereignisse Anlaß genug zu glauben, daß die ersehnten Veränderungen unmittelbar bevorstehen. In dieser Annahme wurden sie noch bestärkt, weil sie aufgrund der deutschen Rückständigkeit den sozialen und politischen Charakter der Kämpfe in Frankreich gar nicht wahrnehmen konnten. Ganz im Sinne der deutschen Aufklärung nahmen sie nur den abstrakten Ausdruck dieser Kämpfe auf. Und losgelöst von dem wirklichen politischen Geschehen, bekamen Worte wie Freiheit, Gleichheit, … einen anderen, einen durch die Denkweise von Theologie und Philosophiestudenten bestimmten Sinn, wodurch sie dann auch meinen konnten, die Neubestimmung von Begriffen wie Tugend, Moralität oder Gott sei für die kommende Veränderung in Deutschland bereits ein enormer Gewinn.

      Der Glaube an die Zukunft schloß die Studenten zusammen. Er ließ sie hoffen, daß bald etwas geschieht, ein zu langes Abwarten sich nicht mehr riet. Also besser, sich doch schon erheben, um an den Grenzen der Wirklichkeit sich in die kommende Zeit hineinzuweben? Unter den alten Verhältnissen die neuen vorbereiten? Der Zukunft etwas nachhelfen? Also doch schon etwas tun für den Anbruch des Neuen. Schließlich muß man vorbereitet sein auf bessere Zeiten. Immer nur abwarten, abwägen, sich zaghaft zeigen? Dann doch besser etwas tun für die Menschheit, für ihre bessere Zukunft. Schließlich braucht diese neue Zeit auch neue Intellektuelle, Kühnere, Maßlosere, die »dem Vaterland und der Welt ein Beispiel geben, daß wir nicht geschaffen sind, um mit uns nach Willkür spielen zu lassen?«8 So entstand unter den Studenten der Plan, einen Klub zu gründen. Nicht öffentlich, nein, nach Regeln der Konspiration.

      Hegel kamen die Überlegungen seiner Freunde recht. Zum einen war sein politisches Interesse in der Zeit des Stifts merklich größer als sein theologisches und philosophisches, oder präziser, Theologie und Philosophie interessierten Hegel in diesen Jahren vornehmlich unter politischen Gesichtspunkten, so daß er nicht nur im Stift in viele Auseinandersetzungen verwickelt war, sondern auch mit dem Vater die heftigsten Debatten hatte, der in Fragen der Französischen Revolution ein entschiedener Aristokrat war. Zum anderen war der Gedanke, sich an der ganzen Menschheit zu orientieren, Hegel genehm. Denn der Glaube an eine bessere Zeit ist ein recht verläßlicher. Das bewies ihm seine gerade gescheiterte Liebe zu Fräulein Hegelmeier. Die Zukunft, wenn man sie nur weit genug ausdehnt, bietet weniger Möglichkeiten für Enttäuschungen. Und schließlich tat man in Frankreich bereits Entscheidendes für sie. Da kann ein politisch denkender Stipendiat nicht untätig bleiben; da muß man vorbereitet sein.

      Hegel wurde also aktives Mitglied und ein begeisterter Redner in diesem Klub, den die Studenten gründeten in jenen Tagen, in denen sie zu hoffen und zu träumen wagten, weit über die Grenzen hinaus, die ihren Lehrern denkbar waren. Nicht etwa aus Verlegenheit oder aus dem Verlangen, sich abzulenken, entstand Hegels Engagement in diesen Jahren, sondern aus politischem Interesse, das Hegel seit Beginn der Französischen Revolution ergriffen hatte, und zwar entscheidend. In diesem Klub wurden Hegel, Hölderlin und Schelling Freunde und sollten es bleiben vorerst. Hier diskutierte man die tagespolitischen Ereignisse, die auch für Deutschland Zukunft versprachen. Hier lehnten sich die Studenten auf gegen die Willkür und das Ungefähre im Denken und diskutierten die Probleme der Vorlesungen zeitnah. Im Klub lasen sie Klopstocks Oden, Schillers »Räuber« und Schubarts Gedichte. Sie versuchten, Kants »Kritiken« zu begreifen und sie von transzendenten Mächten, die noch trennten, zu befreien. Sie studierten wieder Rousseaus »Gesellschaftsvertrag«, seinen »Emil« und suchten in seinen »Bekenntnissen« nach Gleichnissen. Sie schworen sich, sich nicht verbrauchen zu lassen im Kampf für Erbärmlichkeiten – in Kämpfen, die für denkende Menschen nur Beleidigungen darstellten. Sie wollten grundsätzliche Kämpfe austragen, Kämpfe, die die entscheidende, die wesentliche Veränderung bringen sollten, Kämpfe, in deren Resultat Enge, Beschränktheit, Despotismus flieht, fliehen muß, ohne Frist. Sie schworen sich, stets die Größe zu besitzen, das Alte aufzugeben, wenn es sich als nicht mehr notwendig erwies.

