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      Wen danach fragen. Seit die Mutter gestorben war, fühlte sich Hegel, ihr ältester Sohn, recht allein. Und überhaupt, was denn fragen, wenn von Hang zu Hang die Himmel steigen und Eisregionen streifen. Wo sich festhalten, wenn danach leichter Erdrutsch erfolgt, den nur er bemerkt. Natürlich, da war noch der Vater. Aber läßt sich denn überhaupt nach Unsagbarem fragen? Beim Vater jedenfalls nicht – soweit wir wissen.

      Natürlich, da gab es den Lehrer Löffler, dem Hegels Liebe galt. Und der eben wußte um den Wert der Wissenschaft und den Trost, den sie einem geben kann.2 Ja, das hatte Hegel schon auf dem Gymnasium erfahren. Wissenschaft als Trost. Wofür? Für die Begrenzung des Wirklichen. Als Denkmöglichkeit einer Welt, in der alles weiter wird, in der anderes gilt, wenigstens stundenweise. Als Möglichkeit, Ordnung zu schaffen, nachdem man von sich selbst überhäuft dasitzt und nicht weiter kann, wenn man nicht augenblicklich all die Unmöglichkeiten wieder in sich hinein zu schichten beginnt und sie nach Nebensächlichem und Wichtigem sortiert, wenigstens vorläufig – eben dies hatte Hegel wohl frühzeitig begriffen. Wissenschaft als Möglichkeit, sich über sich selbst hinwegzuheben, auch dann, wenn man bald merkt, daß sie einen nie dort ablegt, wo man sich zuvor befand, sondern tiefer, immer tiefer in irgend etwas ganz Unfertiges treibt. Wissenschaft als Trost für den Zusammenbruch der Träume, die noch gemacht wurden in nicht meßbaren Räumen. Und der Wert der Wissenschaft? Für Hegel bestand er zunächst in der Möglichkeit, Sachkenntnis zu erwerben, um nicht sprachlos zu bleiben oder auf Fragen nur mit Worten reagieren zu müssen, die eigentlich keine Antworten waren.3

      Denn schon bald hatte er bemerkt, daß das, was wir sagen, meist nur vorläufig ist, daß die Sprache Benennungen erzwingt, die sich allzu schnell verfestigen. Er erwarb ein tiefes Mißtrauen gegen die Gewohnheit, gegen die ererbten Vorstellungen und Meinungen, an denen wir oft grundlos nicht mehr zweifeln, ob sie vielleicht ganz falsch oder nur halbwahr sein könnten.4

      Sein Mißtrauen gegen überlieferte Meinungen und überkommene Bräuche war groß. Vielleicht auch deshalb zeigte er bald eine größere Neigung für Geschichte, insbesondere für ihren pragmatischen Teil, also für das, was sich tatsächlich ereignete. Schröckhs »Lehrbuch der allgemeinen Weltgeschichte« gehörte zu seinen bevorzugten Büchern in dieser Zeit, wahrscheinlich auch, weil Schröckhs Buch den Einfluß von Montesquieu nicht von sich weist. Der klare historische Realismus eines Shakespeare begeisterte ihn, aber die durch ihre Innerlichkeit geprägten Oden Klopstocks möchte er auch nicht missen.

      Hinauskommen über den äußeren Rand der Wirklichkeit und die neu betretenen Räume beständig machen – wenigstens vorübergehend – um sicherer gehen zu können danach von einer Unbegrenztheit zur anderen. Denn die Gestalt der Räume und auch die Zeit können täuschen, wenn ihr Maß zu sehr von zufälligen Begebenheiten bestimmt wird.5 Vorerst hatte Hegel also Zeit, viel Zeit, um sich mit Gelegenheitsarbeiten: mit Botanik und Anatomie, mit Astronomie und Mathematik, mit Jura und Theologie, mit alten Sprachen, Philosophie und eben Geschichte zu beschäftigen.6 Er verbrachte den größten Teil des Tages mit Büchern. Er lebte bedächtig. Vorsichtig probierte er sich aus. Noch schien ihm alles offen. Seine Gegenwart war lange nicht so liniiert wie die Schulhefte vor ihm auf dem Tisch.

      Dabei hatte er wenig Möglichkeiten zu sprechen. Kaum jemand nahm sich Zeit für ihn. So verstand er sich auch später nicht auf viele Worte. Aber er verstand sich mit seinen Büchern. In ihnen sah er sich als großer Redner.

      In ihnen stand er mitten in den Schlachten zwischen Theben und Athen, den Orten, wo seine griechischen Helden lebten. Er suchte Zuspruch in alten Handschriften. Er vermaß als Mathematiker und als Geometer fremde Länder. Er reiste gern; er sah sich verstreut im Licht der Sternenbilder. Er sah sich im Wirbel der Größen an Säulen gelehnt, sah sich dann auseinanderbrechen, als Müßiggänger auf großen und kleinen Festen dahin treiben. Danach war er dabei, Lebendiges wie Mauerwerke zusammenzusetzen. Er sah sich wie jeder, der gerade erst anfängt zu leben und dem scheinbar noch alles möglich und offen erscheint.