      »Gegen die Tyrannen!« – »Tod dem Gesindel!« – »Tod der schrecklichen Politik, die die absolute Macht über die Herzen beansprucht!« – »Es lebe die Freiheit!« – »Es lebe Jean-Jaques Rousseau!« – »Vaterland und Freiheit!« – »Gäbe es ein. Volk von Engeln, würde es sich demokratisch regieren!« wurde zu dieser Zeit in Hegels Stammbuch geschrieben.9

      Berechtigterweise mußten die Studenten Sorge haben, daß beim Bekanntwerden ihrer Wünsche und politischen Zielsetzungen einige Professoren und Ämter erhebliche Beunruhigung zeigen würden. Die Stipendiaten trafen deshalb vielerlei Vorsichtsmaßnahmen, damit ihre Tätigkeit im Klub auch wirklich geheim blieb. Sie tarnten ihre Zusammenkünfte als »Unsinnscollegium«. Das würden ihre Professoren begreifen und nicht verdächtig finden, zunächst. Das entsprach den Denkschablonen ihrer Lehrer, denn mehr als Unsinn trauten die meisten Professoren und Repetenten den Studenten ja doch nicht zu. Warum die Erwartungen der Stiftsleitung also unnütz übersteigen? Warum die Repetenten überfordern?

      Sich mit der alten Wirklichkeit nicht ganz entzweien. Klug handeln, sich anpassen, sich im Anpassen nicht anpassen, das war die Strategie der Stipendiaten. Verharmlosen, was eigentlich nicht harmlos ist. Öffentlich machen, was die Öffentlichkeit nicht erfahren soll, indem man die Nuancen etwas verdreht. Soll doch erst jemand kommen und beweisen, daß in diesem Klub nicht auch Unsinn getrieben wurde. Die Denkstrukturen der Vorgesetzten benutzen, um im Schein von Nichtigkeiten Wichtigeres zu vollbringen. Und so wußten dann nicht einmal die Repetenten – die unmittelbaren Aufseher der Studenten – etwas Wesentliches von diesem Klub, obwohl ihnen bekannt war, das da »eine Gesellschaft« existiere, »welche wöchentlich ein oder ein paarmal auf der Krankenstube oder einer Senioratsstube in der Abendrekreation mit allerlei lustigen Einfällen, u. Vorlesung komischer Gedichte u. prosaischer Aufsätze sich u. andere (die ums Geld den Zutritt hatten) die Zeit vertrieb. Man nannte diese Versammlung das Unsinnscollegium.« So wußten die Repetenten zwar von dem Klub, »denn man sprach ganz unverholen davon, vermutheten aber nichts anstössiges dabei, u. hielten (sich) nicht für berechtigt, eine unschuldig scheinende Freude der Stipendiaten, die nicht gerade mit Tumult verbunden war, zu stöhren«.10

      Das Maß an Gutgläubigkeit, das diese Repetenten aufbrachten, besaßen andere nicht. Und so kam es, wie es letztlich zu erwarten war in einer Stadt, in der es pflichtbewußte Bürger gab, die um der Ordnung willen alles hörten, alles sahen, in einem Ort, in dem der Herzog natürlich auch seine Spitzel hielt – die nun mal existieren, solange Regierungen sich fürchten vor ihrem Volk; es kam, wie es wohl kommen

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