      Doch unmerklich schlich ein Interesse sich ein. Er begann sich Fragen zu stellen, die er nicht mehr vergaß. Fragen, die sich richteten auf das Woher? und das Warum? Hatte er bisher einfach in den Tag hinein gelebt und jeden Tag anderes versucht, war er lange ohne Arg gewesen, so begann er jetzt zu zweifeln – ohne jedoch schon zu erfahren, daß er seinen Zweifeln einmal nicht gewachsen sein könnte. Frühzeitig – vielleicht zu früh – hatte er gelernt, in zwei Welten zu leben, Welten, die zunächst recht verschieden waren, getrennt, jede für sich, Welten, die sich nur selten begegneten. Als Heranwachsender hatte er dann versucht, sich zu teilen in ein Kind, das die Erwachsenen als angenehm akzeptierten, aber das sich nicht selbst dabei verlor. Er unternahm den Versuch, sich unantastbar zu machen, gegen die Anmaßung der Begebenheiten, gegen die Anmaßung der Zufälle, die seinen Weg bestimmen wollten. So hatte er bald gelernt, in mindestens zwei Welten zu operieren. Unmerklich bildeten sich dabei hier und dort Gänge, Übergänge von der einen Welt zur anderen, Verbindungen auf dem schmalen Weg der Abstraktion durch diesen oder jenen Begriff, der nun in beiden Welten galt. Frühzeitig hatte er somit die Fähigkeit gewonnen, Ähnliches am Unähnlichen wahrzunehmen. Das heißt, er hatte gelernt zu abstrahieren, abzusehen von den Unterschieden. Er war geübt in dem Geheimnis, beiseite legen zu können, was nicht dazugehörte in einem bestimmten Augenblick, ohne das Gefühl aufkommen zu lassen, er verliere dabei an Sicht – eine Fähigkeit, die Voraussetzung jeglichen Philosophierens ist. Er hatte gelernt, schon in frühen Jahren das Ungleiche der Dinge zu vergessen, um in einiger Entfernung das Gleiche dieser Dinge zu bemessen.

      Während man in Stuttgart die ersten Blitzableiter auf den Dächern montierte und im katholischen Gottesdienst Texte und Melodien evangelischer Gesangbücher einführte; während der Herzog Karl Eugen über den elf Jahre älteren Schiller beschloß: »Bei Kasmation und Festungsstrafe schreibt Er keine Komödie mehr!«; während derselbe Karl Eugen sich vergeblich bemühte, in die eben gegründete Freimaurerloge Stuttgarts aufgenommen zu werden, begann sich Hegel – noch weit entfernt, solche Ereignisse zu registrieren – intensiver mit der Inventur der Jahrhunderte zu beschäftigen. Denn nicht nur Lateinschule und Gymnasium mit ihrem Studium der griechischen und römischen Kultur erinnerten ihn immer wieder daran, daß die Erde schon lange vor dem Entstehen der Stadt Stuttgart bewohnt war; auch der sehr nachhaltige Eindruck, den die Mutter Hegels – der man nachsagte, daß sie eine Frau von viel Bildung gewesen sei – auf ihren Sohn ausübte, beeinflußte sein frühzeitiges historisches Interesse, war sie es doch, die ihn anfangs in Latein unterrichtete und ihm damit erste Einblicke in die Geschichte vermittelte.

      Hinzu kam, daß die Ideen Winckelmanns, Lessings und Herders der württembergischen Intelligenz bekannt waren und, auch durch die zweite Frau des Herzogs, die aufklärerische Neigungen hatte, gerade in dieser Zeit stärkere Verbreitung im Land fanden.

      Festgelegt durch das, was er nicht wußte, begann Hegel mit Fragen gegen den Alltag anzugehen. Er fragt nach dem Woher und dem Wohin. Er beginnt zu zweifeln an der christlichen Selbstverständlichkeit, in der sein Alltag sich oft verfing. Er ahnt Veränderbarkeit. Doch er scheut alles Direkte. Er fragt noch nicht in seiner Zeit, er fragt bei den Griechen und Römern, warum sein Heute ist, wie es ist.

      Festgelegt durch das, was er noch nicht zu artikulieren vermochte, begann er, sein gegenwärtiges Leben – das bisher vornehmlich zwischen den Schulen und der Röderschen Gasse in Stuttgart verlief – in die Vergangenheit hinein zu verlängern. Dabei vergaß er die ihn umgebenden Räume. Er stellte eigenmächtig die Zeit zurück und verwandelte das Dort und Damals in ein Hier und Jetzt, das Hier und Heute in ein Dort und Damals. Er fragte nach dem Weg, den die griechische und römische Religion genommen hatte. Eben dieses Fragen nach dem Weg wird für Hegel charakteristisch werden. Nicht den Griechen oder Römern gilt sein vornehmliches Interesse, sondern der Entwicklung ihres Denkens und ihrer Religion.7 Nicht der konkrete Inhalt der einen oder anderen Richtung interessierte ihn, sondern die charakteristischen Unterschiede zwischen alter und neuer Dichtung sind ihm wichtig.8

      Mangel an Erlebnisfähigkeit? Mangel an Naivität? Man sprach von der Altklugheit Hegels in diesen Jahren.

      Hegel war viel allein seit dem Tod der Mutter. Und ganz sicher kamen auch zu ihm die Abende, die ihn durch ihre Stille gefangen nahmen und sagten: Wir haben in anderem Halt. Manchmal

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